Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen gemäß der „Stromrichtlinie“ 2003/54 und der „Gasrichtlinie“ 2003/55 in Bezug auf die Transparenz der allgemeinen Vertragsbedingungen einen hohen Verbraucherschutz gewährleisten. Die deutsche Regelung sieht bei Verbrauchern, die im Rahmen der allgemeinen Versorgungspflicht mit Strom und Gas beliefert werden, keine rechtzeitige Information vor Inkrafttreten jeder Preiserhöhung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang vor und verstößt damit gegen die Richtlinien der Europäischen Union.

Dies entschied jetzt der Gerichtshof der Europäischen Union auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs.
Der Bundesgerichtshof ist mit zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen Strom- und Gaskunden und ihren Versorgern betreffend mehrere Preiserhöhungen in den Jahren 2005 bis 2008 befasst. Die Kunden sind der Ansicht, dass diese Erhöhungen unbillig gewesen seien und auf rechtswidrigen Klauseln beruht hätten. Die Kunden fallen unter die allgemeine Versorgungspflicht als Tarifkunden. In diesem Fall muss der Versorger im Rahmen der durch die nationalen Rechtsvorschriften auferlegten Verpflichtungen zu den in diesen Rechtsvorschriften vorgesehenen Bedingungen mit den Kunden, die darum ersuchen und die dazu berechtigt sind, Verträge schließen.
Die allgemeinen Bedingungen der mit Verbrauchern geschlossenen Verträge waren durch die im maßgeblichen Zeitraum geltende deutsche Regelung (Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden (AVBGasV)1, Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden (AVBEltV)2 und Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Grundversorgung von Haushaltskunden und nachfolgend die Ersatzversorgung mit Elektrizität aus dem Niederspannungsnetz (Stromgrundversorgungsverordnung – StromGVV)3) bestimmt und aufgrund dieser Regelung unmittelbarer Bestandteil der mit den Tarifkunden geschlossenen Verträge. Die Regelung erlaubte es den Versorgern, die Strom- und Gaspreise einseitig zu ändern, ohne den Anlass, die Voraussetzungen oder den Umfang der Änderung anzugeben, stellte jedoch sicher, dass die Kunden über die Preiserhöhung benachrichtigt wurden und den Vertrag gegebenenfalls kündigen konnten.
Nach Auffassung des Gerichtshof der Europäischen Union stehen die „Stromrichtlinie“ 2003/544 und die „Gasrichtlinie“ 2003/555 einer nationalen Regelung (wie der vorliegend in Rede stehenden deutschen Regelung) entgegen, die den Inhalt von Strom- und Gaslieferungsverträgen mit Verbrauchern, die unter die allgemeine Versorgungspflicht fallen, bestimmt und für die Versorger die Möglichkeit vorsieht, den Tarif dieser Lieferungen zu ändern, ohne jedoch zu gewährleisten, dass die Verbraucher rechtzeitig vor Inkrafttreten der Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden.
Zur Informationspflicht gegenüber Kunden, für die ein Sondertarif gilt (Sonderkunden) hatte der Unionsgerichtshof bereits im letzten Jahr entschieden6, dass die dem Verbraucher vor Vertragsschluss in transparenter Weise übermittelten Informationen zum Anlass und zum Modus einer Änderung der Entgelte für die Gasversorgung von wesentlicher Bedeutung sind. Diese Feststellung gilt jedoch nicht für die Verträge, die – wie hier – mit Kunden geschlossen wurden, die unter den Standardtarif fallen. Die mit den betreffenden Kunden in der Rechtssache „RWE Vertrieb“ (Sonderkunden) geschlossenen Verträge wurden nämlich nicht nur durch die Richtlinie 2003/55 geregelt, sondern auch durch die Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29). Der Inhalt der mit den Tarifkunden geschlossenen Verträge wird aber durch bindende deutsche Rechtsvorschriften bestimmt, so dass die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln auf sie nicht anwendbar ist.
Der Unionsgerichtshof weist in seinem Urteil insbesondere darauf hin, dass die Mitgliedstaaten gemäß diesen beiden Richtlinien in Bezug auf die Transparenz der allgemeinen Vertragsbedingungen einen hohen Verbraucherschutz gewährleisten müssen. Weiterhin stellt der Gerichtshof der Europäischen Union fest, dass den Kunden neben ihrem (in den Richtlinien für den Fall einer Preisänderung vorgesehenen) Recht, sich vom Liefervertrag zu lösen, auch die Befugnis erteilt werden muss, gegen eine solche Änderung vorzugehen.
Um diese Rechte in vollem Umfang und tatsächlich nutzen und in voller Sachkenntnis eine Entscheidung über eine mögliche Lösung vom Vertrag oder ein Vorgehen gegen die Änderung des Lieferpreises treffen zu können, müssen die unter die allgemeine Versorgungspflicht fallenden Kunden rechtzeitig vor dem Inkrafttreten der Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden.
Den Antrag, die finanziellen Folgen des Urteils so weit wie möglich zu beschränken, weist der Unionsgerichtshof zurück und lehnt damit eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen seines Urteils ab. Hierzu stellt der Gerichtshof der Europäischen Union insbesondere fest, dass nicht dargelegt wurde, dass die Infragestellung der Rechtsverhältnisse, deren Wirkungen sich in der Vergangenheit erschöpft haben, rückwirkend die gesamte Branche der Strom- und Gasversorgung in Deutschland erschüttern würde. Die Auslegung der Richtlinien 2003/54 und 2003/55 gilt somit für alle im zeitlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinien erfolgten Änderungen. Diese Richtlinien sind am 4. August 2003 in Kraft getreten und mussten bis spätestens 1. Juli 2004 in nationales Recht umgesetzt werden. Sie wurden mit Wirkung zum 3. März 2011 aufgehoben (siehe oben).
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 23. Oktober 2014 – C-359/11 und C-400/11, Alexandra Schulz/Technische Werke Schussental GmbH und Co. KG sowie
Josef Egbringhoff/Stadtwerke Ahaus GmbH
- vom 21. Juni 1979, BGBl. 1979 I, S. 676[↩]
- vom 21. Juni 1979, BGBl. 1979 I, S. 684[↩]
- vom 26. Oktober 2006, BGBl. 2006 I, S. 2391[↩]
- Richtlinie 2003/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG, ABl. L 176, S. 37, ber. ABl. 2004, L 16, S. 74; aufgehoben durch die Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. L 211, S. 55[↩]
- Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG, ABl. L 176, S. 57, aufgehoben durch die Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt, ABl. L 211, S. 94[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 21.03.2013 – C-92/11, RWE Vertrieb[↩]