Das Amtsgericht hat den Einspruch des nicht vom persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundenen und unentschuldigt ausgebliebenen Betroffenen auch dann nach § 74 Abs. 2 OWiG zu verwerfen, wenn das vorausgegangene Sachurteil vom Rechtsbeschwerdegericht nur im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zurückverwiesen worden war.

Der Betroffene ist nach § 73 Abs. 1 OWiG zum Erscheinen in der Hauptverhandlung verpflichtet. Er kann aber nach § 73 Abs. 2 OWiG auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden werden, wenn er sich geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Bleibt der Betroffene ohne genügende Entschuldigung aus, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden war, hat das Gericht den Einspruch ohne Verhandlung zur Sache durch Urteil zu verwerfen (§ 74 Abs. 2 OWiG). Dem Ausbleiben des Betroffenen, wenn es nicht aus anderen Gründen genügend entschuldigt ist, ist mangelndes Interesse an der Wahrnehmung seiner Prozessrolle zu entnehmen; dies rechtfertigt angesichts der geringeren Bedeutung von Bußgeldverfahren eine Verwerfung des Einspruchs.
Die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen ist nach der Neufassung des § 74 Abs. 2 OWiG durch Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und anderer Gesetze (OWiGÄndG) vom 26.01.1998 [1] zwingend, ein Ermessensspielraum wird dem Gericht anders als nach der früheren Rechtslage nicht mehr eingeräumt. Durch die Umwandlung der Vorschrift in eine zwingende Regelung wollte der Gesetzgeber eine Vereinfachung des Verfahrens und damit eine „dringend gebotene“ Entlastung der Gerichte erreichen [2]. Schon nach der früheren Rechtslage durfte aber das Amtsgericht den Einspruch des trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens in der Hauptverhandlung unentschuldigt ausgebliebenen Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde auch dann noch nach § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG verwerfen, wenn das vorangegangene Sachurteil vom Rechtsbeschwerdegericht aufgehoben und die Sache zurückverwiesen worden war [3]. Der Bundesgerichtshof hat dies seinerzeit daraus geschlossen, dass das Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) vom 09.12.1974 [4] lediglich § 329 Abs. 1 StPO und § 412 StPO in dem Sinne geändert hat, dass die Berufung oder der Einspruch nach diesen Vorschriften nicht mehr verworfen werden darf, wenn das Tatgericht erneut verhandelt, nachdem die Sache vom Revisionsgericht zurückverwiesen worden ist. Damit habe der Gesetzgeber der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 329 Abs. 1 StPO [5] Rechnung tragen wollen. Weil § 329 Abs. 1 StPO und § 412 StPO sowie § 74 Abs. 2 OWiG dasselbe Rechtsproblem beträfen, lasse sich schon aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber diese Frage in § 329 Abs. 1 StPO und § 412 StPO neu geregelt habe, während § 74 Abs. 2 OWiG – bei Änderung in anderen Punkten – unverändert geblieben sei, der Schluss ziehen, dass er damit unterschiedliche Regelungen für Strafverfahren und Bußgeldverfahren habe treffen wollen.
Diese Argumentation trifft auch nach der gegenwärtigen Rechtslage zu. Zwar stand nach der früheren Fassung des § 74 Abs. 2 OWiG die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen im Ermessen des Gerichts, während diese Folge nunmehr zwingend auszusprechen ist. Aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber bei dieser erneuten Änderung des § 74 Abs. 2 OWiG in Kenntnis der Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Verwerfung nach Aufhebung und Zurückverweisung durch das Revisionsgericht wiederum keine dem § 329 Abs. 1 Satz 2 StPO entsprechende Regelung in die Vorschrift eingefügt hat, kann daher weiterhin geschlossen werden, dass die Verwerfung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid nach Aufhebung des ersten Sachurteils in der Rechtsbeschwerdeinstanz und die Verwerfung der Berufung bzw. des Einspruchs gegen einen Strafbefehl unterschiedlich geregelt bleiben sollen [6]. Dies entspricht auch dem Ziel der Entlastung der Gerichte durch das OWiGÄndG. Da es sich um eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers handelt, die Verfahrensweise beim unentschuldigten Ausbleiben des Betroffenen im Bußgeldverfahren abweichend vom Strafverfahren zu regeln, scheidet eine Anwendung der Regelungen der §§ 412, 329 Abs. 1 StPO über § 71 Abs. 1 OWiG aus.
