Ein „Verlust“ i.S. des § 17 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 EStG, der im Zuge einer Anteilsrotation lediglich wegen der Vereinbarung eines den Wert des veräußerten Anteils krass verfehlenden Kaufpreises entsteht, führt zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil und stellt einen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts (§ 42 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AO) dar1.

Zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb gehört nach § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG auch der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zu mindestens 1 Prozent beteiligt war. Veräußerungsgewinn i.S. des § 17 Abs. 1 EStG ist der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten übersteigt (§ 17 Abs. 2 Satz 1 EStG).
Der Veräußerungsgewinn ist grundsätzlich für den Zeitpunkt zu ermitteln, in dem er entstanden ist. Dies ist regelmäßig der Zeitpunkt der Veräußerung, die mit der entgeltlichen Übertragung des (zivilrechtlichen oder wirtschaftlichen) Eigentums an den Kapitalgesellschaftsanteilen durch den Veräußerer auf den Erwerber verwirklicht wird.
Wirtschaftliches Eigentum an einem Kapitalgesellschaftsanteil erlangt, wer nach dem Inhalt der getroffenen Abrede alle mit der Beteiligung verbundenen wesentlichen Rechte (Vermögens- und Verwaltungsrechte, insbesondere Gewinnbezugs- und Stimmrecht) ausüben und im Konfliktfall effektiv durchsetzen kann. Nach § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 AO ist die Rechtsstellung des wirtschaftlichen Eigentümers dadurch gekennzeichnet, dass er den zivilrechtlichen Eigentümer im Regelfall von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut wirtschaftlich ausschließen kann. Ihm muss etwa auch der wirtschaftliche Erfolg aus einer (Weiter-)Veräußerung gebühren2.
Das wirtschaftliche Eigentum an einem Kapitalgesellschaftsanteil geht auf einen Erwerber über, wenn der Käufer des Anteils
- aufgrund eines (bürgerlich-rechtlichen) Rechtsgeschäfts bereits eine rechtlich geschützte, auf den Erwerb des Rechts gerichtete Position erworben hat, die ihm gegen seinen Willen nicht mehr entzogen werden kann, und
- die mit dem Anteil verbundenen wesentlichen (Verwaltungs- und Vermögens-)Rechte (insbesondere Gewinnbezugsrecht und Stimmrecht) sowie
- Risiko und Chance von Wertveränderungen auf ihn übergegangen sind.
Danach erlangt wirtschaftliches Eigentum, wer nach dem Inhalt der getroffenen Abrede alle mit der Beteiligung verbundenen wesentlichen Rechte (Vermögens- und Verwaltungsrechte, insbesondere Gewinnbezugs- und Stimmrecht) ausüben und im Konfliktfall effektiv durchsetzen kann. Der Übergang des wirtschaftlichen Eigentums ist nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse im jeweiligen Einzelfall zu beurteilen3.
Allerdings ist der geltend gemachten Veräußerungsverlust auch insoweit nicht der Besteuerung unterworfen, wie die vorgenommene (wechselseitige) Veräußerung der Geschäftsanteile an der GmbH einen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts i.S. des § 42 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AO darstellt.
Nach § 42 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch den Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts das Steuergesetz nicht umgangen werden. Ist der Tatbestand der Regelung in einem Einzelsteuergesetz erfüllt, die der Verhinderung von Steuerumgehungen dient, so bestimmen sich die Rechtsfolgen nach jener Vorschrift (§ 42 Abs. 1 Satz 2 AO). Anderenfalls entsteht nach § 42 Abs. 1 Satz 3 AO der Steueranspruch beim Vorliegen eines Missbrauchs i.S. des § 42 Abs. 2 AO so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht.
Ein Missbrauch liegt nach § 42 Abs. 2 Satz 1 AO vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt. Dies gilt nicht, wenn der Steuerpflichtige für die gewählte Gestaltung außersteuerliche Gründe nachweist, die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse beachtlich sind (§ 42 Abs. 2 Satz 2 AO).
