Das nicht allgemein anerkannte ärztliche Behandlungskonzept

Mit der Anwendung eines nicht allgemein anerkannten, den Korridor des medizinischen Standards verlassenden Behandlungskonzepts und dem Umfang der hierfür erforderlichen Aufklärung des Patienten hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen:

Das nicht allgemein anerkannte ärztliche Behandlungskonzept

Die Anwendung eines nicht allgemein anerkannten, den Korridor des medizinischen Standards verlassenden Behandlungskonzepts (alternativen Behandlungsmethode) stellt nicht ohne weiteres einen Behandlungsfehler dar1. Denn die Therapiewahl ist primär Sache des Arztes, dem die Rechtsprechung bei seiner Entscheidung grundsätzlich einen weiten Beurteilungsspielraum einräumt. Der Arzt ist bei der Wahl der Therapie insbesondere nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt2.

Allerdings darf eine nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethode nur dann angewendet werden, wenn eine verantwortliche medizinische Abwägung unter Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der standardgemäßen Behandlung unter Berücksichtigung des Wohles des Patienten die Anwendung dieser Methode rechtfertigt3.

Höhere Belastungen oder Risiken für den Patienten müssen in den Besonderheiten des konkreten Falles oder in einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden4.

Diese Grundsätze hatte das Berufungsgericht5 im hier entschiedenen Fall nicht beachtet. Statt die Entscheidung des für das beklagte Krankenhaus tätig gewordenen Neurochirurgen Dr. M., die Fusionsoperation auf das symptomlose Nachbarsegment C4/C5 zu erstrecken, anhand des soeben aufgezeigten Maßstabs auf ihre Vertretbarkeit zu überprüfen6, hat es die Wahl dieses nicht allgemein anerkannten Behandlungskonzepts rechtsfehlerhaft allein deshalb für zulässig gehalten, weil die Patientin über den präventiven Charakter des bisegmentalen Vorgehens informiert worden sei. Dementsprechend hat es auch nicht die für die Beurteilung der Frage erforderlichen Feststellungen getroffen, wie der Vorteil des bisegmentalen Vorgehens die Vermeidung der Gefahr einer stärkeren Belastung des Segmentes C4/C5 im Verhältnis zu den damit einhergehenden Nachteilen etwa den aufgrund der Fusionierung eines zusätzlichen Segmentes abzusehenden Problemen in den weiter anliegenden Nachbarsegmenten im vorliegenden Fall zu gewichten ist. Wie das Berufungsgericht im angefochtenen Urteil ausgeführt hat, hatte der Sachverständige diese Probleme dahingehend näher beschrieben, dass die Belastung für die weiteren Nachbarsegmente erhöht werde, weshalb es zu einer Anschlussdegeneration kommen könne. Durch die Ausdehnung der Operation auf das Nachbarsegment werde die Statik in größerem Maße verändert. Wie die Revision zu Recht geltend macht, hatte auch die von der Haftpflichtversicherung des Krankenhauses beauftragte Privatgutachterin Prof. Dr. S., deren Ausführungen sich die Patientin in den Vorinstanzen zu Eigen gemacht hat, auf die durch die bisegmentale Fusion hervorgerufene vermehrte Belastung der angrenzenden Segmente, die zu einer Anschlussmorbidität mit vorzeitiger Degeneration führen könne, hingewiesen und als mögliche weitere Folgen Nacken/Hinterkopfschmerzen und Bewegungseinschränkungen angegeben.

Zwar hat das Berufungsgericht ausgeführt, der Sachverständige gehe davon aus, dass der Operateur im Streitfall aufgrund des intraoperativen Befundes zu der Einschätzung gekommen sei, dass bei einer Fusionierung von C5/C6 das Risiko für das Nachbarsegment C4/C5 höher gewesen sei als das für die weiteren Nachbarsegmente; es sei nicht unüblich, dass man das Ausmaß der Operation vom intraoperativen Befund abhängig mache und man das Vorgehen nicht allein aufgrund des bildmorphologischen Befundes bestimme. Hiermit hat das Berufungsgericht aber nicht die Feststellung getroffen, dass der Operateur tatsächlich zu dieser Einschätzung gekommen ist und kommen durfte. Denn es hat im unmittelbaren Anschluss unter Bezugnahme auf die weiteren Ausführungen des Sachverständigen festgestellt, dass nur eine intraoperativ festgestellte Instabilität ein bisegmentales Vorgehen rechtfertige. Eine solche Instabilität ergebe sich aus dem Operationsbericht jedoch nicht; die im Bericht beschriebene Degeneration reiche für die Indikation nicht aus.

Aus diesem Grund hat das Berufungsgericht seine Entscheidung auch nicht auf intraoperativ festgestellte Befunde, sondern darauf gestützt, dass nach der Mindermeinung allein der bildmorphologische Befund einer beginnenden Degeneration als Indikation für die prophylaktische Fusion eines symptomlosen Nachbarsegmentes genüge.

