Die ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzung des § 83 Nr. 4 IRG, wonach bei zu erwartender lebenslanger Freiheitsstrafe eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten Strafe spätestens nach 20 Jahren erfolgen muss, ist durch die nach Art. 560 ff. der polnischen Strafprozessordnung vorgesehene Möglichkeit einer Begnadigung erfüllt.

Nach § 83 Nr. 4 IRG ist eine Auslieferung nur dann unzulässig, wenn die dem Ersuchen zugrunde liegende Tat nach dem Recht des ersuchenden Mitgliedstaates mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist und eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten Strafe auf Antrag oder von Amts wegen nicht spätestens nach 20 Jahren erfolgt. Eine Beschränkung auf gerichtliche oder der gerichtlichen Überprüfung unterliegende Entscheidungen lässt sich dem Wortlaut der Vorschrift nicht entnehmen; ebenso wenig schließt der Wortlaut Gnadenentscheidungen von vorneherein aus.
Nach dem Willen des Gesetzgebers ist ein Gnadenverfahren jedenfalls dann als Überprüfung im Sinne des § 83 Nr. 4 IRG anzusehen, wenn es die Aussetzung der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ermöglicht und es dem Verfolgten einen Anspruch auf eine sachliche Kriterien berücksichtigende Entscheidung über sein Gnadengesuch einräumt.
Zwar benennen sowohl Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb, der durch den am 2.08.2006 in Kraft getretenen § 83 Nr. 4 IRG in nationales Recht umgesetzt wurde, als auch die Gesetzesmaterialien zur ersten, mit Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.20051 für nichtig erklärten Umsetzung des Rahmenbeschlusses durch das Europäische Haftbefehlsgesetz vom 21.07.20042 in § 83b Nr. 4 IRG sowohl einerseits die „Überprüfung“ als auch andererseits „Gnadenakte“ bzw. die „Möglichkeit der Begnadigung“.
Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb lautet:
„Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden:
1. (…)
2. Ist die Straftat, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bedroht, so kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls an die Bedingung geknüpft werden, dass die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaates eine Überprüfung der verhängten Strafe – auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren – oder Gnadenakte zulässt, die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe oder der Maßregel führen können und auf die die betreffende Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaates Anspruch hat.
3. (…)“
In der Gesetzesbegründung zum damals fakultativ ausgestalteten Bewilligungshindernis – im hier relevanten Teil mit der jetzigen Fassung des § 83 Nr. 4 IRG aber textidentischen – § 83b Nr. 4 IRG heißt es:
„Eine Auslieferung kann abgelehnt werden, wenn nicht sichergestellt ist, dass spätestens 20 Jahre nach Beginn der Vollstreckung eine Überprüfung der weiteren Vollstreckung erfolgt. Ob die Überprüfung auf Antrag des Verfolgten oder von Amts wegen erfolgt, ist unerheblich. Entscheidend ist, dass ein Rechtsanspruch auf Überprüfung besteht. Die immer bestehende Möglichkeit einer Begnadigung ist jedoch hierfür nicht ausreichend. Der Rechtsanspruch kann sich aus einer gesetzlichen Vorschrift des ersuchenden Staates, aus seiner Rechtspraxis oder, im Falle der Zusicherung einer Überprüfung im Auslieferungsverfahren, aus der allgemeinen Pflicht zur Einhaltung bindender völkerrechtlicher Zusagen ergeben. Zweifel im Einzelfall, ob diese Zulässigkeitsvoraussetzung vorliegt, können durch Einholung einer Rechtsauskunft oder einer Zusicherung ausgeräumt werden“3.
Die Gesetzesbegründung zum zweiten Entwurf eines Europäischen Haftbefehlsgesetzes benennt dagegen den „Gnadenweg“ ausdrücklich als Beispiel einer „Überprüfung“ im Sinne des gegenüber der Erstfassung unveränderten § 83b Nr. 4 IRG. Dort ist ausgeführt:
„Bei lebenslanger Freiheitsstrafe (…) kann die Auslieferung nach § 83b Nr. 4 verweigert werden, wenn eine Überprüfung der Vollstreckung nicht spätestens nach 20 Jahren erfolgt. Ist die Überprüfung nicht schon auf Grund des Rechts des ersuchenden Staates gesichert, so kann von diesem Bewilligungshindernis kein Gebrauch gemacht werden, wenn über eine Bedingung bei der Auslieferung die Einhaltung einer fristgerechten Überprüfung, beispielsweise im Gnadenweg, sichergestellt und auf die Einhaltung der Bedingung vertraut werden kann“4.
