Die unterirdisch verlegten Leitungen auf dem Nachbargrundstück

Ein Eigentümer, der die Inanspruchnahme seines Grundstücks durch einen Nachbarn (hier: durch unterirdisch verlegte Leitungen) jahrzehntelang gestattet hat, verliert hierdurch nicht das Recht, die Gestattung zu widerrufen und anschließend seine Ansprüche aus § 1004 BGB geltend zu machen.

Die unterirdisch verlegten Leitungen auf dem Nachbargrundstück

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs1 ist davon auszugehen, dass der Eigentümer nicht deshalb, weil er seinen Anspruch auf Beseitigung einer Beeinträchtigung nach § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB gegenüber dem Störer wegen des Eintritts der Verjährung nicht mehr durchzusetzen vermag, die Störung auch in Zukunft hinnehmen muss. Die Verjährung des Beseitigungsanspruchs begründet kein Recht des Störers auf Duldung nach § 1004 Abs. 2 BGB. Der Eigentümer ist vielmehr auf Grund seiner Befugnisse aus § 903 Satz 1 BGB berechtigt, die Beeinträchtigung seines Eigentums durch Entfernung des störenden Gegenstands von seinem Grundstück selbst zu beseitigen2.

Anders ist es allerdings, wenn der Eigentümer nach § 1004 Abs. 2 BGB verpflichtet ist, die Beeinträchtigung zu dulden. Die Störung stellt sich dann nicht als eine Verletzung der Eigentümerrechte dar. Eine Duldungspflicht im Sinne des § 1004 Abs. 2 BGB schließt daher nicht nur den Abwehranspruch gegen den Störer, sondern auch das Recht des Eigentümers aus, die Störung selbst auf eigene Kosten zu beseitigen. Im vorliegenden Fall ist die Nachbarin jedoch nicht zur Duldung der in ihrem Grundstück befindlichen Hausanschlussleitungen für das benachbarte Grundstück verpflichtet.

Das Bestehen gesetzlicher Duldungspflichten (nach § 8 AVBEltV bzw. § 12 Abs. 1 NAV oder aus § 26 Abs. 1 LNRG-RP) verneint das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler und von der Revision unbeanstandet. Mangels Bestellung einer Leitungsdienstbarkeit nach § 1018 oder § 1090 BGB ist die Klägerin auch nicht aus einem dinglichen Recht zur Duldung der Leitungen der Beklagten verpflichtet.

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Eine schuldrechtliche Verpflichtung zwischen den Nachbarn, die Leitungen in ihrem Grundstück zu dulden, besteht ebenfalls nicht.

Dass der Voreigentümer die Verlegung der Leitungen gestattet hat, begründet keine Duldungspflicht der jetzigen Grundstückseigentümerin, da Gestattungen des Voreigentümers den Einzelrechtsnachfolger grundsätzlich nicht binden3.

Einen vertraglichen Duldungsanspruch gegen den Voreigentümer könnten die Nachbarn – da die Voraussetzungen der Vorschriften über den gesetzlichen Eintritt des Erwerbers in Miet- oder Pachtverträge (§ 566 Abs. 1, § 578 Abs. 1, § 581 Abs. 2, § 593b BGB) hier ersichtlich nicht vorliegen – der neuen Grundstückseigentümerin gegenüber nur dann geltend machen, wenn diese Duldungspflichten des Veräußerers (nach § 415 BGB oder § 328 BGB) übernommen hätte4. Daran fehlt es. In dem Kaufvertrag ist eine Übernahme von Duldungspflichten in Bezug auf die Leitungen nicht vereinbart worden. Ein dahin gehender Übernahmewille des Erwerbers kann nicht unterstellt werden, sondern muss in den Vereinbarungen der Kaufvertragsparteien deutlich zum Ausdruck gekommen sein5. Das ist nicht der Fall.

Dabei ist es unerheblich, was unter dem in § 4 Abs. 9 des Kaufvertrags bezeichneten „Leerrohr-Anschluss“ zu verstehen ist. Diese vertragliche Vereinbarung betrifft das Rechtsverhältnis zwischen den Kaufvertragsparteien in Bezug auf die Ansprüche des Käufers bei Sachmängeln des Grundstücks. Wäre die Erklärung in § 4 Abs. 9 des Kaufvertrags von den Parteien übereinstimmend so verstanden worden, dass sich in dem Leerrohr auch die Stromleitungen für den Anschluss der Nachbargrundstücke befinden, könnte die Erwerberin allerdings den Voreigentümer nicht wegen eines (von ihm arglistig verschwiegenen) Sachmangels in Anspruch nehmen. Eine Regelung in Bezug auf Rechte Dritter ist den vertraglichen Bestimmungen in dem Paragraphen zur „Gewährleistung“ dagegen nicht zu entnehmen.

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Auch die Behauptung, der Lebensgefährte der Erwerberin sei vor dem Vertragsschluss vom Voreigentümer auf die Stromleitung hingewiesen worden, ist für diesen Rechtsstreit nicht entscheidungserheblich. Selbst wenn der Erwerberin die Kenntnisse ihres Lebensgefährten zuzurechnen sein sollten6, hätte das nur im Verhältnis der Erwerberin zum Verkäufer Bedeutung, da dann dessen Inanspruchnahme auf Grund der Kenntnis der Klägerin von dem Sachmangel ausgeschlossen wäre (§ 442 Abs. 1 Satz 1 BGB). Dagegen begründet die Kenntnis des Erwerbers von einer Beeinträchtigung der Sache durch einen Dritten keine Verpflichtung, die Störung nach dem Erwerb des Eigentums zu dulden7. Allein aus der Tatsache, dass der Käufer die Leitung bei Kaufvertragsschluss kennt, lässt sich insbesondere nicht auf eine konkludente Schuldübernahme- oder Schuldbeitrittsvereinbarung mit dem Verkäufer schließen8.

Das Recht der Grundstückseigentümerin, die Störung ihres Eigentums durch die Leitungen selbst zu beseitigen, ist nicht verwirkt.

Allerdings kann auch diese Befugnis des Eigentümers verwirkt sein. Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung, die im gesamten Privatrecht eingewendet werden kann9. Ihr unterliegen sämtliche subjektiven Rechte. Sie führt zwar nicht zum Verlust des Eigentums, wohl aber der aus ihm folgenden Ansprüche auf Störungsbeseitigung nach § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB10 und – in eng begrenzten Ausnahmefällen – auf Herausgabe nach § 985 BGB11 sowie auf Grundbuchberichtigung nach § 894 BGB12.

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Die Verwirkung schließt die illoyal verspätete Geltendmachung eines Rechts aus13. Ein Recht ist verwirkt, wenn sich der Schuldner wegen der Untätigkeit seines Gläubigers über einen gewissen Zeitraum hin bei objektiver Beurteilung darauf einrichten darf und eingerichtet hat, dieser werde sein Recht nicht mehr geltend machen, und deswegen die verspätete Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstößt14.

Der Eigentümer verwirkt seine Ansprüche aus dem Eigentum nicht, wenn er Störungen gegenüber so lange untätig bleibt, wie sie sich ihm gegenüber als rechtmäßig darstellen. So verhält es sich hier, weil nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die Stromleitungen zum Anschluss der Grundstücke der Nachbarn mit Zustimmung des Veräußerers Er. G. durch das Grundstück der Klägerin verlegt wurden. Ob die Zustimmung von Er. G. auf einer aus Gefälligkeit erteilten, jederzeit widerruflichen Gestattung15 oder auf einem zwischen ihm und seinen Nachbarn abgeschlossenen Vertrag16 beruhte, kann dahinstehen.

Für den hier interessierenden Aspekt der Verwirkung der Rechte aus dem Eigentum ist entscheidend, dass die jahrzehntelange Nutzung des Grundstücks durch die Beklagten mit Erlaubnis des Eigentümers erfolgte. Hierdurch verlor dieser nicht das Recht, die Gestattung zu widerrufen und anschließend seine Ansprüche aus § 1004 BGB geltend zu machen. Andernfalls müsste ein Grundstückseigentümer, schon um einen Rechtsverlust durch Verwirkung zu vermeiden, nach einer gewissen Zeitspanne gegen den Nachbarn vorgehen, auch wenn im Übrigen kein Anlass zum Widerruf der Gestattung oder zur Kündigung eines Leih- oder Duldungsvertrages besteht. Zugleich darf sich derjenige, der ein Nachbargrundstück nutzt, nicht darauf einrichten, dass der Eigentümer, der diese Nutzung über einen langen Zeitraum gestattet hat, auch künftig auf die Geltendmachung seiner Eigentumsrechte verzichtet. Vielmehr muss er damit rechnen, dass seine (bloß schuldrechtliche) Nutzungsbefugnis enden kann und der Eigentümer dann die Unterlassung bzw. Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen wird.

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Die Rechtslage stellt sich nicht anders dar, wenn der Eigentümer der Verlegung von Leitungen zugestimmt hat, die ihrer Natur nach darauf angelegt sind, nicht vor dem Wegfall ihres Zwecks (hier den Anschluss eines Hauses an das öffentliche Netz herzustellen) entfernt zu werden. Der von der Revision in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Gesichtspunkt mag zwar dazu führen, dass Verträge über die Verlegung solcher Leitungen – sofern nicht etwas anderes vereinbart wird – nicht frei widerruflich sind, sondern von dem Eigentümer nur nach § 605 Nr. 1 BGB wegen eines nicht vorhergesehenen Eigenbedarfs oder nach der allgemeinen Kündigungsvorschrift für Dauerschuldverhältnisse in § 314 Abs. 1 BGB aus wichtigem Grund gekündigt werden können17. Das ändert aber nichts daran, dass auch bei diesen Leitungen die Befugnis zur Nutzung des Grundstücks auf einem Vertrag mit dem Eigentümer beruht und mit dem Ende des Vertragsverhältnisses erlischt und dem Eigentümer danach die Ansprüche aus § 1004 BGB zustehen.