Mit der Begründung des Berufungsgerichts kann auch eine Haftung wegen unzureichender Aufklärung nicht verneint werden. Das Berufungsgericht hat insoweit zu geringe Anforderungen an die Aufklärung des Patienten bei der Wahl einer Außenseitermethode gestellt.

Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfordert die Anwendung einer nicht allgemein anerkannten Methode zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten dessen Aufklärung über das Für und Wider dieser Methode. Dem Patienten müssen nicht nur die Risiken und die Gefahr eines Misserfolges des Eingriffs erläutert werden, sondern er ist auch darüber aufzuklären, dass der geplante Eingriff (noch) nicht medizinischer Standard ist. Der Patient muss wissen, auf was er sich einlässt, um abwägen zu können, ob er die Risiken einer (eventuell nur relativ indizierten) Behandlung im Hinblick auf deren Erfolgsaussichten und auf seine Befindlichkeit vor dem Eingriff eingehen will7.

Das Berufungsgericht hat im Widerspruch hierzu eine Aufklärung über den präventiven Charakter des in der konkreten Behandlungssituation nur von einer Mindermeinung befürworteten bisegmentalen Vorgehens ausreichen lassen; eine Aufklärung über die mit der Anwendung dieser Behandlungsmethode verbundenen Nachteile sowie darüber, dass diese Methode nicht dem medizinischen Standard entspricht, hat es dagegen rechtsfehlerhaft für entbehrlich gehalten. Es hat dementsprechend keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Patientin vor dem Eingriff darüber aufgeklärt worden ist, dass die Erstreckung der Fusionsoperation auf das symptomlose Nachbarsegment C4/C5 zu einer erhöhten Belastung für die weiteren Nachbarsegmente führt und es zu Anschlussdegenerationen kommen kann. Es hat auch nicht festgestellt, dass die Patientin darauf hingewiesen worden ist, dass die Fusion des symptomlosen Nachbarsegmentes dem medizinischen Standard zuwiderlief.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 15. Oktober 2019 – VI ZR 105/18

  1. vgl. BGH, Urteile vom 13.06.2006 – VI ZR 323/04, BGHZ 168, 103 Rn. 6 Robodoc; vom 27.03.2007 – VI ZR 55/05, BGHZ 172, 1 Rn. 11 Medikament gegen Epilepsie; vom 22.05.2007 – VI ZR 35/06, BGHZ 172, 254 Rn. 12 Racz-Katheter; vom 30.05.2017 – VI ZR 203/16, VersR 2017, 1142 Rn. 6 Störfeldbeseitigung[]
  2. vgl. BGH, Urteile vom 22.05.2007 – VI ZR 35/06, BGHZ 172, 254 Rn. 13; vom 07.07.1987 – VI ZR 146/86, VersR 1988, 82 6; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl., Rn. B 35; Laufs in Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., § 3 Rn. 14 ff.; Katzenmeier in Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Aufl., Kapitel – X Rn. 83 ff.; Katzenmeier, NJW 2006, 2738, 2739[]
  3. vgl. BGH, Urteile vom 13.06.2006 – VI ZR 323/04, BGHZ 168, 103 Rn. 6; vom 27.03.2007 – VI ZR 55/05, BGHZ 172, 1 Rn. 11, 17 f.; vom 30.05.2017 – VI ZR 203/16, VersR 2017, 1142 Rn. 7 Störfeldbeseitigung; Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., Rn. 484, 486, 511, 673, 690, 693; ders. in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., § 3 Rn. 17; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 310 f.; ders. in Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Aufl., Rn. – X 94 ff.[]
  4. vgl. BGH, Urteile vom 22.05.2007 – VI ZR 35/06, BGHZ 172, 254, Rn. 13; vom 07.07.1987 – VI ZR 146/86, VersR 1988, 82 6; Staudinger/Hager (2009) BGB § 823 Rn. – I 39; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 311; ders. in Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Aufl., Rn. – X 94 ff.; Spickhoff, MedR 2008, 89, 90; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl., Rn. B 35; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, 14. Aufl., Rn.201; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, 6. Auflage Rn. 115[]
  5. OLG Karlsruhe, Urteil vom 13.09.2017 7 U 116/16[]
  6. vgl. BGH, Urteil vom 10.03.1987 – VI ZR 88/86, VersR 1987, 770 12[]
  7. vgl. BGH, Urteile vom 22.05.2007 – VI ZR 35/06, BGHZ 172, 254 Rn. 24 RaczCocktail; vom 27.03.2007 – VI ZR 55/05, BGHZ 172, 1 Rn. 31 f. Medikament gegen Epilepsie[]