Von diesen Erwägungen ist der Gesetzgeber ersichtlich nicht mehr abgerückt. Vielmehr wurde auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages lediglich die Ausgestaltung als Bewilligungshindernis zugunsten einer Zulässigkeitsvoraussetzung in § 83 Nr. 4 IRG abgeändert5.
Dies belegt, dass der Gesetzgeber ein Gnadenverfahren, in dem der Verfolgte einen Anspruch auf Entscheidung über die weitere Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe bereits vor Ablauf von 20 Jahren hat, als Überprüfung im Sinne des § 83 Nr. 4 IRG ausreichen lassen wollte. Nach der Gesetzesbegründung zum ersten Europäischen Haftbefehlsgesetz sollte zwar die „immer bestehende Möglichkeit der Begnadigung“ nicht genügen, um zur Auslieferung zu verpflichten. Indes fordern weder Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb noch die Gesetzesbegründung zum ersten Europäischen Haftbefehlsgesetz ein gerichtliches oder der gerichtlichen Kontrolle unterliegendes Verfahren, sondern stellen maßgeblich auf einen Rechtsanspruch des Verfolgten auf Überprüfung der weiteren Vollstreckung ab. Dass der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb ermögliche es ihm, die Auslieferung entweder an die Bedingung einer gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit oder an die Bedingung eines möglichen Gnadenaktes zu knüpfen, und dass er der Ansicht war, dass ein gesetzlich geregeltes Gnadenverfahren generell als Bedingung für die Auslieferung nicht ausreiche, lässt sich den Materialien nicht entnehmen. Die Begründung zum Entwurf des zweiten Europäischen Haftbefehlsgesetzes benennt vielmehr eine „Überprüfung … im Gnadenweg“, auf die der Verfolgte einen Anspruch hat, als ausreichende Bedingung für die Auslieferung. Zwar bezieht sich dies – der Konzeption des Entwurfs des § 83b Nr. 4 IRG als eines Bewilligungshindernisses folgend – unmittelbar nur auf eine im Einzelfall aufgestellte Bedingung. Gleichwohl ist diesen Ausführungen – und der Umsetzung der vom Rechtsauschuss empfohlenen Änderung durch den Gesetzgeber – zu entnehmen, dass ein Gnadenverfahren jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen als ausreichende Überprüfung der weiteren Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe angesehen werden kann.
Jedenfalls zwingt aber eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung dazu, in einem Gnadenverfahren, das die Aussetzung der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ermöglicht und dem Verfolgten einen Anspruch auf eine sachliche Kriterien berücksichtigende Entscheidung über sein Gnadengesuch einräumt, die von § 83 Nr. 4 IRG aufgestellte Voraussetzung einer Überprüfung als erfüllt anzusehen.
Dem – auch weiterhin geltenden6 – Rahmenbeschluss des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl kommt zwar der Anwendungsvorrang des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts nicht zu; auch ist seine unmittelbare Anwendbarkeit durch Art. 34 Abs. 2 Buchst. b Satz 3 EUV a.F. weiterhin ausgeschlossen7. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs besteht jedoch die Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung des nationalen Rechts, die sich so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses auszurichten hat8.
Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb beinhaltet – anders als das vorlegende Oberlandesgericht meint – nicht zwei voneinander unabhängige, sondern nur eine Bedingung, die es dem ersuchten Mitgliedstaat erlaubt, die Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls bei drohender lebenslanger Freiheitsstrafe zu verweigern, wenn das Recht des Ausstellungsmitgliedstaates – jeweils unter den im Rahmenbeschluss näher genannten Voraussetzungen – eine Reststrafenaussetzung weder aufgrund einer „Überprüfung“ noch aufgrund eines „Gnadenaktes“ zulässt9.
