Effektiver Rechtsschutz im Rehabilitierungsverfahren

Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verlangt das Ausschöpfung sämtlicher erfolgversprechender Erkenntnisquellen im Rehabilitierungsverfahren.

Effektiver Rechtsschutz im Rehabilitierungsverfahren

Das Rechtsstaatsprinzip enthält das Gebot, wirksamen Rechtsschutz zu gewähren, der grundsätzlich zu einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Verfahrensgegenstandes führen muss. Art. 2 Abs. 1 GG verleiht dem Einzelnen ein Recht auf effektiven Rechtsschutz. Dieses Recht ist verletzt, wenn die Gerichte die prozessrechtlichen Möglichkeiten etwa zur Sachverhaltsfeststellung so eng auslegen, dass ihnen eine sachliche Prüfung der ihnen vorgelegten Fragen nicht möglich ist und das vom Gesetzgeber verfolgte Verfahrensziel deshalb nicht erreicht werden kann1.

§ 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG verpflichtet die Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Dies erschien dem Gesetzgeber nicht nur wegen der Nähe zum Strafverfahren notwendig, sondern auch im Hinblick auf die besondere Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber den Antragstellern und wegen der Schwierigkeit erforderlich, die häufig in ferner Vergangenheit liegenden Sachverhalte zu ermitteln. Das Gericht muss deshalb die für seine Entscheidung erheblichen Tatsachen selbst prüfen2. Es muss Hinweisen auf eine mögliche politische Verfolgung oder sonstige sachfremde Gründe unter Ausnutzung aller ihm im Freibeweisverfahren zur Verfügung stehenden Mittel nachgehen. Da es hierzu von Amts wegen verpflichtet ist, sind an die Darlegung durch den Antragsteller keine allzu hohen Anforderungen zu stellen3. Das Gericht hat von sich aus – im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens – die zur Aufklärung des Sachverhalts notwendigen Maßnahmen zu treffen. Es hat – unterstützt von der Staatsanwaltschaft und durch die in § 10 Abs. 2 StrRehaG normierte Mitwirkungspflicht des Antragstellers – sämtliche Erkenntnisquellen zu verwenden, die erfahrungsgemäß dazu führen können, die Angaben eines Betroffenen zu bestätigen4.

Weiterlesen:
8 Spielgeräte je Spielhalle

Hält sich ein Rehabilitierungsgericht an die Tatsachenfeststellungen der Gerichte (oder Behörden) der ehemaligen DDR für gebunden, so verweigert es dem Betroffenen die von Rechtsstaats wegen geforderte Überprüfung erheblicher Tatsachen und verfehlt damit schlechterdings das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, zur Rehabilitierung politisch (Straf-)Verfolgter die fortdauernde Wirksamkeit von Urteilen dieser Gerichte (oder Entscheidungen dieser Behörden) zu durchbrechen. Ein solchermaßen ineffektives Rehabilitierungsverfahren steht in Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes5.

wenn das Gericht alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft hat, entscheidet es in freier Beweiswürdigung6. § 10 Abs. 2 StrRehaG fordert insoweit nicht den vollen Beweis, sondern lässt die Glaubhaftmachung genügen. Damit wird für das Rehabilitierungsverfahren ausdrücklich klargestellt, dass der Richter sich für seine Überzeugungsbildung mit einem geringeren Maß an Wahrscheinlichkeit begnügen kann. Es genügt eine überwiegende Wahrscheinlichkeit7. Die Nichterweislichkeit anspruchsbegründender Tatsachen geht allerdings zu Lasten des Antragstellers. Die Rehabilitierungsgerichte sind von Verfassungs wegen nicht gehalten, im Zweifel für den Antragsteller zu entscheiden. Der Grundsatz in dubio pro reo gilt nicht8.