Einem Steuerpflichtigen steht es frei, ob, wann und an wen er seine Anteile veräußert. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Veräußerung zu einem Verlust führt. Denn die Berücksichtigung eines Veräußerungsverlusts steht nicht nur im Einklang mit § 17 EStG, sondern entspricht auch dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit; sie ist damit nicht von vornherein rechtsmissbräuchlich4.
Etwas anderes kann dann gelten, wenn ein „Verlust“ nur dadurch entsteht, dass die Beteiligten einen unzutreffenden, die Wertverhältnisse des zur Veräußerung bestimmten Kapitalgesellschaftsanteils in krasser Weise verfehlenden Kaufpreis vereinbaren; denn in diesem Fall ist der „Verlust“ nicht -wie im Fall des BFH-Urteils in BFHE 232, 1, BStBl II 2011, 427- durch eine den Kapitalgesellschaftsanteilen innewohnende Wertminderung, sondern durch einen Verkauf von Anteilen weit unter Wert zustande gekommen. Dies gilt für § 42 AO in der vorliegend anzuwendenden Fassung des Jahressteuergesetzes 2008 vom 20.12.20075 in gleicher Weise wie für § 42 AO i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 2001 vom 20.12.200167.
Im hier entschiedenen Streitfall war der gewählte Weg des wechselseitigen Anteilsverkaufs unter Wert zur Verlustnutzung rechtsmissbräuchlich i.S. des § 42 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AO.
Die X-GmbH war nach den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen und mithin den Bundesfinanzhof nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des Sächsischen Finanzgerichts8 im Zeitpunkt der Veräußerung wirtschaftlich erfolgreich. So wies der Jahresabschluss der X-GmbH zum 31.12.2017 ein Eigenkapital in Höhe von mehr als 291.000 € aus, welches sich zum 31.12.2018 sogar noch auf über 317.000 € erhöhte. Sowohl im Streitjahr wie auch im Folgejahr und in den Vorjahren erzielte die X-GmbH positive Jahresüberschüsse, die die Gesellschaft für Gewinnausschüttungen (im Streitjahr in Höhe von 134.745,55 €) nutzte. Überdies bezog der Gesellschafter ein Geschäftsführergehalt im Streitjahr in Höhe von 93.955 €, sein Mitgesellschafter A ein Geschäftsführergehalt in Höhe von 97.314 €. Diese wirtschaftlichen Kennzahlen lassen nicht den Schluss zu, dass der von den Vertragsbeteiligten vereinbarte Kaufpreis in Höhe von (jeweils) 12.500 € auch nur annähernd dem Wert der veräußerten Geschäftsanteile im Veräußerungszeitpunkt entsprach. Zu Recht ist das Finanzgericht in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, dass sich bei der dargestellten Ertragslage der X-GmbH der Ansatz eines etwaigen „Liquidationserlöses“ in Höhe des Mindeststammkapitals gemäß § 5 Abs. 1 GmbHG als maßgeblicher Gesamtwert der veräußerten Kapitalgesellschaftsanteile verbiete. Substantielle Einwendungen hiergegen hat der Gesellschafter im Revisionsverfahren nicht erhoben.
Der „Verlust“ des Gesellschafters aus der Veräußerung war mithin im Veräußerungszeitpunkt nicht real eingetreten, sondern nur das rechnerische Ergebnis der vertraglichen Vereinbarung eines Unter-Wert-Verkaufs, bei dem der (jeweilige) Kaufpreis die Wertverhältnisse der (jeweils) zur Veräußerung bestimmten Kapitalgesellschaftsanteile in krasser Weise verfehlte; er spiegelt demnach auch nicht eine geminderte Leistungsfähigkeit des Gesellschafters wider.
Darüber hinaus wird aus dem Vortrag des Gesellschafters im finanzgerichtlichen Verfahren sowie aus seinen Ausführungen im Antrag auf verbindliche Auskunft vom 19.04.2017 deutlich, dass der vom Gesellschafter und seinem Mitgesellschafter A durchgeführten Anteilsrotation kein realer wirtschaftlicher Hintergrund beigemessen werden kann; denn diese diente lediglich dem Zweck, durch das Auslösen eines -mit der Vereinbarung eines gegenseitigen Verkaufs unter Wert verbundenen- Steuererstattungsanspruchs die Möglichkeit zur Tilgung privater Aufwendungen zu schaffen. Dies stellt für sich keinen beachtlichen außersteuerlichen Grund für die gewählte Vertragsgestaltung dar (§ 42 Abs. 2 Satz 2 AO).