Die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen hat auch dann zu erfolgen, wenn das Rechtsbeschwerdegericht die Sache nur im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und an das Amtsgericht zurückverwiesen hat.
Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. § 74 Abs. 2 OWiG ist durch das OWiGÄndG ohne Ausnahme zu einer zwingenden Regelung umgestaltet worden, obwohl der Gesetzgeber wusste, dass die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte eine Verwerfung des Einspruchs nach Teilaufhebung durch das Rechtsbeschwerdegericht wegen der eingetretenen Teilrechtskraft des Schuldspruchs als unzulässig ansah [7]. Die Änderung diente der dringend gebotenen Entlastung der Justiz im Bereich der Ordnungswidrigkeiten [8]. Zugleich wurde die zuvor in § 74 Abs. 2 Satz 2 OWiG a.F. gegebene Möglichkeit der Vorführung des Betroffenen oder der Verhandlung in seiner Abwesenheit abgeschafft [9]. Der Gesetzgeber hat dafür angesichts der zwingenden Regelung keinen Anwendungsbereich mehr gesehen, also auch nicht in den in den Materialien nicht angesprochenen Fällen der Teilaufhebung und Zurückverweisung durch das Rechtsbeschwerdegericht. Es ist deshalb ersichtlich auch in diesen Fällen davon auszugehen, dass die Verwerfung des Einspruchs gesetzgeberisch gewollt ist. Der Gesetzgeber hat dem Betroffenen in § 73 Abs. 1 OWiG das persönliche Erscheinen in der Hauptverhandlung auferlegt. Lehnt es der Betroffene durch sein unentschuldigtes Ausbleiben ab, zur Aufklärung beizutragen, ist das Gericht im Interesse der Verfahrensökonomie von der Verpflichtung entbunden, die Beschuldigung zu prüfen oder – bei Rechtskraft des Schuldspruchs – zum Rechtsfolgenausspruch neu zu verhandeln. Das Interesse des Betroffenen und der Allgemeinheit an einer inhaltlich möglichst gerechten Entscheidung tritt in diesen Fällen hinter der Verfahrensökonomie zurück [10].
Der Eintritt der Teilrechtskraft des Schuldspruchs bei Aufhebung nur des Rechtsfolgenausspruchs durch das Rechtsbeschwerdegericht steht der Verwerfung des Einspruchs in der neuen Verhandlung nicht entgegen.
Wegen des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Urteils sind der rechtskräftige Schuldspruch und die ihm zugrunde liegenden Feststellungen zwar im Regelfall Grundlage des weiteren Verfahrens und wesentlicher Teil des abschließenden Urteils [11]. Dies folgt aus dem Gebot der inneren Einheit und der damit notwendig verbundenen Widerspruchsfreiheit der Entscheidung, das unabhängig davon Gültigkeit beansprucht, ob ein Urteil über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage gleichzeitig entscheidet oder nicht. Durch die Verwerfung des Einspruchs wird dieser Grundsatz aber nicht berührt, denn durch sie wird der einheitliche Inhalt des Bußgeldbescheids wiederhergestellt. Durch die Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG wird der Bußgeldbescheid insgesamt rechtskräftig (§ 84 Abs. 1 OWiG).
Der Grundsatz der reformatio in peius gebietet es nicht, einen dem Betroffenen günstigeren, in Folge der nur teilweisen Urteilsaufhebung rechtskräftigen Schuldspruch aufrecht zu erhalten. Dieser Grundsatz gilt im Ordnungswidrigkeitenrecht ohnehin nur eingeschränkt. § 72 Abs. 3 Satz 2 OWiG verbietet dem Gericht nur die Festsetzung einer nachteiligeren Rechtsfolge als im Bußgeldbescheid festgesetzt, wenn es durch Beschluss entscheidet. Im Rechtsbeschwerdeverfahren gilt der Grundsatz des § 358 Abs. 2 StPO, der den Betroffenen vor einer Verschlechterung des Rechtsfolgenausspruchs, nicht aber des Schuldspruchs schützt [12]. So kann das Revisions- oder das Rechtsbeschwerdegericht auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen den Schuldspruch verbösern, ohne gegen das Verbot der reformatio in peius zu verstoßen.