Das ergibt sich bereits aus der sprachlichen Fassung des Rahmenbeschlusses. Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb spricht von “der Bedingung“10, dass die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaates eine Überprüfung oder Gnadenakte zulässt. Der daran anknüpfende Relativsatz, „die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe oder der Maßregel führen können und auf die die betroffene Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaates Anspruch hat“, bezieht sich dabei sowohl auf „Überprüfung“ als auch auf „Gnadenakte“. Zwar ist insoweit auch ein Bezug lediglich auf die „Gnadenakte“ denkbar11. Verstünde sich der Relativsatz aber so, dass er nur auf „Gnadenakte“ bezogen wäre, wäre die in Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb vorgesehene „Überprüfung“ nicht an die Voraussetzung geknüpft, dass sie zur Aussetzung der Vollstreckung führen kann und der Verfolgte auf eine Entscheidung hierüber einen Anspruch hat, was nach dem Zweck und dem Gesamtzusammenhang der Regelung ersichtlich aber ebenso wenig gewollt ist, wie der Bezug der Paranthese „auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren“ allein auf die „Überprüfung“, nicht aber auf „Gnadenakte„12.
Gegen das vom vorlegenden Oberlandesgericht vorgebrachte Verständnis zweier voneinander unabhängiger Bedingungen spricht weiter, dass es der Intention von Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb offensichtlich widersprechen würde, wenn es dem nationalen Gesetzgeber überlassen wäre, etwa einzig ein Gnadenverfahren als Voraussetzung für die Auslieferung als ausreichend zu erachten, bei nicht vorgesehenem Gnadenverfahren aber trotz eines gesetzlich sachgerecht geregelten gerichtlichen Überprüfungsverfahrens nicht auszuliefern.
Dabei fordert Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb – entgegen der Ansicht des anwaltlichen Vertreters des Verfolgten – nicht, dass schon im Zeitpunkt der Entscheidung über die Auslieferung ein Gnadenakt im Sinne einer Gnade gewährenden Entscheidung vorliegt. Schon nach dem Wortlaut der Regelung ist vielmehr nur geboten, dass „die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaates [des Europäischen Haftbefehls] … Gnadenakte zulässt“.
Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung von Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb ist nicht geboten.
Es ist vorrangig Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob sein Recht in einer rahmenbeschlusskonformen Weise ausgelegt werden kann13. Das nationale Gericht trägt auch die wesentliche Verantwortung für die Einhaltung der Grenzen einer solchen Auslegung14. Kommt es bei der mithin zunächst ihm obliegenden Auslegung zu dem Ergebnis, die Voraussetzungen für die Erholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union15 seien nicht gegeben, weil die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum ist („acte claireDoktrin“)16, so ist es – auch als letztinstanzliches Gericht – zur Erholung dieser Vorabentscheidung nicht verpflichtet.
Dies ist vorliegend der Fall. Der Bundesgerichtshof ist – wie sich aus obigen Ausführungen ergibt – auch bei Berücksichtigung insbesondere der verschiedenen Sprachfassungen und der besonderen Begrifflichkeiten des Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstandes der Überzeugung, dass weder der Gerichtshof der Europäischen Union noch Gerichte anderer Mitgliedstaaten Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb anders auslegen würden, als der Bundesgerichtshof dies oben getan hat.
Die auch – unter bestimmten Voraussetzungen – Gnadenverfahren in die „Überprüfung“ im Sinne des § 83 Nr. 4 IRG einbeziehende Auslegung führt schließlich dazu, dass Wertungswidersprüche zwischen Fällen der dem IRG unterfallenden Auslieferung und denen der Auslieferung an einen Drittstaat weitgehend vermieden werden.
Das polnische Gnadenverfahren erfüllt die Anforderungen des – in obigem Sinne ausgelegten – § 83 Nr. 4 IRG.
