Die unzulässige Verbrauchsschätzung – und ihre Folgen für die Gas- und Stromlieferung

Beruhen die Schlussrechnungen des Gasversorgers oder Stromversorgungsunternehmens auf einer Verbrauchsschätzung, zu der das Versorgungsunternehmen nicht berechtigt war, so führt dies nicht zu einem Forderungsausschluss auf Seiten des Versorgers, sondern hat nur zur Folge, dass der Stromversorger bzw. Gasversorger den seinen Schlussrechnungen zugrunde gelegten, bestrittenen Verbrauch des Kunden gemäß §§ 286, 287 ZPO zur Überzeugung des Gerichts nachweisen muss.

Die unzulässige Verbrauchsschätzung – und ihre Folgen für die Gas- und Stromlieferung

Schätzungsbefugnis

Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 StromGVV/GasGVV darf der Grundversorger, wenn der Netzbetreiber oder der Grundversorger das Grundstück oder die Räume des Kunden nicht zum Zwecke der Ablesung betreten kann, den Verbrauch auf der Grundlage der letzten Ablesung unter angemessener Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse schätzen. Dasselbe gilt gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 StromGVV/GasGVV, wenn der Kunde eine vereinbarte Selbstablesung nicht oder verspätet vornimmt.

§ 11 Abs. 1 StromGVV/GasGVV erlaubt es dem Grundversorger, für Zwecke der Abrechnung die Ablesedaten zu verwenden, die er von dem Netzbetreiber oder vom Messstellenbetreiber oder von dem die Messung durchführenden Dritten erhalten hat. Wie bereits der Wortlaut dieser Vorschrift zeigt, erstreckt sich die Berechtigung nur auf Ablesedaten, also auf Daten, die im Wege der Ablesung gewonnen worden sind. Die Regelung, dass der Grundversorger auch Ablesedaten des Messstellenbetreibers oder des die Messung durchführenden Dritten verwenden darf, weist ebenso darauf hin, dass nur Daten erfasst sind, die durch eine Ablesung und nicht durch bloße Schätzung erlangt worden sind. Diese Auslegung wird durch den Zweck der Vorschrift gestützt. Denn durch die Berechtigung des Grundversorgers, bereits vorliegende Ablesedaten zu verwenden, sollen die Kosten unnötiger Doppelablesungen vermieden werden1. Die Gefahr einer unnötigen Doppelablesung besteht jedoch nicht, wenn dem Grundversorger nur Schätzwerte übermittelt worden sind.

Für den Grundversorger ist in einem solchen Fall auch ersichtlich, dass noch keine Ablesung durchgeführt worden ist. Denn gemäß Kapitel III Ziffer 5.0.2. der Anlage 2 zu dem Beschluss BK609034 der Bundesnetzagentur hat der Netzbetreiber eine Ersatzwertbildung in geeigneter Weise kenntlich zu machen. Das ist hier auch beachtet worden. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass auf den von der Beklagten vorgelegten Ausdrucken unter der Spalte „Werttyp“ jeweils „Ersatzwert – geschätzt“ eingetragen ist.

Der Grundversorger ist somit bei der Übermittlung bloßer Schätzwerte seitens des Netzbetreibers nicht von einer eigenen Verbrauchserfassung entbunden. Das die Verwendung fremder Ablesedaten (§ 11 Abs. 1 StromGVV/GasGVV) ergänzende eigene Ablesungsrecht des Grundversorgers nach § 11 Abs. 2 StromGVV/GasGVV ist gerade für den Fall geschaffen worden, dass dem Grundversorger – etwa anlässlich eines Lieferantenwechsels – Ablesedaten Dritter nicht zur Verfügung stehen1.

Abrechnung aufgrund einer unzulässigen Verbrauchsschätzung

Eine unzulässige Verbrauchsschätzung führt aber nicht dazu, dass das Versorgungsunternehmen überhaupt nicht mehr abrechnen könnte. Im Gegensatz zu der vom Berufungsgericht erwähnten mietrechtlichen Ausschlussvorschrift des § 556 Abs. 3 Satz 3 BGB enthält die StromGVV/GasGVV keine Sanktionsbestimmung, die es dem Versorgungsunternehmen von vornherein verwehren würde, eine auf einer unzulässigen Schätzung beruhende Forderung gerichtlich geltend zu machen.