Hinzu kommt, dass die (formnichtigen) Vereinbarungen zur Veräußerung und Abtretung des vom Gesellschafter gehaltenen Kapitalgesellschaftsanteils im Streitfall ersichtlich der Vorverlagerung des Veräußerungszeitpunkts vor den Zeitpunkt einer zivilrechtlich wirksamen (notariell beurkundeten) Veräußerung und Abtretung dienten; zu diesem Zweck hat der Gesellschafter auch den Kaufpreis für den Erwerb der einzutauschenden Anteile des A zu einem Zeitpunkt entrichtet, zu dem noch nicht einmal der formnichtige Kauf- und Abtretungsvertrag geschlossen war.
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die an der Anteilsrotation beteiligten Vertragsparteien -der Gesellschafter und A- die jeweilige Übertragung ihres Anteils unter Wert nur deshalb vorgenommen haben, weil sie im Gegenzug hierfür (zivil-)rechtlich zwar einen „anderen“, wirtschaftlich gesehen jedoch einen wertidentischen Kapitalgesellschaftsanteil zu einem dem realen Wert nicht entsprechenden Kaufpreis zurückerhalten haben. Derartige gegenläufige (oder ringförmige) Rechtsgeschäfte werden von der höchstrichterlichen Rechtsprechung9 als rechtsmissbräuchlich angesehen, wenn sie keine verständliche wirtschaftliche Veränderung bewirken (und auch nicht bewirken sollen). Für derartige Fälle ist anerkannt, dass ein steuerrechtlich dem Grunde nach erheblicher10 Vorgang dann nicht berücksichtigt werden kann, wenn er nach dem Willen des Steuerpflichtigen durch einen gegenläufigen Rechtsakt erst geschaffen oder wieder ausgeglichen wird und damit von vornherein eine wirtschaftliche Belastung vermieden werden soll11.
Vor diesem Hintergrund ist die Wertung des Finanzgericht, dass die im Streitfall zu beurteilende Anteilsrotation unter Vereinbarung eines den Wert des veräußerten Wirtschaftsguts krass verfehlenden Kaufpreises zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt und mithin einen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts darstellt, von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Die Schwelle zur Unangemessenheit (§ 42 Abs. 2 Satz 1 AO) und damit zum Rechtsmissbrauch ist im Streitfall ohne jeden Zweifel überschritten.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 20. September 2022 – IX R 18/21
- Abgrenzung zum BFH, Urteil vom 07.12.2010 – IX R 40/09, BFHE 232, 1, BStBl II 2011, 427[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 25.05.2011 – IX R 23/10, BFHE 234, 55, BStBl II 2012, 3; vom 24.01.2012 – IX R 69/10, BFH/NV 2012, 1099[↩]
- vgl. BFH, Urteile in BFHE 234, 55, BStBl II 2012, 3, und in BFH/NV 2012, 1099, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 232, 1, BStBl II 2011, 427[↩]
- BGBl I 2007, 3150[↩]
- BGBl I 2001, 3794[↩]
- vgl. allgemein zum Verhältnis der gesetzlichen Umschreibung des Missbrauchstatbestands in § 42 Abs. 2 Satz 1 AO zur höchstrichterlichen Rechtsprechung: BFH, Urteil vom 29.09.2021 – I R 40/17, BFH/NV 2022, 528, Rz 56; Klein/Ratschow, AO, 16. Aufl., § 42 Rz 45; Drüen in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zur Neufassung des § 42 AO durch das JStG 2008, Rz 36 ff.[↩]
- Sächs. FG, Urteil vom 06.05.2021 – 8 K 1102/20[↩]
- vgl. etwa BFH, Urteile vom 08.03.2017 – IX R 5/16, BFHE 257, 211, BStBl II 2017, 930, m.w.N.; und vom 31.07.1984 – IX R 3/79, BFHE 142, 347, BStBl II 1985, 33[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 232, 1, BStBl II 2011, 427[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 257, 211, BStBl II 2017, 930, m.w.N.[↩]