Gemäß Art. 560 § 1 der polnischen Strafprozessordnung können – abgesehen von Fällen einer Verurteilung durch den Staatsgerichtshof (Art. 139 der polnischen Verfassung) – der Verurteilte und nahe Angehörige ein Gnadengesuch stellen, das beim Gericht des ersten Rechtszuges anzubringen ist (Art. 561 § 1 der polnischen Strafprozessordnung). Dieses soll gemäß Art. 561 § 2 der polnischen Strafprozessordnung innerhalb von zwei Monaten entscheiden, wobei die Entscheidungskriterien – insbesondere das Verhalten des Verurteilten nach der Entscheidung, das Ausmaß der bereits vollzogenen Strafe, der Gesundheitszustand des Verurteilten und seine Familienverhältnisse, geleisteter Schadensersatz für den durch die Straftat verursachten Schaden und vor allem nach der Verurteilung eingetretene Ereignisse – von Art. 563 der polnischen Strafprozessordnung vorgegeben sind. Hat in der Sache nur das Gericht des ersten Rechtszuges entschieden und befürwortet es das Gnadengesuch, so leitet es die Akten dem Generalstaatsanwalt zu, anderenfalls ist das Gnadenverfahren beendet. Wenn in der Sache ein Rechtsmittelgericht entschieden hat, leitet das Gericht des ersten Rechtszuges diesem die Akten mit seiner Stellungnahme weiter (Art. 564 § 1 und § 2 der polnischen Strafprozessordnung). Ist die Stellungnahme des Erstgerichts negativ und befürwortet auch das Rechtsmittelgericht das Gnadengesuch nicht, ist das Gnadenverfahren beendet; in allen anderen Fällen leitet das Rechtsmittelgericht die Akten dem Generalstaatsanwalt zu (Art. 564 § 3 der polnischen Strafprozessordnung). Hat mindestens ein Gericht das Gnadengesuch positiv bewertet, legt dieser es gemäß Art. 565 § 1 der polnischen Strafprozessordnung dem Präsidenten der Republik Polen, der nach Art. 139 der polnischen Verfassung das Gnadenrecht ausübt, mit einer eigenen Stellungnahme vor. Er oder der Generalstaatsanwalt können ein Gnadenverfahren auch von Amts wegen einleiten (Art. 567 § 1 und § 2 der polnischen Strafprozessordnung). Eine Mindestverbüßungsdauer vor der Einleitung des Gnadenverfahrens sehen die Art. 560 ff. der polnischen Strafprozessordnung nicht vor.
Dass der Verurteilte einen gesetzlichen Anspruch auf Verbescheidung seines Gnadengesuchs und damit auf Überprüfung der Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe hat, ergibt sich insbesondere aus Art. 566 der polnischen Strafprozessordnung. Denn nur wenn vor Ablauf eines Jahres ab der negativen Verbescheidung eines vorherigen ein neues Gnadengesuch gestellt wird, muss über dieses nicht entschieden werden. Hieraus folgt, dass in allen anderen Fällen der Verurteilte einen Anspruch auf Durchführung des Gnadenverfahrens und auf Verbescheidung seines Antrags hat. Dementsprechend hat – ähnlich der Mitteilung des polnischen Justizministeriums an den Generalbundesanwalt17 – die Kreisstaatsanwaltschaft in B. auf Anfrage des Generalstaatsanwalts in Hamm in anderer Sache18 mit Schreiben vom 14.10.2011 ausgeführt:
„Die einzige Grundlage für die Ablehnung des Gnadengesuchs aus formellen Gründen ist die Stellung des Gnadengesuchs vor Ablauf eines Jahres ab der Stellung des vorherigen Gesuchs. In allen sonstigen Fällen muss jederzeit ein Begnadigungsverfahren eingeleitet und die Sache meritorisch entschieden werden.“
Das polnische Gnadenverfahren erfüllt die Anforderungen des – in obigem Sinne ausgelegten – § 83 Nr. 4 IRG, obwohl für die abschließende Entscheidung des Staatspräsidenten keine bindenden (materiellen) Kriterien vorgegeben sind und seine Entscheidung keiner gerichtlichen Überprüfung zugänglich ist19. Ein insgesamt justizförmiges Verfahren fordern weder – wie dargelegt – § 83 Nr. 4 IRG noch europäisches Recht oder deutsches Verfassungsrecht20. Vielmehr genügt jedenfalls, wenn – wie im polnischen Gnadenrecht – für die Gnadenentscheidung keinerlei tatbestandliche Einschränkungen vorgesehen sind21, sondern – sogar durch ein justizförmiges Verfahren – gewährleistet ist, dass sachgerechte Kriterien bei der Entscheidung berücksichtigt werden können, also hierzu erforderlichenfalls Ermittlungen angestellt und Feststellungen getroffen werden, und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der zur Gnadenentscheidung Berufene diese bei seiner Entscheidung außer Betracht lässt22. Mit der Berücksichtigung des Verhaltens des Verurteilten nach der Entscheidung, des Ausmaßes der bereits vollzogenen Strafe, des Gesundheitszustandes des Verurteilten und seiner Familienverhältnisse, geleisteten Schadensersatzes für den durch die Straftat verursachten Schaden und vor allem nach der Verurteilung eingetretener Ereignisse eröffnet das polnische Gnadenrecht dem Verurteilten die nicht nur vage Hoffnung auf ein späteres selbstbestimmtes Leben in Freiheit23.
Die Subsumtion des polnischen Gnadenverfahrens unter das Tatbestandsmerkmal der „Überprüfung“ in § 83 Nr. 4 IRG verstößt schließlich nicht gegen allgemeine24, insbesondere nicht gegen verfassungs- oder völkerrechtliche Rechtsgrundsätze.
Die deutschen Gerichte sind von Verfassungs wegen gehalten, im Auslieferungsverfahren zu prüfen, ob die Auslieferung mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar ist, zu denen das Gebot der Verhältnismäßigkeit, das insbesondere unerträglich harte und unter jedem Gesichtspunkt unangemessene Strafen verbietet, und das aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG folgende Verbot grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Strafens zählen25.
Im Zusammenhang mit der (möglichen) Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe sind diese Mindeststandards im Auslieferungsverfahren in Bezug auf deren Vollstreckung gewahrt, wenn für den Verfolgten jedenfalls eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht26. Eine solche kann auch aufgrund eines grundsätzlich erfolgversprechenden Gnadenverfahrens bestehen27.
Diese Mindeststandards sind vorliegend nicht nur durch das mögliche Gnadenverfahren, sondern auch durch die nach Art. 78 § 3 des polnischen Strafgesetzbuches vorgesehene gerichtliche Überprüfung der Reststrafenaussetzung nach 25 Jahren gewahrt28, zumal nach deutschem Recht in Fällen der versuchten vorsätzlichen Tötung eines Menschen ebenfalls eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt werden kann. Eine lebenslange Freiheitsstrafe stellt selbst ohne die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung als solche aber keine unerträglich harte oder unmenschliche Strafe dar, die der Auslieferung von vorneherein entgegensteht29.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19. Juni 2012 – 4 ARs 5/12
- 2 BvR 2236/04, NJW 2005, 2289[↩]
- BGBl. I, S. 1748[↩]
- BT-Drucks. 15/1718, S. 21[↩]
- BT-Drucks. 16/1024, S. 13; ebenso bereits BT-Drucks. 16/544, S. 10[↩]
- BT-Drucks. 16/2015, S. 4, 13[↩]
- vgl. Suhr in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., Art. 67 AEUV Rn. 41[↩]
- vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 13.08.2009 – 2 BvR 471/09, BVerfGK 16, 131[↩]
- vgl. Urteil vom 16.06.2005 [Pupino] – C 105/03, NJW 2005, 2839, 2841 [Tz. 43]; ferner BVerfG, Beschluss vom 13.08.2009 – 2 BvR 471/09; BGH, Urteil vom 03.12.2009 – 3 StR 277/09, BGHSt 54, 216 [Tz. 28]; Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl., S. 360 f.; Hackner aaO Vor § 78 Rn. 10; Suhr aaO Art. 67 AEUV Rn. 21 ff.[↩]
- so auch Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union, S. 132[↩]
- auch die englische und die französische Fassung verwenden den Singular, „the condition“ bzw. „la condition“[↩]
