Abschiebungsbedingtes Einreise- und Aufenthaltsverbot – und seine Bemessung

Ein im Asylverfahren anzuordnendes abschiebungsbedingtes Einreise- und Aufenthaltsverbot kann ermessensfehlerfrei auf die Dauer von 30 Monaten befristet werden, wenn die Situation keine Besonderheiten gegenüber gleichgelagerten Fällen aufweist und insbesondere Umstände, die das gefahrenabwehrrechtlich geprägte Interesse an einem Fernhalten des Ausländers vom Bundesgebiet erhöhen, ebenso wenig erkennbar sind wie Umstände, die geeignet sind, das Gewicht dieses öffentlichen Interesses zu mindern.

Abschiebungsbedingtes Einreise- und Aufenthaltsverbot – und seine Bemessung

Der Erfüllung des zentralen Merkmals einer in Abschnitt 4 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes geregelten Anspruchsgrundlage für die Erteilung eines Aufenthaltstitels während des asylverfahrensbezogenen Aufenthalts im Bundesgebiet begründet ein aufenthaltsrechtlich beachtliches Rückkehrinteresse, dem im Rahmen der Befristung eines abschiebungsbedingten Einreise- und Aufenthaltsverbots Rechnung zu tragen ist.

Eine Festsetzung der Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate steht im Ergebnis im Einklang mit § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Weder erweisen sich die im gerichtlichen Verfahren ergänzten Ermessenserwägungen im Ergebnis als fehlerhaft noch hat das Bundesamt mit seiner Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des ihm nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eingeräumten Ermessens überschritten. Die Bestimmung der Geltungsdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist insbesondere nicht unverhältnismäßig und verstößt auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.

Das Bundesamt muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten vorzunehmenden Befristung der Geltungsdauer des abschiebungsbedingten Einreise- und Aufenthaltsverbots einerseits Zweck und Gewicht der das Einreise- und Aufenthaltsverbot veranlassenden Verfügung oder Maßnahme und andererseits die schützenswerten Belange des Betroffenen berücksichtigen. Schützenswert sind solche persönlichen Belange, die dem Ausländer eine aufenthaltsrechtlich beachtliche Rückkehrperspektive vermitteln. Die seitens des Bundesamts gegenüber dem Kläger für die Dauer von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung festgesetzte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.

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Die Befristung eines unter der aufschiebenden Bedingung einer Abschiebung des Ausländers erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbots vollzieht sich – der Bestimmung der Geltungsdauer eines an eine Ausweisung anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbots im Grundsatz vergleichbar1 – in zwei Schritten.

In einem ersten Schritt bedarf es der prognostischen Einschätzung des Bundesamts, wie lange das Verhalten des Betroffenen, welches der die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots veranlassenden Abschiebung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an einer Gefahrenabwehr durch Fernhaltung des Ausländers von dem Bundesgebiet zu tragen vermag. Das Gewicht dieses gefahrenabwehrrechtlich geprägten öffentlichen Interesses an einem befristeten Fernhalten des abgeschobenen Ausländers wird maßgeblich durch den Zweck des § 11 Abs. 1 AufenthG geprägt. Mit diesem verfolgt der Gesetzgeber gewichtige spezial- und generalpräventive Zwecke, die im Übrigen für das ausweisungsbedingte und für das abschiebungsbedingte Einreiseverbot je gesondert zu bestimmen sind2. Das hier betroffene unter der aufschiebenden Bedingung einer Abschiebung zu erlassende Einreise- und Aufenthaltsverbot ist zum einen in Bezug auf den betroffenen ausreisepflichtigen Ausländer der Durchsetzung des Vorrangs der freiwilligen Ausreise vor der Abschiebung und zum anderen auch in Bezug auf sonstige ausreisepflichtige Ausländer der Förderung der freiwilligen Ausreise zu dienen bestimmt. In spezialpräventiver Hinsicht soll der Ausländer aus dem Unionsgebiet ferngehalten werden, weil er Anlass für Vollstreckungsmaßnahmen gegeben hat und die Besorgnis besteht, dass selbige bei einem künftigen Aufenthalt erneut erforderlich werden. Zugleich soll in generalpräventiver Hinsicht verhindert werden, dass sich andere Ausländer in dem Vorhaben, ebenfalls nicht freiwillig auszureisen, ohne ein an die erforderlich gewordene Vollstreckungsmaßnahme anknüpfendes Einreise- und Aufenthaltsverbot bestärkt fühlen könnten.