Nach diesem Maßstab hat im hier entschiedenen Fall das Brandenburgische Oberlandesgericht9 seine Aufgabe zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verfehlt, indem es der ihm obliegenden Amtsermittlungspflicht nicht hinreichend nachgekommen ist10. Erheblich für die Rehabilitierungsentscheidung war hier die Frage, in welchen Zeiträumen, aus welchen Gründen und auf welcher Grundlage es zu der Unterbringung der Beschwerdeführerin in dem Durchgangsheim Bad Freienwalde gekommen ist (§ 2 Abs. 1 StrRehaG i.V.m. § 1 Abs. 1 StrRehaG). Das hat das Oberlandesgericht nicht aufgeklärt. Es ist den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Hinweisen auf eine mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbare Anordnung der Unterbringung im Durchgangsheim Bad Freienwalde nicht nachgegangen. Damit hat es der Beschwerdeführerin die von Rechtsstaats wegen geforderte Überprüfung erheblicher Tatsachen verweigert.

Weiterlesen:
Corona - und keine rechtmäßige Schließung eines Hundesalons

Die Beschwerdeführerin hat geltend gemacht, sie sei entgegen den Feststellungen im Beschluss des Jugendhilfeausschusses vom 29.09.1980 bereits ab Juni 1980 in dem Durchgangsheim Bad Freienwalde festgehalten worden, ohne dass ihre Eltern über ihren Verbleib informiert worden seien.

Nach dem im maßgeblichen Zeitraum geltenden Recht der ehemaligen DDR war die Heimerziehung durch Beschluss des Jugendhilfeausschusses des Rates des Kreises anzuordnen (§ 23 Abs. 1 Buchstabe f i.V.m. § 16 Abs. 1 der Verordnung über die Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Jugendhilfe, DDR-GBl II S. 215, im Folgenden auch Jugendhilfeverordnung oder JHVO). Der Jugendhilfeausschuss bei dem Rat des Kreises war ein (Kollegial-)Organ der Jugendhilfe (§ 4 Abs. 1 Buchstabe b, § 16 Abs. 1 JHVO). Er setzte sich aus drei bis fünf in der Erziehungsarbeit erfahrenen; und vom Rat des Kreises berufenen Bürgern zusammen; seinen Vorsitz führte der Leiter des Referats Jugendhilfe (§ 16 Abs. 2 JHVO).

Der Leiter des Referats Jugendhilfe konnte vorläufige Verfügungen treffen, wenn im Interesse eines Minderjährigen sofortiges Handeln erforderlich war, § 22 Abs. 1 JHVO. Die Verfügungen mussten schriftlich niedergelegt werden und verloren nach acht Wochen ihre Wirksamkeit (§ 22 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 JHVO). In der Praxis kam es vor, dass bei der Unterbringung in einem Durchgangsheim keine vorläufige Verfügung eingeholt oder die Frist des § 22 Abs. 1 JHVO überschritten wurde11, S. 160 f., 171 ff., S.195)).

Wenn der Vortrag der Beschwerdeführerin – was nicht von vornherein ausgeschlossen erscheint – zutrifft und die Feststellung in dem Beschluss des Jugendhilfeausschusses, wonach sie sich (erst) seit dem 10.09.1980 aufgrund einer vorläufigen Verfügung in dem Durchgangsheim befunden habe, folglich unrichtig ist, wurde sie jedenfalls ab dem 1.06.1980 ohne die erforderliche vorläufige Verfügung in dem Durchgangsheim Bad Freienwalde festgehalten.

Weiterlesen:
Der Kampf gegen die 800 m² - Regelung

Das ließe schon wegen der unrichtigen Feststellung in dem Beschluss des Jugendhilfeausschusses und wegen der nach dem Recht der ehemaligen DDR fehlenden Voraussetzungen für eine Unterbringung auf sachfremde Gründe im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG schließen12. Mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar ist jedenfalls eine durch die Anordnung der Unterbringung in einem Heim für Kinder und Jugendliche bewirkte Freiheitsentziehung, die ohne Beachtung der nach dem Recht der ehemaligen DDR erforderlichen Voraussetzungen durch eine unzuständige Stelle und ohne Information der erziehungsberechtigten Eltern über den Verbleib des Kindes oder Jugendlichen erfolgt, § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 StrRehaG13.