- ebenso in der französischen und der italienischen Fassung, wo sich der Femininum Plural „auxelles“ bzw. „alle quali“ sowohl allein auf „mesures de clémence“ bzw. „misure di clemenza“ als auch zusätzlich auf „révision“ bzw. „revisione“ beziehen kann[↩]
- die Betrachtung der Entstehungsgeschichte des Rahmenbeschlusses ist in diesem Zusammenhang unergiebig, weil sich die Begründung der Europäischen Kommission zum Entwurf des Rahmenbeschlusses vom 19.09.2001 – KOM [2001] 522 endgültig [vgl. dort S. 22, 44] – auf einen insofern vom letztlich verabschiedeten Text abweichenden Entwurf bezieht[↩]
- EuGH, Urteil vom 16.06.2005 [Pupino] – C 105/03, NJW 2005, 2839, 2841 [Tz. 47]; vgl. ferner BVerfG, Beschluss vom 13.08.2009 – 2 BvR 471/09, BVerfGK 16, 131[↩]
- Suhr aaO Art. 67 AEUV Rn. 25; Wegner in Calliess/Ruffert aaO Art. 267 AEUV Rn. 21[↩]
- hier: nach Art. 267 Buchst. b AEUV[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.06.2011 – 1 BvR 2109/09; Wegner aaO Art. 267 AEUV Rn. 32 jeweils mwN[↩]
- vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 21.06.2007 – 1 Ausl III 41/05[↩]
- dortiges Az.: 4 AuslA 124/11[↩]
- vgl. auch OLG Koblenz, Beschluss vom 21.06.2007 – 1 AuslIII41/05; a.A. z.B. Hackner aaO § 83 Rn. 16[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.07.2005 – 2 BvR 2259/04 [Tz. 38], BVerfGE 113, 154, 167[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.07.2005 – 2 BvR 2259/04 [Tz. 35 ff.], BVerfGE 113, 154, 166 f.[↩]
- vgl. dazu auch OLG Koblenz, Beschluss vom 21.06.2007 – 1 Ausl III 41/05; zum ungarischen Gnadenrecht auch Oberlandesgericht Köln, Beschluss vom 27.04.2009 – 6 AuslA 25/08; zum Gnadenrecht der Vereinigten Staaten von Amerika: OLG Dresden, Beschluss vom 14.01.2011 – OLG Ausl 179/10; dazu auch VerfG Sachsen, Beschluss vom 11.03.2011 – Vf. 25IV11 HS, Vf. 26IV11 e.A.[↩]
- vgl. zu diesem Erfordernis auch BVerfG, Beschluss vom 16.01.2010 – 2 BvR 2299/09 [Tz. 28 f.], BVerfGK 16, 491, 499[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 03.12.2009 – 3 StR 277/09, BGHSt 54, 216 [Tz. 28][↩]
- BVerfG, Beschlüsse vom 06.07.2005 – 2 BvR 2259/04 [Tz. 22 f.], BVerfGE 113, 154, 162; vom 16.01.2010 – 2 BvR 2299/09 [Tz. 18 f.], BVerfGK 16, 491, 495 f. mwN[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 06.07.2005 – 2 BvR 2259/04 [Tz. 31], BVerfGE 113, 154, 164 f.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 22.11.2005 – 2 BvR 1090/05, NStZ-RR 2006, 149, 150 f.[↩]
- BVerfG, Beschlüsse vom 06.07.2005 – 2 BvR 2259/04 [Tz. 31]; vom 16.01.2010 – 2 BvR 2299/09 [Tz. 23], BVerfGK 16, 491, 498[↩]
- vgl. dazu auch EGMR, Beschluss vom 03.11.2009 – 26958/07 [M. ./. Deutschland], EuGRZ 2010, 283, 284[↩]
- BVerfG, Beschlüsse vom 06.07.2005 – 2 BvR 2259/04 [Tz. 25], BVerfGE 113, 154, 163; vom 16.01.2010 – 2 BvR 2299/09 [Tz.20], BVerfGK 16, 491, 496[↩]