Rückwirkende Friständerungen im Vermögensgesetz

Die rückwirkende Änderung des Gesetzes über die Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz) im Jahr 1998 verletzt das Recht auf Achtung des Eigentums nach Artikel 1 Protokoll Nr. 1 EMRK.

Rückwirkende Friständerungen im Vermögensgesetz

So das heutige Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in dem Verfahren Althoff und andere gegen Deutschland. Die Beschwerdeführer sind die Erben eines Eigentümers von Grundstücken, die in der DDR verstaatlicht wurden und ursprünglich jüdischen Eigentümern gehörten, die unter der Naziherrschaft zum Verkauf gezwungen waren. Die Beschwerde betrifft die rückwirkende Änderung des Gesetzes über die Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz) im Jahr 1998. Danach gilt die ursprünglich festgesetzte Frist für Anträge auf Rückgabe von in der DDR verstaatlichten Grundstücken nicht für die Ansprüche der Bundesrepublik, die in Folge eines Abkommens mit den USA im vorliegenden Fall Rechtsnachfolgerin der Erbin der jüdischen Vorbesitzer der umstrittenen Grundstücke wurde. Infolgedessen haben die Beschwerdeführer keinen Anspruch auf Rückgabe der Grundstücke oder auf Auszahlung des Verkaufserlöses.

Sachverhalt[↑]

Die Beschwerdeführer, neun deutsche Staatsangehörige, sind die Erben eines Geschäftsinhabers, der 1939 mehrere Grundstücke in einer Gesamtgröße von etwa 3000 m² in Potsdam-Babelsberg von einem Berliner Unternehmen erwarb. Ursprünglich gehörten die Grundstücke jüdischen Eigentümern, die unter der Naziherrschaft 1938 zum Verkauf gezwungen waren und als Opfer der Judenverfolgung starben. 1953 wurden die Grundstücke in der DDR enteignet und in „Volkseigentum“ überführt. Die Tocher einer der jüdischen Voreigentümer, die in die USA hatte emigrieren können, stellte dort einen Antrag auf Entschädigung für den Verlust der Grundstücke nach einem amerikanischen Programm, in dem US-Staatsangehörige Ansprüche anmelden konnten, denen in der DDR Vermögen entzogen oder deren Eigentum in der Nazizeit unter Zwang verkauft worden war. Die amerikanische Kommission zur Regelung von Vermögensfragen im Ausland (Foreign Claims Settlement Commission) erkannte 1980 ihren Anspruch auf Entschädigung an.

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Nach der deutschen Wiedervereinigung übernahm die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben als einzige Anteilseignerin einer GmbH die Grundstücke. Zugleich stellten die Beschwerdeführer im Oktober 1990 einen Antrag auf Rückgabe der Grundstücke nach dem Gesetz über die Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz) von 1990. Das Gesetz sieht vor, dass Grundstücke, die in der DDR in Volkseigentum überführt wurden, an die Voreigentümer zurückgegeben werden, sofern die Rückgabeansprüche bis zum 31. Dezember 1992 angemeldet wurden; es sieht außerdem die Rückgabe von Grundstücken aus DDRVolkseigentum an Personen (bzw. deren Erben) vor, die in der Nazizeit zum Verkauf gezwungen waren. Im Fall konkurrierender Rückgabeansprüche auf dasselbe Grundstück sind nach dem Gesetz die „Erstgeschädigten“, also die Erben von jüdischen Vorbesitzern, die ein Grundstück in der Nazizeit unter Zwang verkauften, vorrangig berechtigt. In solchen Fällen haben die Erben von Käufern, die das Grundstück in der Nazizeit erwarben und durch dessen Überführung in DDR-Volkseigentum geschädigt wurden, Anspruch auf eine geringere finanzielle Wiedergutmachung.

Im Mai 1992 schlossen die Bundesrepublik Deutschland und die USA ein Abkommen über die Regelung bestimmter Vermögensansprüche, das eine pauschale Abwicklung der Ansprüche von US-Staatsangehörigen aus dem Programm über Ansprüche gegen die DDR vorsah. 1997 zahlte die Bundesrepublik zur Abgeltung dieser Ansprüche einen Abfindungsbetrag von insgesamt 102 Millionen US-Dollar an die USA. Im Oktober 1998 wurde das Vermögensgesetz dahingehend geändert, dass die Frist für Anträge auf Rückgabe von Grundstücken nicht für die aus diesem Abkommen resultierenden Ansprüche der Bundesrepublik gilt.

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Im Juli 2001 wies das Landesamt für die Regelung offener Vermögensfragen den Antrag der Beschwerdeführer auf Rückgabe der Grundstücke ab, die 1997 zu Investitionszwecken an ein Unternehmen verkauft worden waren, und entschied, dass der Verkaufserlös der Bundesrepublik zustehe. Nach dem Vermögensgesetz in Verbindung mit dem deutsch-amerikanischen Abkommen über die Regelung bestimmter Vermögensansprüche sei die Bundesrepublik Rechtsnachfolgerin der Erbin der jüdischen Vorbesitzer, die mit der Zahlung der Abfindung auf ihre Ansprüche an die Bundesrepublik verzichtet hatte. Die Beschwerdeführer klagten vor dem Verwaltungsgericht Potsdam, das die Entscheidung im November 2002 bestätigte. Im Januar 2004 wies das Bundesverwaltungsgericht die Berufung der Beschwerdeführer zurück. Am 14. August 2004 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, ihre Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen. In seinem Nichtannahmebeschluss befand das Bundesverfassungsgericht insbesondere, der Gesetzgeber habe mit der Änderung des Vermögensgesetzes 1998 einen fairen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen getroffen.

Im Januar 2005 stellten die Beschwerdeführer beim Landesamt für die Regelung offener Vermögensfragen einen Antrag auf finanzielle Wiedergutmachung für den Verlust der umstrittenen Grundstücke. Der Antrag wurde im März 2007 abgewiesen, da die Beschwerdeführer ihn nicht fristgerecht innerhalb von sechs Monaten nach der endgültigen Ablehnung des Antrags auf Rückgabe gestellt hätten. Ein Verfahren, mit dem die Beschwerdeführer diese Entscheidung anfochten, ist vor dem Verwaltungsgericht Potsdam anhängig.

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Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte[↑]

Unter Berufung insbesondere auf Artikel 1 Protokoll Nr. 1 EMRK machten die Beschwerdeführer geltend, dass das Vermögensgesetz in seiner Fassung von 1998 und dessen Anwendung durch die deutschen Gerichte ihr Recht auf Achtung ihres Eigentums verletzten. Die Beschwerde wurde am 11. Februar 2005 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

Artikel 1 Protokoll Nr. 1 EMRK[↑]

Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die Garantien aus Artikel 1 Protokoll Nr. 1 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar sind. Die Beschwerdeführer hatten einen Rückgabeantrag nach dem Vermögensgesetz gestellt, während die deutsche Bundesregierung keinen solchen Antrag innerhalb der von dem Gesetz in seiner Fassung vor der Änderung 1998 vorgeschriebenen Frist gestellt hatte. Da von Seiten der Bundesregierung, der einzigen Rechtsnachfolgerin der Erbin der jüdischen Vorbesitzer, kein Antrag vorlag, konnten die Beschwerdeführer, auch wenn sie als Erben eines Besitzers von in der DDR verstaatlichten Grundstücken Zweitgeschädigte waren, nach Ablauf der Frist berechtigterweise davon ausgehen, dass sie ihr Recht auf Rückgabe der Grundstücke würden geltend machen können. Infolge der rückwirkenden Änderung des Vermögensgesetzes 1998, wonach die Frist für Rückgabeanträge nicht für die Ansprüche der Bundesregierung gilt, verloren die Beschwerdeführer jeglichen Anspruch auf Rückgabe der Grundstücke oder auf Auszahlung des Verkaufserlöses, der dem tatsächlichen Wert des Grundstücks nach der Wiedervereinigung entspricht. Nach Auffassung des Gerichtshofs stellte die Gesetzesänderung folglich einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Eigentums dar.