Wenn eine vorprozessuale Verbrauchsschätzung durch das Versorgungsunternehmen unzulässig war und eine Ablesung der Zählerstände nicht mehr möglich ist, muss das Versorgungsunternehmen den tatsächlichen Verbrauch, sofern er bestritten ist, im gerichtlichen Verfahren zur Überzeugung des Tatrichters nachweisen2. Dabei ist, wenn eine exakte Ermittlung des tatsächlichen Verbrauchs auf andere Weise nicht möglich ist, eine gerichtliche Schätzung nach § 287 ZPO zulässig, sofern der Vortrag der Parteien eine hinreichende Grundlage für eine tatrichterliche Schätzung des Verbrauchs bietet3.

Die gerichtliche Schätzung ist nicht mit einer (ordnungsgemäßen) Schätzung nach § 11 Abs. 3 StromGVV/GasGVV identisch. Zum einen kann sie als unparteiische, häufig durch einen Sachverständigen unterstützte Schätzung eine höhere Richtigkeitsgewähr für sich beanspruchen als die vorprozessuale Schätzung des Versorgers. Zum anderen dient sie nur der Beweiserleichterung für den Versorger mit dem Risiko, dass mit ihr unter Umständen nur der Mindestumfang des Anspruchs ermittelt werden kann4.

Eine gerichtliche Schätzung nach § 287 ZPO läuft auch nicht den Intentionen der StromGVV/GasGVV zuwider. Zwar trifft es zu, dass der Verbrauch vom Versorger nur unter den Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 StromGVV/GasGVV geschätzt werden darf. Das steht jedoch einer gerichtlichen Überprüfung, ob und inwieweit die – wenn auch unzulässige – vorprozessuale Schätzung des tatsächlichen Verbrauchs zutrifft, nicht entgegen und hindert nicht daran, dem Versorger bei dem ihm obliegenden Nachweis des tatsächlichen Verbrauchs die Beweiserleichterung des § 287 Abs. 2 ZPO zugutekommen zu lassen.

Die Auffassung, es bestehe die Gefahr, dass die Versorgungsunternehmen im Vertrauen darauf, dass es ohnehin zu einer Verbrauchsschätzung nach § 287 ZPO durch die Gerichte kommen werde, den Verbrauch stets schätzen könnten, auch wenn die Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 StromGVV/GasGVV nicht gegeben seien, vermag der Bundesgerichtshof nicht zu teilen. Ein Interesse der Versorgungsunternehmen, durch unzulässige Schätzungen massenhaft Gerichtsverfahren mit allen Risiken für die Beweisführung zu provozieren, erscheint fernliegend. Hätte der Gesetzgeber die vom Berufungsgericht gesehene Gefahr ebenso eingeschätzt wie das Berufungsgericht, so hätte es nahe gelegen, eine unzulässige vorprozessuale Verbrauchsschätzung durch einen Forderungsausschluss zu sanktionieren. An einer solchen Bestimmung fehlt es jedoch. Sie kann nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung geschaffen werden.

Fälligkeit der auf der unzulässigen Verbrauchsschätzung beruhenden Verbrauchsrechnung

Der Bundesgerichtshof erteilt der Auffassung eine Absage, dass die Forderungen des Versrogungsunternehmens aus den Verbrauchsabrechnungen wegen der unzulässigen Verbrauchsschätzung nicht fällig wären. § 17 Abs. 1 StromGVV/GasGVV knüpft die Fälligkeit der Strom- beziehungsweise Gasrechnungen lediglich an deren Zugang beim Abnehmer und an bestimmte Fristen5.

Ob die vom Versorgungsunternehmen angesetzten Werte dem tatsächlichen Verbrauch entsprechen, berührt dagegen allein die materielle Richtigkeit der Abrechnung6. Einwände dagegen berechtigen nur unter den Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 Satz 2 StromGVV/GasGVV zur Zahlungsverweigerung7.

