Der in Art.19 Abs. 4 GG verbürgten Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes kommt wesentliche Bedeutung bereits für den vorläufigen Rechtsschutz zu, dessen Versagung vielfach irreparable Folgen hat.

Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage ist insoweit eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie. Andererseits gewährleistet Art.19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozess nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten.
Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts ist daher ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt [1].
Die mit der hier entschiedenen Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg [2] im einstweiligen Rechtsschutzverfahren wird diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen auch dann nicht gerecht, wenn man hier den in § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG normierten grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses in Rechnung stellt und daraus folgert, dass die Gerichte – neben der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache – zu einer Einzelfallbetrachtung grundsätzlich nur im Hinblick auf solche Umstände angehalten sind, die von den Beteiligten vorgetragen werden und die Annahme rechtfertigen können, dass im konkreten Fall von der gesetzgeberischen Grundentscheidung ausnahmsweise abzuweichen ist [3]. Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Fall womöglich im Hauptsacheverfahren zu klärende Sach- und Rechtsfragen aufwirft und deshalb die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache abhängig gemacht werden kann, hätte sich das Oberverwaltungsgericht mit den substantiiert vorgetragenen persönlichen Belangen der Beschwerdeführerin in einer der Bedeutung dieser Umstände für die Aussetzungsentscheidung angemessenen Weise auseinandersetzen müssen. Daran fehlt es hier. Zwar ist es grundsätzlich Sache der Fachgerichte, den Sachverhalt zu ermitteln und rechtlich zu würdigen; die Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht ist auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt [4]. Eine solche Verletzung liegt hier jedoch vor. Das Oberverwaltungsgericht hat das Vorbringen der Beschwerdeführerin einer abschließenden Würdigung in der Art einer Hauptsacheentscheidung unterzogen, ohne naheliegende Einwände zu berücksichtigen und auf die Vorläufigkeit ihrer Würdigung sowie den interimistischen Charakter seiner Entscheidung Bedacht zu nehmen, und damit das Gebot effektiven Rechtsschutzes verfehlt [5].
Der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten sein dürfte im vorliegenden Fall vor allem die Frage, ob die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis durch den Bescheid der Ausländerbehörde vor dem Recht auf Achtung des Privatlebens, das Art. 8 Abs. 1 EMRK neben dem Recht auf Achtung des Familienlebens schützt, Bestand haben kann. Diese Frage konnte mit der vom Oberverwaltungsgericht gegebenen Begründung nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entschieden werden [6]. Zwar geht das Oberverwaltungsgericht im Ansatz zutreffend davon aus, dass die Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Entscheidung im Hinblick auf den Einzelfall zu prüfen ist, und dass es mit Blick auf Art. 8 EMRK erforderlich sein kann, bei „faktischen Inländern“ von einem atypischen Fall auszugehen, bei dem ein Aufenthaltstitel trotz fehlender Regelerteilungsvoraussetzungen zu erteilen wäre. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung selbst hat das Gericht aber wesentliche Gesichtspunkte, insbesondere eine hinreichende Auseinandersetzung mit den zu erwartenden Lebensverhältnissen der Beschwerdeführerin im Libanon, unberücksichtigt gelassen.
Das Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind [7] und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt [8]. Ein Eingriff in die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK muss gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist [9].
Hieran gemessen mangelt es der angegriffenen Entscheidung bereits an der richtigen Maßstabsbildung. Die Vorschrift des Art. 8 EMRK wird lediglich erwähnt, ohne deren Inhalt, insbesondere auch hinsichtlich der Anforderungen an den Begriff des „faktischen Inländers“, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte näher zu erläutern. Zur Herleitung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ist ein durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiertes Privatleben erforderlich, das nur noch im Bundesgebiet geführt werden kann. Hierfür kommt es einerseits auf die Integration des Ausländers in Deutschland, andererseits die Möglichkeit zur (Re-)Integration im Staat der Staatsangehörigkeit an. Die konkrete Würdigung der von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Umstände zur Verwurzelung in Deutschland und der Entwurzelung hinsichtlich des Libanon wird dem auf die Erfassung der individuellen Lebensverhältnisse des Ausländers angelegten Prüfprogramm [10] nicht gerecht.
Die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nimmt keine gewichtende Gesamtbewertung der Lebensumstände der Beschwerdeführerin vor [11]. Zudem ist das Oberverwaltungsgericht im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK dem Fehlen tatsächlicher Verbindungen der Beschwerdeführerin zum Libanon nicht nachgegangen, obwohl sich in Ansehung der Lebensgeschichte der Beschwerdeführerin die Notwendigkeit aufdrängt, dass die vorgetragene Entwurzelung in hohem Maße entscheidungserheblich und deshalb aufzuklären ist. Eine Abschiebung in diesen Staat hält das Oberverwaltungsgericht vielmehr für zumutbar, ohne das mögliche Fehlen einer Integrationsfähigkeit sowie die Frage zu klären, ob sie im Libanon als alleinstehende Frau auf Unterstützung durch Familie oder Dritte zählen kann. Mit den Voraussetzungen für eine Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG hat sich das Oberverwaltungsgericht ebenfalls nicht beschäftigt.
Vor diesem Hintergrund hat das Oberverwaltungsgericht nicht nur das Bleibeinteresse der Beschwerdeführerin verfassungsrechtlich unzureichend bewertet, sondern auch das öffentliche Interesse an ihrer Abschiebung in den Libanon.
In Anbetracht des festgestellten Verstoßes gegen Art.19 Abs. 4 GG bedarf es keiner Entscheidung, ob die Würdigung des Oberverwaltungsgerichts zugleich gegen Art. 2 Abs. 1 GG oder gegen andere Grundrechte verstößt.
Die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg beruht auf dem festgestellten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberverwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe zu einer anderen, der Beschwerdeführerin günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Die Kammer hebt deshalb gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den angegriffenen Beschluss auf und verweist die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurück.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29. Januar 2020 – 2 BvR 690/19
- vgl. BVerfGE 35, 382, 401 f.; 69, 220, 227 f.; BVerfGK 5, 328, 334; 11, 179, 186 f.[↩]
- OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.03.2019 – OVG 3 S 90.18[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.10.2003 – 1 BvR 2025/03[↩]
- vgl. BVerfGE 18, 85, 92 f.; stRspr[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.02.2011 – 2 BvR 1392/10, Rn. 17[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.05.2007 – 2 BvR 304/07, Rn. 30 und 43 sowie Beschluss vom 21.02.2011 – 2 BvR 1392/10, Rn. 17 f.[↩]
- vgl. EGMR, GK, Slivenko v. Latvia, Urteil vom 09.10.2003, Nr. 48321/99, S. 96[↩]
- vgl. BVerfGK 11, 153, 159 f.; Thym, EuGRZ 2006, S. 541, 544; Discher, GK-AufenthG, vor §§ 53 ff., Juni 2009, Rn. 841 ff., m.w.N.; Hoppe, ZAR 2006, S. 125, 130[↩]
- vgl. BVerfGK 11, 153, 160; EGMR, Moustaquim v. Belgien, Urteil vom 18.02.1991, Nr. 12313/86; BVerwGE 106, 13, 21 m.w.N.; zum Ganzen vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.05.2007 – 2 BvR 304/07, Rn. 33[↩]
- vgl. BVerfGK 12, 37, 44; BVerwGE 133, 72, 82 ff.[↩]
- vgl. BVerwGE 133, 72, 84[↩]