Nach § 181 Abs. 5 Satz 1 AO ist ein zum Schluss eines Veranlagungszeitraums verbleibender Verlustabzug auch nach Ablauf der für seine gesonderte Feststellung geltenden Feststellungsfrist gesondert festzustellen, wenn dies für einen späteren Einkommensteuer- oder Feststellungsbescheid nach § 10d EStG von Bedeutung ist, für den die Festsetzungs- oder Feststellungsfrist noch nicht abgelaufen ist. § 181 Abs. 5 AO ist nach § 10d Abs. 4 Satz 6 2. Halbsatz EStG jedoch nur anzuwenden, wenn die zuständige Finanzbehörde die Feststellung des Verlustvortrags pflichtwidrig unterlassen hat.

Da § 10d Abs. 4 Satz 6 2. Halbsatz EStG gemäß § 52 Abs. 25 Satz 5 i.d.F. des JStG 2007 für alle bei Inkrafttreten des JStG 2007 am 19.12 2006 (vgl. Art. 20 Abs. 1 JStG 2007) noch nicht abgelaufenen Feststellungsfristen anwendbar ist, gilt die Vorschrift auch im Streitfall. § 10d Abs. 4 Satz 6 2. Halbsatz EStG bezweckt eine zeitnahe Entscheidung über die Höhe des verbleibenden Verlustabzugs. Verlustfeststellungsbescheide sollen grundsätzlich nur innerhalb der für Einkommensteuerbescheide geltenden allgemeinen Verjährungsfrist ergehen können. § 181 Abs. 5 AO bleibt aber anwendbar, wenn das Finanzamt keinen Verlustfeststellungsbescheid erlassen hat, obwohl ihm dies möglich gewesen wäre, etwa weil ihm die Verluste aus einer Steuererklärung bekannt waren [1].
Die Regelung des § 52 Abs. 25 Satz 5 i.d.F. des JStG 2007, wonach § 181 Abs. 5 AO für alle bei Inkrafttreten des JStG 2007 am 19.12 2006 (vgl. Art.20 Abs. 1 JStG 2007) noch nicht abgelaufenen Feststellungsfristen eingeschränkt anwendbar ist, ist auch verfassungsgemäß. Entgegen der Ansicht der Klägerin enthält die Regelung des § 52 Abs. 25 Satz 5 i.d.F. des JStG 2007 keine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung.
Selbst wenn man eine Rückwirkung durch das Inkraftsetzen von § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG durch § 52 Abs. 25 Satz 5 i.d.F. des JStG 2007 annehmen würde, weil der zur Verlustfeststellung führende Verlust mehr als fünf Jahre vor der Gesetzesänderung entstanden ist und der Klägerin für die streitigen Feststellungszeiträume bis zum Inkrafttreten der Neuregelung im Dezember 2006 die Möglichkeit der Verlustfeststellung offen gestanden hat [2], ist die Rückwirkung im Rahmen der Abwägung zwischen den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen [3] und dem Vertrauen der Steuerpflichtigen auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
Die Möglichkeit einer Verlustfeststellung für bereits feststellungsverjährte Jahre ist im vorliegenden Fall der Steuerpflichtigen erst durch die Urteile des Bundesfinanzhofs vom 12. Juni 2002 und 2. August 2006 [4] eingeräumt worden. Mit der Einfügung des § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG hat der Gesetzgeber die vor Ergehen dieser BFH-Rechtsprechung in den Streitjahren geltende und nicht weiter umstrittene, unklare oder verworrene Rechtslage wiederhergestellt. Vor Ergehen der o.g. BFH-Urteile lehnten Rechtsprechung und Finanzverwaltung übereinstimmend die erstmalige Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs ab, wenn die Einkommensteuerveranlagung der betroffenen Jahre bestandskräftig war und nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand [5].
Dem Gesetzgeber ist es im Rahmen der Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit, die mit der Regelung verfolgt werden, und dem Vertrauen des Einzelnen in den Fortbestand der Rechtslage in diesem Fall nicht verwehrt, eine Rechtslage rückwirkend festzuschreiben, die vor einer Rechtsprechungsänderung einer gefestigten Rechtsprechung und einheitlichen Rechtspraxis entsprach [6].
Die Steuerpflichtige kann sich im vorliegenden Fall auch nicht darauf berufen, dass ihr im Hinblick auf die mit Ablauf des 31.12 2006 eintretende Feststellungsverjährung für den Feststellungszeitraum 1999 nach Inkrafttreten des JStG 2007 am 19.12 2006 nur noch wenige Tage geblieben waren, um einen Antrag auf Verlustfeststellung zu stellen. Denn sie hatte nach Veröffentlichung der BFH-Entscheidung in BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681 mehr als drei Jahre Zeit, um auf der Grundlage dieser Entscheidung die ihr entstandenen Verluste verfahrensrechtlich geltend zu machen. Gleichwohl hat sie die Anträge auf Verlustfeststellung erst im August 2009 ‑mithin mehr als zweieinhalb Jahre nach Eintritt der Feststellungsverjährung und Inkrafttreten der Neuregelung- gestellt.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 8. April 2014 – IX R 32/13
- vgl. BFH, Urteil vom 25.05.2011 – IX R 36/10, BFHE 233, 314, BStBl II 2011, 807; zum Normzweck BT-Drs. 16/2712, S. 44, und ausführlich Ettlich, Der Betrieb 2009, 18, 24; Heuermann, DStR 2011, 1489, 1491[↩]
- vgl. insoweit für verfassungswidrige Rückwirkung FG München, Beschluss vom 14.08.2007 5 – V 1558/07; Kube, DStR 2011, 1829, 1832[↩]
- vgl. dazu BT-Drs. 16/2712, S. 44 f.[↩]
- BFH, Urteile vom 12.06.2002 – XI R 26/01, BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681; in BFHE 212, 497, BStBl II 2007, 919; und vom 02.08.2006 – XI R 65/05, BFHE 214, 492, BStBl II 2007, 921[↩]
- vgl. u.a. BFH, Urteile vom 09.12 1998 – XI R 62/97, BFHE 187, 523, BStBl II 2000, 3, m.w.N.; und vom 09.05.2011 – XI R 25/99, BFHE 195, 545, BStBl II 2002, 817; vgl. auch H 10d „Feststellungsbescheid“ des Amtlichen Einkommensteuer-Handbuchs 2005, sowie Schmidt/Heinicke, EStG, 24. Aufl., § 10d Rz 55 f.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 07.07.2010 – 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1, BStBl II 2011, 76, unter C.II. 1.c; und vom 02.05.2012 – 2 BvL 5/10, BVerfGE 131, 20, unter B.I. 2.b bb(2); für Verfassungsmäßigkeit der Regelung auch Heuermann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 10d Rz A 90, A 289, D 112[↩]
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