Die versehentlich beschiedene hilfsweise Anschlussberufung

Der Gehörsgrundsatz verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt jedoch keine Pflicht, sich mit jedem Vorbringen der Parteien in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen.

Die versehentlich beschiedene hilfsweise Anschlussberufung

Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Art. 103 Abs. 1 GG ist daher erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen klar ergibt, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist1.

Davon ist das Bundesarbeitsgericht im hier entschiedenen Fall in Bezug auf die Anschlussberufung des Klägers ausgegangen:

Das Landesarbeitsgericht Nürnberg hat in der Vorinstanz unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO über die nur hilfsweise erhobene Anschlussberufung des Klägers entschieden2. Diese war nur für den Fall der Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils erhoben. Das Berufungsgericht hat das erstinstanzliche Urteil aber „aufgehoben“ und dennoch die Anschlussberufung zurückgewiesen. Eine Verletzung des Antragsgrundsatzes nach § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO liegt nicht nur dann vor, wenn einer Partei ohne ihren Antrag etwas zugesprochen wird, sondern auch, wenn ihr ein Anspruch aberkannt wird, den sie nicht zur Entscheidung gestellt hat3.

Das Berufungsgericht hat im Tatbestand des anzufechtenden Urteils zwar wiedergegeben und damit zur Kenntnis genommen, dass die Anschlussberufung nur hilfsweise für den Fall der Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils erhoben wurde. Es hat diesen Vortrag des Klägers jedoch bei der Urteilsfindung wieder aus den Augen verloren, deshalb nicht in Erwägung gezogen und stattdessen seiner Entscheidung einen Antrag zugrunde gelegt, den der Kläger für diese prozessuale Situation gar nicht gestellt hat4. Das Landesarbeitsgericht führt auf Seite 9, unten des Berufungsurteils ohne jede nähere Begründung aus, dass die Anschlussberufung zurückzuweisen gewesen sei. Ein solcher Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO stellt zugleich eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zum Nachteil der hiervon betroffenen Partei dar5.

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Verfahrensrügen gegen die Kostenentscheidung

Eine Zurückverweisung gemäß § 72a Abs. 7 ArbGG kam hier ausnahmsweise gleichwohl nicht in Betracht, weil keine weitere Entscheidung in der Hauptsache mehr notwendig wird6. Da das klageabweisende Urteil des Landesarbeitsgerichts wegen der Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde im Übrigen rechtskräftig wird, ist die hilfsweise Anschlussberufung des Klägers endgültig im Berufungsverfahren nicht zur Entscheidung angefallen und das insoweit zurückweisende Urteil des Landesarbeitsgerichts aufzuheben.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 21.078.2022 – 2 AZN 801/21

  1. vgl. BVerfG 19.08.2016 – 1 BvR 1283/13, Rn. 9[]
  2. LAG Nürnberg 02.11.2021 – 7 Sa 145/21[]
  3. BAG 22.07.2021 – 2 AZR 6/21, Rn. 42[]
  4. vgl. BVerfG 27.05.1970 – 2 BvR 578/69, zu III der Gründe, BVerfGE 28, 378[]
  5. vgl. BGH 16.05.2017 – VI ZR 25/16, Rn. 11; 13.09.2016 – VII ZR 17/14, Rn. 13; Zöller/Feskorn ZPO 34. Aufl. § 308 Rn. 6[]
  6. vgl. BGH 13.09.2016 – VII ZR 17/14, Rn. 17[]