Die Beschwerdeführerin hat ferner geltend gemacht, sie sei entgegen der Anordnung des Jugendhilfeausschusses nicht aus dem Durchgangsheim nach Hause entlassen, sondern bis zur Verlegung in den Jugendwerkhof am 2.12 1980 dort weitere zwei Monate festgehalten worden. Da der zuständige Jugendhilfeausschuss am 29.09.1980 festgestellt hatte, dass sie nach Hause zu entlassen sei, lässt der Umstand, dass sie – ihren Vortrag unterstellt – gleichwohl weiter in dem Heim festgehalten wurde, darauf schließen, dass dies nicht aus Gründen der Jugendfürsorge, sondern aus anderen, mithin sachfremden Gründen im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG erfolgt ist, und damit mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar war (§ 2 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG).

Weiterlesen:
Die Tierschutzorganisation - und ihre Verbandsklageberechtigung

Das Oberlandesgericht hat aber Versuche, den Sachverhalt in Bezug auf die Unterbringung der Beschwerdeführerin in dem Durchgangsheim Bad Freienwalde weiter aufzuklären, von vornherein nicht in Betracht gezogen und ist damit seiner Aufgabe zur Amtsermittlung nicht hinreichend nachgekommen.

Der Vortrag der Beschwerdeführerin hätte das Oberlandesgericht zunächst veranlassen müssen, der Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 und 2 StrRehaG aufzugeben, eine Sachverhaltsdarstellung ihrer Eltern und anderer in Betracht kommender Zeugen – wie beispielsweise ihrer Schwester – einzureichen, und diese gegebenenfalls zu vernehmen. So hätte sich möglicherweise ermitteln lassen, wo der Onkel der Beschwerdeführerin tätig war und ob und wann die Beschwerdeführerin sich – wie sie geltend macht – zeitweise bei ihm aufgehalten hatte, wann die erziehungsberechtigte Mutter der Beschwerdeführerin von ihrer Unterbringung in dem Durchgangsheim Kenntnis erlangt hatte, sowie ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen die Beschwerdeführerin nach Erlass des Beschlusses des Jugendhilfeausschusses in dem Durchgangsheim Bad Freienwalde verblieben war.

Ferner hätte es nahegelegen, durch eine Anfrage bei dem Landkreis Märkisch-Oderland zu klären, ob dort Unterlagen des Durchgangsheims Bad Freienwalde vorhanden sind, aus denen sich Hinweise auf einen Aufenthalt der Beschwerdeführerin ergeben könnten. Eine solche Anfrage hätte – wie sich dem kurz nach Erlass des angegriffenen Beschlusses bei dem Oberlandesgericht eingegangenen Recherchebericht der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur zum Durchgangsheim Bad Freienwalde vom September 2011 entnehmen lässt – zu der Ermittlung des Arrestbuches des Durchgangsheims geführt, dessen Eintragungen auch den hier fraglichen Zeitraum umfassen. Das Arrestbuch hätte sodann daraufhin überprüft werden können, ob sich aus ihm Hinweise auf eine Unterbringung der Beschwerdeführerin in dem Durchgangsheim Bad Freienwalde in der Zeit zwischen Mai und Dezember 1980 ergeben. Sollten sich Einträge aus dem Zeitraum vor dem 10.09.1980 finden, wäre damit zugleich belegt, dass die in dem Beschluss des Jugendhilfeausschusses vom 29.09.1980 enthaltene Feststellung, die Beschwerdeführerin habe sich (erst) seit dem 10.09.1980 in dem Durchgangsheim befunden, unzutreffend ist.