Vor einer möglichen Verschlechterung des Schuldspruchs ist der Betroffene durch den Eintritt von Teilrechtskraft nicht in jedem Fall geschützt. Bei Vorliegen besonderer Umstände kann es sich ergeben, dass zwischen den Erörterungen zur Schuld- und Straffrage eine so enge Verbindung besteht, dass eine getrennte Überprüfung des angefochtenen Teils nicht möglich ist, ohne dass der nicht angefochtene Teil mitberührt wird [13]. Eine Beschränkung des Rechtsmittels auf den Strafausspruch kann zudem dann unwirksam sein, wenn die Feststellungen zur Tat so mangelhaft sind, dass sie keine ausreichende Grundlage für die Entscheidung über die Rechtsfolge sein können [14]. Die Teilrechtskraft des Schuldspruchs führt somit nicht in jedem Fall zu dessen Unabänderlichkeit. Der horizontalen Teilrechtskraft kommt nicht die volle Wirkung der Rechtskraft zu [15].
Dem teilrechtskräftigen Schuldspruch kommt im Bußgeldverfahren auch sonst keine unabänderliche Bestandsgarantie zu. So kann das Gericht in jeder Lage das Verfahren nach § 47 Abs. 2 OWiG einstellen und somit die Teilrechtskraft durchbrechen.
Es werden nach alledem keine unabänderlichen Verfahrensgrundsätze durchbrochen, wenn bei verschuldetem Ausbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung durch Einspruchsverwerfung ein teilrechtskräftiger, gegenüber dem Bußgeldbescheid günstigerer oder ungünstigerer Schuldspruch entfällt.
Der Bundesgerichtshof entnimmt der vom Gesetzgeber geschaffenen Regelung der ausnahmslosen Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Nichterscheinen des nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbundenen Betroffenen in der Hauptverhandlung, dass ihm dann auch die Rechtswohltat des Verschlechterungsverbots hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs nicht zukommt. Das Verschlechterungsverbot ist kein übergeordneter allgemeiner Verfahrensgrundsatz, sondern gilt im Rechtsbeschwerdeverfahren aufgrund der gesetzlichen Regelung in § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 358 Abs. 2 StPO. Der Gesetzgeber konnte durch die Anordnung der Verwerfung des Einspruchs diese Regelung konkludent auf die Fälle beschränken, in denen das Gericht nach einer Urteilsaufhebung durch das Rechtsbeschwerdegericht eine neue Sachentscheidung trifft.
BGH, Beschluss vom 18. Juli 2012 – 4 StR 603/11
- BGBl. I S. 156, 157[↩]
- BT-Drucks. 13/5418 S. 7, 9[↩]
- BGH, Beschluss vom 10.12.1985 – 1 StR 506/85, BGHSt 33, 394[↩]
- BGBl. I S. 3393, 3533[↩]
- BGH, Urteil vom 03.04.1962 – 5 StR 580/61, BGHSt 17, 188[↩]
- so auch OLG Köln, VRS 98 [2000], 217, 219; OLG Stuttgart, NJW 2002, 978, 979; OLG Brandenburg, VRS 117 [2009] 102; OLG Hamm, Beschluss vom 22.03.2012 – 3 RBs 68/12; zustimmend Seitz in Göhler, OWiG, 16. Aufl., § 74 Rn. 24; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG, Stand März 2011, § 74 Rn. 13; Bohnert, OWiG, 3. Aufl., § 74 Rn. 22; aA KKSenge, OWiG, 3. Aufl., § 74 Rn. 21[↩]
- vgl. OLG Köln, NStZ 1987, 372; KG, VRS 72 [1987], 451; BayObLG VRS 80 [1991], 45[↩]
- BT-Drucks. 13/5418 S. 1[↩]
- vgl. BT-Drucks. 13/5418 S. 9[↩]
- vgl. zur alten Rechtslage Meurer, NStZ 1987, 540[↩]
- BGH, Urteil vom 14.01.1982 – 4 StR 642/81, BGHSt 30, 340, 342[↩]
- vgl. Seitz, aaO, § 79 Rn. 37; KK/Kuckein, StPO, 6. Aufl., § 358 Rn. 18[↩]
- BGH, Beschluss vom 21.10.1980 – 1 StR 262/80, BGHSt 29, 359, 364; Urteil vom 22.04.1993 – 4 StR 153/93, BGHSt 39, 208, 209; KK/Paul, aaO, § 318 Rn. 7a mwN[↩]
- BGH, Urteil vom 05.11.1984 – AnwSt ® 11/84, BGHSt 33, 59[↩]
- LR/Gössel, StPO, 25. Aufl., § 318 Rn. 30, Rn. 126 Fn. 377[↩]