Zeitliche Grenze der Rücknahme des Verzichts auf Steuerbefreiungen

Der Verzicht auf Steuerbefreiungen nach § 9 UStG kann zurückgenommen werden, solange die Steuerfestsetzung für das Jahr der Leistungserbringung anfechtbar oder aufgrund eines Vorbehalts der Nachprüfung gemäß § 164 AO noch änderbar ist.

Zeitliche Grenze der Rücknahme des Verzichts auf Steuerbefreiungen

Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG kann der Unternehmer die in Rechnungen i.S. des § 14 UStG von anderen Unternehmern gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuern abziehen.

Der Vorsteuerabzug setzt ferner voraus, dass eine Steuer für den berechneten Umsatz geschuldet wird1. Macht der leistende Unternehmer den Verzicht auf die Steuerbefreiung rückgängig, wird der Umsatz rückwirkend wieder steuerfrei, sodass eine Steuer für den berechneten Umsatz nicht mehr geschuldet wird. Der Erwerber verliert dann den Vorsteuerabzug rückwirkend im Jahr des Leistungsbezugs und nicht erst im Zeitpunkt der Rückgängigmachung des Verzichts auf die Steuerbefreiung2. Der rückwirkende Verlust des Vorsteuerabzugs durch die Rücknahme des Verzichts setzt allerdings voraus, dass die Rücknahme in formaler und zeitlicher Hinsicht wirksam war:

Hatte der Unternehmer auf die Steuerfreiheit des Umsatzes dadurch verzichtet, dass er dem Leistungsempfänger den Umsatz unter gesondertem Ausweis der Umsatzsteuer in Rechnung gestellt hatte, kann er den Verzicht nur dadurch rückgängig machen, dass er dem Leistungsempfänger eine berichtigte Rechnung ohne Umsatzsteuer erteilt3.

Im Streitfall ist der Verzicht durch Übersenden einer neuen Rechnung ohne Umsatzsteuerausweis am 23.12 1997 formal zutreffend rückgängig gemacht worden.

Weiterlesen:
Rabatte im Punktsystem - und die Änderung der Bemessungsgrundlage

Die Rücknahme des Verzichts war auch in zeitlicher Hinsicht wirksam. Der Verzicht auf Steuerbefreiungen nach § 9 UStG kann zurückgenommen werden, solange die Steuerfestsetzung für das Jahr der Leistungserbringung anfechtbar oder aufgrund eines Vorbehalts der Nachprüfung gemäß § 164 AO noch änderbar ist. Soweit die bisherige Bundesfinanzhofsrechtsprechung dahingehend verstanden werden konnte, dass die Rücknahme des Verzichts nur bis zur formellen Bestandskraft der Umsatzsteuerfestsetzung des Leistenden zulässig ist, hält der Bundesfinanzhof daran nicht fest (Klarstellung der Rechtsprechung).

Nach allgemeiner Ansicht kann der Verzicht auf die Steuerbefreiung wieder rückgängig gemacht werden4.

Umstritten ist dagegen, ob dies nur bis zum Zeitpunkt der formellen Unanfechtbarkeit der Umsatzsteuerfestsetzung des Jahres der Leistungserbringung oder darüber hinaus noch möglich ist, solange die entsprechende Steuerfestsetzung nach § 164 AO änderbar ist. Der Verzicht und sein Rückgängigmachen als actus contrarius sind mit Blick auf die zeitlichen Grenzen ihres Ausübens gleich zu behandeln5.

Die Begrenzung des Verzichts oder seiner Rücknahme auf die formelle Bestandskraft sorgt zwar für Rechtssicherheit und frühzeitig klare Verhältnisse, begrenzt den Steuerpflichtigen aber unverhältnismäßig in der Ausübung seines Wahlrechts. Eine derartig enge Eingrenzung ist grundsätzlich nur dann zulässig, wenn sie im Gesetz vorgesehen ist, wie in § 19 Abs. 2 Satz 1 UStG für die Option des Kleinunternehmers zur Regelbesteuerung oder in § 23 Abs. 3 Satz 1 UStG für die Option zur Besteuerung nach Durchschnittssätzen. In beiden Fällen muss bis zur Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung (§ 18 Abs. 3 und 4 UStG) und damit innerhalb der formellen Bestandskraft widerrufen werden. Da § 9 UStG eine derartige Regelung nicht enthält und der Normzweck auch keine solche Einschränkung erfordert, ist der Unternehmer nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs berechtigt, den Verzicht auf die Steuerbefreiung nach § 9 UStG und dessen Rücknahme solange geltend zu machen, wie die Steuerfestsetzung für das Jahr der Leistungserbringung anfechtbar oder aufgrund eines Vorbehalts der Nachprüfung gemäß § 164 AO noch änderbar ist:

Weiterlesen:
Verschärfungen bei der strafbefreienden Selbstanzeige

Nach dem BFH-Urteil in BFHE 185, 536, BStBl II 1998, 695 kann auf die Steuerbefreiung einer Grundstückslieferung nach Bestandskraft der Steuerfestsetzung für den Besteuerungszeitraum der Lieferung nicht mehr durch Ausgabe einer Rechnung mit gesondertem Steuerausweis verzichtet werden. Der Begriff der „Bestandskraft“ ist dabei in einem materiellen Sinne zu verstehen. Denn der Bundesfinanzhof hat seine Entscheidung ausdrücklich damit begründet, dass die Wirksamkeit des Verzichts davon abhängt, dass es der Finanzbehörde möglich ist, die Steuer für den Umsatz festzusetzen, und dass ein „wirksamer Verzicht i.S. von § 9 Abs. 1 UStG 1980… daher nicht vor[liegt], wenn ein Unternehmer eine Grundstückslieferung als steuerpflichtig behandelt, nachdem die Steuerfestsetzung für den Besteuerungszeitraum der Lieferung unabänderbar geworden ist. Die Behandlung eines steuerfreien Umsatzes als steuerpflichtig setzt voraus, dass die Steuerpflicht (und der dadurch begründete Steueranspruch) durch Steuerfestsetzung noch verwirklicht werden kann“6.

Dementsprechend hat der Bundesfinanzhof darauf abgestellt, dass die Steuerfestsetzung für das Kalenderjahr der Lieferung, die erst nachträglich -aufgrund des erst später erklärten Verzichts- aber mit Rückwirkung steuerpflichtig ist, nach den Vorschriften der AO noch änderbar ist. Dabei hat der Bundesfinanzhof eine Änderbarkeit nach § 173 AO und § 175 AO verneint, sodass für die Änderbarkeit auf das Bestehen eines Vorbehalts der Nachprüfung gemäß § 164 AO abzustellen ist, während die Frage der formellen Bestandskraft, die bereits mit Ablauf der Rechtsbehelfsfrist eintritt, unerheblich ist.

Weiterlesen:
Steuerfreiheit der Gefahrenzulage beim Kampfmittelräumdienst

Der Bundesfinanzhof hat hieran in der Folgezeit festgehalten. Im Urteil in BFHE 200, 38, BStBl II 2003, 175 hat der Bundesfinanzhof ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Unternehmer den Verzicht zeitlich begrenzt bis zum Ende der Änderbarkeit nach § 164 Abs. 2 AO erklären kann.

Gegenteiliges ergibt sich nicht aus dem BFH-Urteil in BFHE 194, 493, BStBl II 2003, 673. Danach kann der Verzicht auf die Steuerbefreiung eines Umsatzes gemäß § 9 UStG „jedenfalls“ bis zur Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung rückgängig gemacht werden, wobei aber in diesem Verfahren die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt der Verzicht auf die Steuerbefreiung rückgängig gemacht werden kann, nicht entscheidungserheblich war7.

Auch aus dem BFH-Urteil vom 06.10.20058, nach dem der Widerruf des Verzichts beim Leistungsempfänger zum Verlust des Vorsteuerabzugs für das Jahr des Leistungsbezugs, nicht aber zum Verlust des Vorsteuerabzugs für das Jahr der Widerrufserklärung führt, folgt keine abweichende Beurteilung der Rechtsfrage.

Gegen die Ausübung des Verzichts und der Rücknahme des Verzichts in den Grenzen der Änderbarkeit nach § 164 AO spricht nicht, dass der Unternehmer bei der Vorsteueraufteilung nach § 15 Abs. 4 UStG an ein sachgerechtes Aufteilungsverfahren ab dem Zeitpunkt der formellen Bestandskraft der Umsatzsteuer-Jahresfestsetzung für das Jahr des Leistungsbezugs gebunden ist9. Diese zeitliche Beschränkung beruht auf den Besonderheiten des Vorsteuerabzugs, die eine sog. „Sofortentscheidung“ auch über den „Umfang des Vorsteuerabzugs“ erforderlich machen10. Dieser Umstand ist jedoch für die Frage der Ausübung von Verzicht und Widerruf des Verzichts nicht erheblich. Denn der nachträgliche Verzicht ist auch dann von Bedeutung, wenn der Unternehmer seine Grundstücksübertragung zunächst als nichtsteuerbare Geschäftsveräußerung i.S. von § 1 Abs. 1a UStG ansieht, sich diese Annahme aber als unzutreffend herausstellt und es ohne nachträglichen Verzicht zu einer Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG kommen könnte.