Weiterlesen:
Die mißlungene LPG-Umstrukturierung

Ein weiterer Ermittlungsanhalt stellte die Angabe der Beschwerdeführerin dar, sie sei während der Zeit in dem Durchgangsheim Bad Freienwalde von einer Erzieherin namens B… betreut worden. Durch eine Nachfrage bei der Beschwerdeführerin hätte geklärt werden können, ob ihr zur Ermittlung der Zeugin geeignete genauere Angaben möglich sind.

Schließlich hatte die Beschwerdeführerin angegeben, sie habe sich Ende Mai 1980 in der Gefangenenabteilung des Krankenhauses Berlin-Buch befunden und sei von dort nach Bad Freienwalde gebracht worden. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich in entsprechenden Archiven Hinweise auf dort behandelte Gefangene befinden, die geeignet wären, diese Angabe der Beschwerdeführerin zu bestätigen. Es hätte daher nahegelegen, durch eine Anfrage zu klären, ob solche Unterlagen – wie beispielsweise Gefangenenbücher, Einlieferungslisten oder Patientenakten – (noch) vorhanden sind.

Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 18.08.2011 ist wegen des Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Sache ist im Umfang der Aufhebung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 18. Dezember 2014 – 2 BvR 2063/11

  1. BVerfG, Beschluss vom 03.05.1995 – 2 BvR 1023/9419; Beschluss vom 24.09.2014 – 2 BvR 2782/10 52[]
  2. vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.05.1995 – 2 BvR 1023/9420[]
  3. vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.05.1995 – 2 BvR 1023/9420; Herzler, in: Herzler/Ladner/Peifer/Schwarze/Wende, Rehabilitierung, 2. Aufl.1997, § 10 StrRehaG Rn. 5, Rn. 8 a.E.[]
  4. BVerfGK 4, 119, 129 zu einer Rehabilitierung wegen einer Einweisung in die Psychiatrie; BVerfG, Beschluss vom 24.09.2014 – 2 BvR 2782/10 53[]
  5. vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.05.1995 – 2 BvR 1023/9420; Beschluss vom 24.09.2014 – 2 BvR 2782/10 54[]
  6. Herzler, in: Herzler/Ladner/Peifer/Schwarze/Wende, Rehabilitierung, 2. Aufl.1997, § 10 StrRehaG Rn. 7[]
  7. vgl. Herzler, a.a.O., § 10 StrRehaG Rn. 10[]
  8. vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.02.2000 – 2 BvR 1601/94 2; Beschluss vom 24.09.2014 – 2 BvR 2782/10 55[]
  9. OLG Brandenburg, Beschluss vom 18.08.2011 – 2 WS (Reha) 13/11[]
  10. vgl. BVerfGK 4, 119, 130; BVerfG, Beschluss vom 24.09.2014 – 2 BvR 2782/10 56 ff.[]
  11. vgl. Wapler, Rechtsfragen der Heimerziehung in der DDR, in: Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR – Expertisen – hrsgg. von dem Beauftragten der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer, März 2012, S. 34 ff., S. 54; Sachse, Der letzte Schliff, Jugendhilfe der DDR im Dienst der Disziplinierung von Kindern und Jugendlichen ((1945 – 1989[]
  12. vgl. auch OLG Brandenburg, Beschluss vom 12.08.1996 – 1 Ws (Reha) 158/95, VIZ 1997, S. 317, 319 zu einer Unterbringung in der Psychiatrie; Schwarze, in: Herzler/Ladner/Peifer/Schwarze/Wende, Rehabilitierung, 2. Aufl.1997, § 1 StrRehaG Rn. 255[]
  13. vgl. auch Schwarze, in: Herzler/Ladner/Peifer/Schwarze/Wende, Rehabilitierung, 2. Aufl.1997, § 1 StrRehaG Rn. 160; Mützel, ZOV 2013, S. 98, 112[]
Weiterlesen:
E-Zigaretten - und ihre Einordnung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte