Sachverhaltsaufklärung im strafprozessualen Vollstreckungsverfahren

Bei der Ablehnung einer Strafaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung von 2/3 der Strafe müssen sich die Vollstreckungsgerichte selbst ein ausführliches Bild von dem Angeklagten machen, sie dürfen dies, wie jetzt das Bundesverfassungsgericht betonnte, nicht auf Dritte verlagern.

Sachverhaltsaufklärung im strafprozessualen Vollstreckungsverfahren

Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 104 Abs. 1 und 2 GG) darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden1. Daraus ergeben sich für die Strafgerichte Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung, die nicht nur im strafprozessualen Hauptverfahren, sondern auch bei den im Vollstreckungsverfahren zu treffenden Entscheidungen zu beachten sind. Sie setzen unter anderem Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für eine hinreichende tatsächliche Grundlage richterlicher Entscheidungen. Denn es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht1.

Um eine diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegende Entscheidung im strafprozessualen Vollstreckungsverfahren handelt es sich, wenn darüber zu befinden ist, ob die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird.

Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn zwei Drittel der verhängten Strafe verbüßt sind, der Verurteilte einwilligt und dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Nach § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB sind bei der danach anstehenden Prüfung, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird, namentlich seine Persönlichkeit, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, sein Verhalten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind. Damit ist den Vollstreckungsrichtern eine prognostische Gesamtwürdigung abverlangt, die keine Gewissheit künftiger Straffreiheit voraussetzt2, es also miteinschließt, dass ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird3, dabei jedoch dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit in angemessener Weise Rechnung zu tragen hat4.

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Bei der nach § 57 Abs. 1 StGB zu treffenden Entscheidung handelt es sich um die Auslegung und Anwendung von Gesetzesrecht, die Sache der Strafgerichte sind. Sie werden vom Bundesverfassungsgericht nur daraufhin nachgeprüft, ob das Strafvollstreckungsgericht in objektiv unvertretbarer Weise vorgegangen ist oder die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts – hier insbesondere des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 1 und 2 GG verbürgten Freiheitsrechts – verkannt hat5.

Die aus dem Freiheitsrecht abzuleitenden Anforderungen richten sich insbesondere an die Prognoseentscheidung. Für deren tatsächlichen Grundlagen gilt von Verfassungs wegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung6. Es verlangt, dass der Richter die Grundlagen seiner Prognose selbständig bewertet, verbietet mithin, dass er die Bewertung einer anderen Stelle überlässt. Darüber hinaus fordert es vom Richter, dass er sich um eine möglichst breite Tatsachenbasis bemüht und sich so ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschafft7.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. Oktober 2009 – 2 BvR 2549/08

  1. vgl. BVerfGE 70, 297, 307[][]
  2. vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.12.2003 – 2 BvR 1661/03[]
  3. vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.03.1998 – 2 BvR 77/97, NJW 1998, S. 2202, 2203 im Rahmen einer Entscheidung nach § 57a StGB[]
  4. vgl. BVerfGE 117, 71, 101 f.[]
  5. vgl. BVerfGE 18, 85, 92 f., 96; 72, 105, 113 ff.[]
  6. vgl. BVerfGE 70, 297, 309[]
  7. vgl. BVerfGE 70, 297, 310 f. ; ferner jüngst BVerfG, Beschluss vom 26.03.2009 – 2 BvR 2543/08; BVerfG, Beschluss vom 30.04.2009 – 2 BvR 2009/08 -, NJW 2009, S. 1941, 1942[]
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