Weiterlesen:
Die Rechnung des Kleinunternehmers - und der Umsatzsteuerausweis

Mit dieser Rechtsprechung weicht der V. Senat des Bundesfinanzhofs nicht von der Rechtsprechung des XI. Senats des Bundesfinanzhofs ab. Dieser ist zwar im Urteil vom 10.12 200811) davon ausgegangen, dass „eine Bindungswirkung an die Option zur Steuerpflicht ab dem Eintritt der formellen Bestandskraft der jeweiligen Steuerfestsetzung“ bestehe. Dabei handelt es sich aber um ein nicht bindendes obiter dictum, da es in dem vom XI. Senat entschiedenen Streitfall um die Frage eines rückwirkenden Wechsels von der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten (§ 20 UStG) und damit um einen anderen Sachverhalt ging.

Soweit die Finanzverwaltung aus diesem Urteil folgert, dass sowohl die Erklärung zur Option nach § 9 UStG als auch ihr Widerruf nur bis zur formellen Bestandskraft der jeweiligen Jahressteuerfestsetzung zulässig sind12 folgt der V. Senat dem nicht.

Im Streitfall erfolgte die Rücknahme der Option noch im Rahmen der zeitlichen Änderungsgrenze. Dabei geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass die Umsatzsteuerfestsetzung 1991 der Leistenden (M-GmbH), selbst wenn diese ihre Umsatzsteuererklärung 1991 bereits im Laufe des Jahres 1992 abgegeben hätte, wegen der Anlaufhemmung nach § 171 Abs. 4 AO durch die konzernweite und damit auch die M-GmbH erfassende Betriebsprüfung der Klägerin noch änderbar war. Dafür spricht auch, dass die Finanzverwaltung im Zeitraum der Rücknahme der Option (1997) noch davon ausging, dass der Verzicht auf die Steuerbefreiung sowie dessen Rücknahme bis zum Eintritt der materiellen Rechtskraft des Umsatzsteuerbescheids möglich ist13.

Weiterlesen:
Anlaufhemmung bei Abgabe einer die Pflichtveranlagung begründenden Steuererklärung

Bundesfinanzhof, Urteil vom 19. Dezember 2013 – V R 6/12

  1. EuGH, Urteil vom 13.12 1989 – C-342/87, Genius Holding, Slg. 1989, 4227, 4242; BFH, Urteil vom 02.04.1998 – V R 34/97, BFHE 185, 536, BStBl II 1998, 695[]
  2. BFH, Urteil in BFHE 194, 493, BStBl II 2003, 673 Rz 25[]
  3. BFH, Urteil in BFHE 194, 493, BStBl II 2003, 673 Rz 20[]
  4. vgl. BFH, Urteile vom 25.01.1979 – V R 53/72, BFHE 127, 238, BStBl II 1979, 394; vom 25.02.1993 – V R 78/88, BFHE 171, 369, BStBl II 1993, 777; und vom 11.08.1994 – XI R 57/93, BFH/NV 1995, 170[]
  5. vgl. BFH, Urteil vom 28.11.2002 – V R 54/00, BFHE 200, 38, BStBl II 2003, 175, unter II. 2.b[]
  6. BFH, Urteil in BFHE 185, 536, BStBl II 1998, 695, unter II. 4.a[]
  7. BFH, Urteil in BFHE 194, 493, BStBl II 2003, 673[]
  8. BFH, Urteil vom 06.10.2005 – V R 8/04, BFH/NV 2006, 835[]
  9. BFH, Urteil vom 02.03.2006 – V R 49/05, BFHE 213, 249, BStBl II 2006, 729, Leitsatz[]
  10. BFH, Urteil in BFHE 213, 249, BStBl II 2006, 729, unter II. 2.a und b[]
  11. BFH, Urteil vom 10.12.2008 – XI R 1/08, BFHE 223, 528, BStBl II 2009, 1026, unter II. 3.c bb (2[]
  12. BMF, Schreiben vom 01.10.2010 – IV D 3-S 7198/09/10002, 2010/0760001; nunmehr Abschn. 9.1. Abs. 3 Satz 1 UStAE; anders bis zum 1.10.2010 Abschn. 148 Abs. 3 UStR 2008[]
  13. vgl. Abschn. 148 Abs. 3 UStR 2008[]
Weiterlesen:
Umsatzsteuerpflicht bei der Fondsverwaltung