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Dem gefahrenabwehrrechtlich geprägten öffentlichen Interesse sind in einem zweiten Schritt die Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die private Lebensführung des Ausländers gegenüberzustellen. Dieser zweite Prüfungsschritt zielt im Lichte von Art. 6 und Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 GRC sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf eine Begrenzung der einschneidenden Folgen eines Einreise- und Aufenthaltsverbots für das Familien- und Privatleben des Betroffenen. Er bezweckt zudem, dem Interesse des Ausländers an einer „angemessenen Rückkehrperspektive“ bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Rechnung zu tragen3, weshalb zwar weder die Gründe für die Beendigung eines vormals bestehenden Aufenthaltsrechts noch die Erfüllung der Voraussetzungen für die Erteilung eines neuerlichen Aufenthaltstitels, wohl aber das Gewicht des individuellen Interesses, sich wieder im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen, bei der Bemessung der Frist zu berücksichtigen ist4. Der Ausländer trägt im Lichte von § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG die Darlegungs- und Feststellungslast in Bezug auf seine persönlichen Belange. Das Bundesamt hat ihn im Rahmen der Anhörung zu seinem Asylantrag aufzufordern, diejenigen Tatsachen vorzutragen, die bei einer eventuellen Entscheidung zu der Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots als im vorstehenden Sinne schutzwürdige Belange zu berücksichtigen wären. Das Bundesamt und nachfolgend die Tatsachengerichte haben die von dem Ausländer geltend gemachten Belange einzelfallbezogen festzustellen und zu gewichten und im Rahmen einer Gesamtbewertung abzuwägen.

Sind in dem zu beurteilenden Einzelfall Umstände, die das gefahrenabwehrrechtlich geprägte Interesse an einem Fernhalten des Ausländers vom Bundesgebiet erhöhen, ebenso wenig erkennbar wie Umstände, die geeignet sind, das Gewicht dieses öffentlichen Interesses zu mindern, so begegnet es in einer Situation, die keine Besonderheiten gegenüber gleichgelagerten Fällen aufweist, keinen Bedenken, das abschiebungsbedingte Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von 30 Monaten zu befristen und damit den durch Art. 11 Abs. 2 Satz 1 RL 2008/115/EG und § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorgegebenen Rahmen zur Hälfte auszuschöpfen5.

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Die Schutzwürdigkeit des Interesses des Ausländers an einer angemessenen Rückkehrperspektive wird insbesondere durch Art. 6 und Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 GRC sowie durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprägt.

Einer angemessenen Rückkehrperspektive bedürfen im Lichte des Schutzes des Familienlebens im Sinne von Art. 6 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 Var. 2 GRC insbesondere Ausländer, die im Bundesgebiet in familiärer Lebensgemeinschaft mit einem deutschen oder einem ausländischen langfristig aufenthaltsberechtigten Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährigen ledigen Kind leben oder eine sozial-familiäre Beziehung mit einem solchen minderjährigen ledigen Kind pflegen.

Entsprechendes gilt für Ausländer, die den verfassungs- und völkerrechtlichen Schutz sogenannter faktischer Inländer6 genießen. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 Var. 2 GRC beschränken die Berücksichtigung der Gesamtheit der gewachsenen Bindungen zum Bundesgebiet, die das Privatleben des Ausländers ausmachen, aber nicht auf diese Fälle. Bei der Gewichtung einer an schutzwürdige Bindungen anknüpfenden Rückkehrperspektive sind dabei neben der Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen an das Bundesgebiet auch die Stärke der Bindungen an das Herkunftsland zu berücksichtigen7.

Von diesen Grundsätzen geht auch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in der hier angegriffenen Entscheidung8 aus. Es nimmt insbesondere im Einklang mit § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG an, dass persönliche Belange des Ausländers im Falle der Befristung eines abschiebungsbedingten Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht nur insoweit zu berücksichtigen sind, als sie „eine baldige Wiedereinreise erforderlich machen“ oder als sie „die Beendigung des Aufenthalts überdauern und Bedeutung für eine möglichst baldige Wiedereinreise haben“9. In die Abwägung sind vielmehr auch solche Belange des Ausländers einzubeziehen, die nach einer nicht nur ganz kurzfristigen Geltungsdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots weiterhin Bestand haben, sofern ihnen Bedeutung für einen späteren Anspruch auf Wiedereinreise zukommen kann. Die Verengung der zu berücksichtigenden, von Art. 8 EMRK geschützten Teilaspekte des Privatlebens auf Integrationsleistungen, an die eine legale Wiedereinreise realistisch anknüpfen kann, ist durch die Besonderheiten des abschiebungsbedingten Einreiseverbots nach § 75 Nr. 12 i.V.m. § 11 Abs. 1 AufenthG gerechtfertigt. Bei der Befristung eines solchen Einreiseverbots gebietet es der Schutz des Privatlebens jedenfalls in aller Regel nicht, bereits niederschwellige Integrationsleistungen zu berücksichtigen, die keine rechtliche Grundlage für eine legale Wiedereinreise legen. Dies folgt zum einen aus dem Umstand, dass es der Ausländer regelmäßig selbst in der Hand hat, an der Erfüllung seiner Ausreisepflicht mitzuwirken und hierdurch eine Abschiebung und somit schon die Entstehung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu verhindern. Zum anderen werden solche niederschwelligen Integrationserfolge jedenfalls bei im Zusammenhang mit im Asylverfahren ergehenden Einreise- und Aufenthaltsverboten zumeist durch vielfältig fortbestehende Bindungen des Ausländers an sein Herkunftsland weitgehend relativiert. Hinzu kommt schließlich, dass den privaten, durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belangen abgelehnter Asylbewerber, die eine Ausbildung aufgenommen haben und einen Aufenthalt zur Beschäftigung anstreben, nach aktueller Rechtslage bereits durch weitreichende Gewährung von Bleiberechten Rechnung getragen ist (insbes. §§ 60c, 19d Abs. 1a AufenthG); auch sie verhindern die Abschiebung und damit die Entstehung des Einreise- und Aufenthaltsverbots und kommen nach Ablehnung eines Asylantrags in Betracht, wenn über das Einreise- und Aufenthaltsverbot noch nicht bestandskräftig entschieden ist. Ausgehend davon erscheint es jedenfalls nicht grundrechtlich geboten, dem – hier von vornherein nur betroffenen – Personenkreis, der diese Voraussetzungen nicht erfüllt und abgeschoben werden kann, einer kürzeren als der regelmäßig festgesetzten Sperre zu unterwerfen. Auch diesen Ausländern bleibt im Übrigen die Möglichkeit, im Falle der späteren Erfüllung eines Aufenthaltserlaubnistatbestands eine nachträgliche Fristverkürzung bei der Ausländerbehörde zu erwirken.