Auch aus § 12 StromGVV/GasGVV ergeben sich keine weiter gehenden Voraussetzungen für die Fälligkeit der Forderung. Gemäß § 12 StromGVV/GasGVV in der bis zum 9.05.2012 geltenden Fassung wird der Elektrizitätsverbrauch nach Maßgabe des § 40 Abs. 2 EnWG abgerechnet. Die Lieferanten sind gemäß § 40 Abs. 2 EnWG in der bis zum 3.08.2011 geltenden Fassung verpflichtet, den Energieverbrauch nach ihrer Wahl monatlich oder in anderen Zeitabschnitten, die jedoch zwölf Monate nicht wesentlich überschreiten dürfen, abzurechnen. Sofern der Letztverbraucher dies wünscht, ist der Lieferant verpflichtet, eine monatliche, vierteljährliche oder halbjährliche Abrechnung zu vereinbaren. Die Vorschrift regelt somit nur den Zeitpunkt der Abrechnungspflicht. Dieser ist aber unabhängig von der Fälligkeit des sich aus der Abrechnung ergebenden Zahlungsanspruchs des Lieferanten und sagt darüber nichts aus8.

Rückforderung bereits erfolgter Zahlungen

Zwar kann nach § 813 Abs. 1 Satz 1 BGB das (mit rechtlichem Grund) zum Zwecke der Erfüllung Geleistete auch dann zurückgefordert werden, wenn dem Anspruch eine Einrede entgegensteht, durch welche die Geltendmachung des Anspruchs dauerhaft ausgeschlossen wurde. Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor, wenn die aufgrund der unzulässigen Verbrauchsschätzung erstellte Rechnung vom Kunden (etwa unter dem Druck einer angedrohten Stromsperre/Gassperre) bezahlt wurde. Die unzulässige Verbrauchsschätzung durch die Beklagte hat nicht zur Folge, dass der Kläger nach § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV/GasGVV zur Zahlungsverweigerung berechtigt wäre.

Die Auffassung, dass bereits durch die unzulässige Abrechnung nach dem geschätzten Verbrauch die ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers bestehe und der Kläger deshalb gegenüber der Beklagten nach § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV/GasGVV zur Zahlungsverweigerung berechtigt sei, trifft nicht zu. Die offensichtliche Fehlerhaftigkeit einer Rechnung des Versorgers begründet, wie der Bundesgerichtshof bereits zu § 30 Nr. 1 AVBFernwärmeV entschieden hat, nur dann ein Recht zur Zahlungsverweigerung, wenn sie zu einer den Kunden benachteiligenden objektiven Unrichtigkeit der Rechnung, also zu einer Zuvielforderung führt9. Für § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV/GasGVV gilt nichts anderes.

Die bloße Berufung auf die Unzulässigkeit der vorprozessualen Schätzung und das Bestreiten der Höhe der von der Beklagten geltend gemachten Forderung reichen hierfür nicht aus. Zudem würde selbst eine offensichtliche Zuvielforderung nicht zur vollständigen Zahlungsverweigerung berechtigen; nur der (Teil-)Betrag, der offensichtlich fehlerhaft in Rechnung gestellt worden ist, kann zurückbehalten werden10.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 16. Oktober 2013 – VIII ZR 243/12

  1. BR-Drucks. 306/06, S. 32[][]
  2. vgl. OLG Hamm, NJW-RR 2007, 1650, 1651; OLG Düsseldorf, RdE 2009, 227, 228[]
  3. vgl. BGH, Urteil vom 17.11.2010 – VIII ZR 112/10, WuM 2011, 21 Rn. 13[]
  4. vgl. BGH, Urteil vom 05.07.1967 – VIII ZR 64/65[]
  5. vgl. BGH, Urteil vom 06.12.1989 – VIII ZR 8/89, aaO unter B I 2 c; Morell, GasGVV, Stand Februar 2009, § 17 Rn. 1 ff.[]
  6. vgl. BGH, Urteil vom 28.05.2008 – VIII ZR 261/07, NJW 2008, 2260 Rn. 14[]
  7. vgl. BGH, Urteil vom 21.11.2012 – VIII ZR 17/12, CuR 2013, 19 Rn. 11 ff. zu § 30 AVBEltV, AVBWasserV und AVBFernwärmeV[]
  8. Hempel/Franke, Recht der Energie- und Wasserversorgung, Stand Dezember 2003, § 24 AVBEltV Rn. 12[]
  9. BGH, Urteil vom 06.12.1989 – VIII ZR 8/89, WM 1990, 608 unter B I 2 a mwN[]
  10. Morell, AVBGasV, Stand August 1996, § 30 Anm. d aE[]