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Dieser Eingriff war gesetzlich vorgesehen. Es ist in erster Linie Aufgabe der nationalen Gerichte, innerstaatliches Recht anzuwenden, und die Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts, die Gesetzesänderung sei grundgesetzkonform, erschien nicht willkürlich. Die Gesetzesänderung zielte darauf ab, eine nach Auffassung des deutschen Gesetzgebers unklare Rechtslage klarzustellen und die aus dem deutschamerikanischen Abkommen resultierenden Ansprüche des Staates zu sichern. Weiter hatte der Gerichtshof keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass dieser Zweck im öffentlichen Interesse lag, angesichts der Tatsache, dass der nationale Gesetzgeber bei der Sozial- und Wirtschaftspolitik einen weiten Beurteilungsspielraum hat. Dies gilt umso mehr im Fall solch einschneidender Veränderungen wie zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung mit dem Übergang zur Marktwirtschaft.

Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Rechte der Beschwerdeführer stellte der Gerichtshof allerdings fest, dass die rückwirkende Änderung des Vermögensgesetzes eine Ungleichheit zugunsten des Staates und zu Ungunsten der Beschwerdeführer schuf. Ihnen wurde jeglicher Anspruch auf Rückgabe der Grundstücke oder auf Auszahlung des Erlöses aus dem Verkauf nach der Wiedervereinigung entzogen. Die nach dem Vermögensgesetz ursprünglich vorgesehene Frist war auf alle Ansprüche anwendbar gewesen, einschließlich derjenigen aus dem deutsch-amerikanischen Abkommen, und das Gesetz sah keine besonderen Bestimmungen vor, die die Bundesregierung von der Antragstellung ausgenommen hätten. Zwischen der Unterzeichnung des deutsch-amerikanischen Abkommens im Mai 1992 und dem Ablauf der ursprünglich festgesetzten Frist hätte die Bundesregierung mehr als sieben Monate Zeit gehabt, einen solchen Antrag zu stellen. Zudem wurde das Gesetz erst acht Jahre nach der Wiedervereinigung geändert, und sechs Jahre nach Ablauf der ursprünglichen Frist für die Antragstellung. Dass sich der Gesetzgeber so lange Zeit ließ, ist ein Faktor bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit, auch wenn die verspätete Gesetzesänderung dadurch erklärlich ist, dass die Bundesregierung den vollständigen Abfindungsbetrag nach dem deutsch-amerikanischen Abkommen erst 1997 bezahlt hatte.

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Weiterhin nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass zwischen der Antragstellung der Beschwerdeführer im Oktober 1990 und der Ablehnung durch das Landesamt für die Regelung offener Vermögensfragen im Juli unangemessen viel Zeit verstrichen war. Zwar sieht das deutsche Recht die Zahlung einer finanziellen Wiedergutmachung in Fällen wie dem der Beschwerdeführer vor; die zu erwartende Summe erscheint der Schwere des Eingriffs in die Rechte der Beschwerdeführer aber nicht angemessen. Zudem steht nicht fest, ob sie überhaupt eine solche Wiedergutmachung erhalten werden. Angesichts dieser Überlegungen kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Gesetzesänderung keinen angemessenen Ausgleich zwischen dem Schutz des Eigentums und dem öffentlichen Interesse herbeigeführt hatte. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 1 Protokoll Nr. 1 EMRK vor.

Artikel 41 EMRK[↑]

Die Frage einer gerechten Entschädigung nach Artikel 41 EMRK sah der Gerichtshof als noch nicht entscheidungsreif an und behielt sie vor. Er forderte die Regierung und die Beschwerdeführer auf, ihre Stellungnahmen zu dieser Frage abzugeben und den Gerichtshof über eine etwaige Einigung zu informieren.

Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 8. Dezember 2011 – 5631/05 – Althoff u.a. gegen Deutschland