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Allerdings ist es nicht Zweck der Befristung, die Entscheidung über ein künftiges Aufenthaltsrecht vorwegzunehmen. Die Prüfung von dessen Aufenthaltsvoraussetzungen ist vielmehr dem nach Ablauf der Sperrfrist durchzuführenden Visum- bzw. Aufenthaltstitelverfahren vorzubehalten4. Für die Beachtlichkeit des individuellen Interesses des Ausländers, sich wieder im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen, ist indes von maßgeblicher Bedeutung, ob dieser während seines asylverfahrensbezogenen Aufenthalts im Bundesgebiet das zentrale Merkmal einer in Abschnitt 4 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes geregelten Anspruchsgrundlage für die Erteilung eines Aufenthaltstitels erfüllt hat. Ein dieser Anforderung genügender Integrationserfolg begründet ein aufenthaltsrechtlich beachtliches Rückkehrinteresse, dem im Lichte des Rechts auf Achtung des Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK auch ungeachtet fortbestehender Bindungen des Ausländers an sein Herkunftsland Rechnung zu tragen ist.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 7. September 2021 – 1 C 47.20

  1. vgl. insoweit BVerwG, Urteile vom 10.07.2012 – 1 C 19.11, BVerwGE 143, 277 Rn. 42; und vom 22.02.2017 – 1 C 27.16, BVerwGE 157, 356 Rn. 23[]
  2. vgl. bereits VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2003 – 11 S 59/03 – InfAuslR 2003, 333 <336 f.>[]
  3. Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: August 2021, § 11 AufenthG Rn. 4[]
  4. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2003 – 11 S 59/03 – InfAuslR 2003, 333 <337 f.>[][]
  5. vgl. BayVGH, Urteil vom 14.11.2019 – 13a B 19.31153 64 und Beschluss vom 28.11.2016 – 11 ZB 16.30463 4; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 09.05.2017 – 1 LZ 254/17 14; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 07.01.2019 – 3 LA 189/18 13 und OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 10.01.2019 – 6 A 10042/18 – AuAS 2019, 57 <58>[]
  6. vgl. hierzu BVerfG, Kammerbeschluss vom 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16, NVwZ 2017, 229 Rn.19 ff.; EGMR, Urteile vom 20.12.2018 – Nr. 18706/16, Cabucak; vom 09.04.2019 – Nr. 23887/16, I.M. – und Entscheidung vom 20.11.2018 – Nr. 16711/15, Mohammad; OVG Bremen, Urteil vom 15.11.2019 – 2 B 243/19 24 f.[]
  7. vgl. EGMR, Urteil vom 02.08.2001 – Nr. 54273/00, Boultif, Rn. 48; EGMR , Urteile vom 18.10.2006 – Nr. 46410/99, Üner, Rn. 57 f.; und vom 23.06.2008 – Nr. 1638/03, Maslov, Rn. 71 und 73 und EGMR, Urteile vom 25.03.2010 – Nr. 40601/05, Mutlag, Rn. 54; und vom 13.10.2011 – Nr. 41548/06, Trabelsi, Rn. 55; ferner BVerwG, Urteil vom 27.01.2009 – 1 C 40.07, BVerwGE 133, 72 Rn.20[]
  8. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.07.2020 – OVG 3 B 2/20[]
  9. so indes BayVGH, Beschluss vom 06.04.2017 – 11 ZB 17.30317 13[]
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