Offen bleiben kann, ob die Entfernung für den Nachbarn wichtiger Hausanschlussleitungen durch den (schuldrechtlich nicht mehr zur Duldung verpflichteten) Eigentümer sich unter besonderen Umständen als eine mit Treu und Glauben (§ 242) unvereinbare unzulässige Rechtsausübung darstellen kann18. Denn solche Umstände sind hier nicht ersichtlich.

Eine Verwirkung der Eigentümerrechte während der Besitzzeit der Erwerberin, die alsbald nach dem Erwerb von den Nachbarn die Beseitigung der Leitungen verlangt hat, ist auszuschließen.

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Bundesgerichtshof, Urteil vom 16. Mai 2014 – V ZR 181/13

  1. BGH, Urteile vom 28.01.2011 – V ZR 141/10, NJW 2011, 1068 Rn. 9 und – V ZR 147/10, NJW 2011, 1069 Rn. 16, 18[]
  2. BGH, Urteile vom 28.01.2011 – V ZR 141/10 und – V ZR 147/10, aaO[]
  3. BGH, Urteil vom 29.02.2008 – V ZR 31/07, NJW-RR 2008, 827 Rn. 7 mwN[]
  4. vgl. Staudinger/Gursky, BGB [2013], § 1004 Rn.198[]
  5. BGH, Urteil vom 29.02.2008 – V ZR 31/07, NJW-RR 2008, 827; Staudinger/Gursky, BGB [2013], § 1004 Rn.198[]
  6. zu den Voraussetzungen dafür: vgl. BGH, Urteil vom 14.05.2004 – V ZR 120/03, NJW-RR 2004, 1196, 1197[]
  7. vgl. BGH, Urteil vom 19.12 1975 – V ZR 38/74, NJW 1976, 416 unter 3 – insoweit nicht in BGHZ 66, 37 abgedruckt; OLG Köln, NJW-RR 1991, 99, 101[]
  8. vgl. BGH, Urteil vom 25.01.1973 – III ZR 61/70, BGHZ 60, 119, 122; Staudinger/Gursky, BGB [2013] § 1004 Rn.198[]
  9. BGH, Urteil vom 30.04.1993 – V ZR 234/91, BGHZ 122, 308, 314; Urteil vom 21.10.2005 – V ZR 169/04, NJW-RR 2006, 235, 236[]
  10. BGH, Urteil vom 16.03.1979 – V ZR 38/75, WM 1979, 644, 647; Urteil vom 21.10.2005 – V ZR 169/04, NJW-RR 2006, 235 Rn. 10; Beschluss vom 04.03.2010 – V ZB 130/09, NJW-RR 2010, 807 Rn. 17; Urteil vom 22.10.2010 – V ZR 43/10, BGHZ 187, 185 Rn. 24[]
  11. BGH, Urteil vom 16.03.2007 – V ZR 190/06, NJW 2007, 2183[]
  12. BGH, Urteil vom 30.04.1993 – V ZR 234/91, BGHZ 122, 308, 314[]
  13. BGH, Urteil vom 16.03.2007 – V ZR 190/06, NJW 2007, 2183 Rn. 8[]
  14. BGH, Urteil vom 30.04.1993 – V ZR 234/91, BGHZ 122, 308, 315; Urteil vom 21.10.2005 – V ZR 169/04, NJW-RR 2006, 235 Rn. 10 jeweils mwN[]
  15. zu dieser: OLG Brandenburg, Urteil vom 09.02.2012 5 U 29/11 32[]
  16. Leihvertrag: BGH, Urteil vom 04.10.1979 – III ZR 28/78, WM 1980, 118, 119; Urteil vom 17.03.1994 – III ZR 10/93, BGHZ 125, 293, 298; OLG Köln, OLGR 2003, 41, 44 oder Duldungsvereinbarung: BGH, Urteil vom 14.07.1997 – V ZR 405/96, NJW 1997, 3022, 3023; Urteil vom 24.01.2003 – V ZR 175/02, NJW-RR 2003, 953, 954[]
  17. vgl. BGH, Urteil vom 17.03.1994 – III ZR 10/93, BGHZ 125, 293, 300; Schapp, NJW 1976, 1092, 1093; Staudinger/Gursky, BGB [2005], § 1004 Rn.194[]
  18. vgl. BGH, Urteil vom 08.02.2013 – V ZR 56/12, NJW-RR 2013, 650[]
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Rechtskraft und Urteilsformel

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