Die Verhandlungsunfähigkeit eines 94-jährigen KZ-Wachmannes

Für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord kann nur erfolgen, wenn der Angeschuldigte konkrete Tötungshandlungen gefördert hat und dabei alle Umstände kannte, die diese Tötungshandlungen als heimtückisch und grausam begangene Morde kennzeichnen. Es ist nicht allein ausreichend, dass dem Angeschuldigten lediglich eine Tätigkeit als Wachmann im Konzentrationslager nachgewiesen wird. Die Eröffnung des Hauptverfahrens ist abzulehnen, wenn der Angeschuldigte altersbedingt unter einem sich stetig entwickelnden dementiellen Abbauprozess leidet, durch den dieser nicht in der Lage ist, die schwerwiegenden Anklagevorwürfe im einzelnen zu erfassen, sich mit ihnen differenziert auseinanderzusetzen und in einer voraussichtlich langwierigen Hauptverhandlung in verständiger Weise von seinen Verfahrensrechten Gebrauch zu machen.

Die Verhandlungsunfähigkeit eines 94-jährigen KZ-Wachmannes

So hat das Landgericht Ellwangen in dem hier vorliegenden Fall des Herrn Hans Lipschis entschieden und die Eröffnung des Hauptverfahren abgelehnt. Nachdem die Nebenkläger ihre beim Oberlandesgericht Stuttgart eingereichten sofortigen Beschwerden gegen diesen Beschluss zurückgenommen haben, ist das Verfahren gegen den ehemaligen KZ-Wachmann erledigt.

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hatte dem Angeschuldigten zur Last gelegt, in 12 Handlungen anderen zum heimtückisch und grausamen begangenen Mord an insgesamt 10510 Menschen Hilfe geleistet zu haben, indem er in der Zeit vom 23.10.1941 bis 29.09.1943 in mehreren Wochen als Angehöriger des SS-Totenkopf-Sturmbanns zumindest Wachbereitschaft im Konzentrationslager Auschwitz hatte und dadurch den Lagerbetrieb und damit die Vernichtungsaktionen unterstützte.

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Nach Auffassung des Landgerichts Ellwangen war die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen, da der 94-jährige Angeschuldigte verhandlungsunfähig ist. Das Landgericht stützte sich dabei auf den eigenen persönlichen Eindruck vom Angeschuldigten sowie auf das Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen.

Dabei hat das Landgericht auf der Grundlage langjähriger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vorausgesetzt, dass dem Angeschuldigten nicht allein eine Tätigkeit als Wachmann im Konzentrationslager nachgewiesen werden müsste. Vielmehr könne eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord – alle anderen Straftatbestände sind bereits verjährt – nur dann erfolgen, wenn er konkrete Tötungshandlungen gefördert hat und dabei alle Umstände kannte, die diese Tötungshandlungen als heimtückisch und grausam begangene Morde kennzeichnen. Jedenfalls der Nachweis dieser Kenntnis sei aber nur in einer umfassenden, schwierigen und komplexen Beweisaufnahme möglich.

Der Angeschuldigte leide altersbedingt unter einem sich stetig entwickelnden dementiellen Abbauprozess, der zur Folge habe, dass seine intellektuelle Leistungsfähigkeit deutlich eingeschränkt sei. Insbesondere das Kurzzeitgedächtnis sei erheblich gestört. Insgesamt sei er deshalb nicht in der Lage, die schwerwiegenden Anklagevorwürfe im einzelnen zu erfassen, sich mit ihnen differenziert auseinanderzusetzen und in einer voraussichtlich langwierigen Hauptverhandlung in verständiger Weise von seinen Verfahrensrechten Gebrauch zu machen. Eine angemessene Verteidigung wäre ihm deshalb nicht möglich, er würde zum bloßen Objekt des Verfahrens.

Da die Nebenkläger mit dier Entscheidung nicht einverstanden waren, haben sie vor dem Oberlandesgericht Stuttgart mit den sofortigen Beschwerden ihr Ziel weiter verfolgt. Nun sind diese Beschwerden gegen den Beschluss des Landgerichts zurückgenommen worden. Nach der Rücknahme ihrer Rechtsmittel haben die Nebenkläger insoweit die im Beschwerdeverfahren entstanden Kosten (§ 473 Abs. 1 Satz 1, 3 StPO) zu tragen1.

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Landgericht Ellwangen/Jagst, Beschluss vom 27. Februar 2014 – 1 Ks 9 Js 94162/12

  1. OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.04.2014 – 1 Ws 46/14[]