Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist nicht auf den Umfang beschränkt, in dem eine zweitinstanzliche Tatsachenfeststellung der Kontrolle durch das Revisionsgericht unterliegt.

Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben1.
Legt das Berufungsgericht einen engeren Überprüfungsmaßstab zugrunde, verletzt es den Anspruch der betroffenen Partei auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise, denn es hat – ausgehend von seinem zu engen rechtlichen Überprüfungsmaßstab gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO – die Ausführungen der Beklagten in der Berufungsbegründung zur Beweiswürdigung des Amtsgerichts nicht in dem gebotenen Maße in seine Erwägungen zur Nachprüfung des angefochtenen Urteils gemäß § 513 ZPO einbezogen.
Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen2. Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben3. Der Anspruch einer Partei auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist deshalb verletzt, wenn das Berufungsgericht den Vortrag einer Partei in der Berufungsbegründung aufgrund von rechtlichen Erwägungen nur eingeschränkt berücksichtigt, die im Prozessrecht keine Stütze finden4.
Gemessen hieran ist in dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall dem in der Berufungsinstanz tätigen Landgericht München II5 eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht den Prüfungsmaßstab der Vorschrift des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und seine daraus folgende Prüfungskompetenz und pflicht grundlegend verkannt und deshalb die nach dem Gesetz erforderliche eigene Beweiswürdigung zum Vorliegen einer Eigennutzungsabsicht der Klägerin und ihrer Söhne hinsichtlich der streitgegenständlichen Immobilie unter Einbeziehung der von den Beklagten in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen unterlassen hat.
Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht zwar grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO). Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Derartige konkrete Anhaltspunkte können sich unter anderem aus dem Vortrag der Parteien, vorbehaltlich der Anwendung von Präklusionsvorschriften auch aus dem Vortrag der Parteien in der Berufungsinstanz ergeben6.
Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist dabei nicht – wie die revisionsrechtliche Prüfung – auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Denn bei der Berufungsinstanz handelt es sich auch nach Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer „fehlerfreien und überzeugenden“ und damit „richtigen“ Entscheidung des Einzelfalles besteht7.
Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen8. Vielmehr sind auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen für das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind. Dabei können sich Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet9.
Diesen Prüfungsmaßstab hat das Berufungsgericht grundlegend verkannt, denn es hat die mit der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen der Beklagten gegen die Beweiswürdigung des Amtsgerichts nur unter dem Ansatz geprüft, ob dem Amtsgericht hierbei Rechtsfehler unterlaufen sind.
Bereits die im Abschnitt des Berufungsurteils zum allgemeinen rechtlichen Maßstab enthaltene Aufzählung von Umständen, die das Berufungsgericht als Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung ansieht, legt die Anwendung eines nur eingeschränkten – auf Rechtsfehler beschränkten – Prüfungsmaßstabs nahe. Anhand dieses – unzutreffenden – Maßstabs hat das Berufungsgericht sodann die in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwände der Beklagten gegen die Beweiswürdigung des Amtsgerichts auch beurteilt, wie sich aus der Formulierung ergibt, dass die Berufungsbegründung „derartige“ konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit nicht aufzeigen könne. Soweit das Berufungsgericht sich mit dem von der Berufung gegen die „Richtigkeit“ der amtsgerichtlichen Beweiswürdigung angeführten – bedeutsamen – Umstand befasst hat, dass die Klägerin zunächst eine Verkaufsabsicht gehabt und erst später den Eigennutzungsentschluss gefasst habe, ist es seiner Prüfungspflicht ebenfalls nicht in dem oben genannten gebotenen Maße nachgekommen, sondern hat die Prüfung ausschließlich auf die Vollständigkeit – nicht hingegen auf die Richtigkeit – der Beweiswürdigung bezogen. Die im vorgenannten Sinne umfassende Prüfung wird nachzuholen sein.
Schließlich hat das Berufungsgericht die in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen der Beklagten „insgesamt“ mit der Begründung beschieden, die Beklagte setze „lediglich ihre Beweiswürdigung anstelle derjenigen des Amtsgerichts“. Damit hat es deutlich gemacht, dass es die amtsgerichtliche Beweiswürdigung im Ergebnis allein auf Rechtsfehler geprüft hat, ohne auch nur zu erwägen, ob sich unter Berücksichtigung der Einwendungen der Beklagten Zweifel an den erstinstanzlichen Feststellungen zum Vorliegen einer Eigennutzungsabsicht der Klägerin und ihrer Söhne hinsichtlich der streitgegenständlichen Immobilie aus der Möglichkeit einer anderen Würdigung der Angaben der Klägerin und der als Zeugen vernommenen Söhne ergeben könnten. Mit einer solchen Begründung durfte das Berufungsgericht das Vorbringen der Beklagten gegen die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht als unbeachtlich ansehen10.
Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich (§ 544 Abs. 9 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei Anwendung des zutreffenden Prüfungsmaßstabs im Sinne des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und bei Vornahme einer eigenen Beweiswürdigung unter Einbeziehung der Argumente der Berufungsbegründung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
Denn die Beklagten haben neben dem vorstehend bereits erwähnten Umstand einer zunächst bestehenden Verkaufsabsicht der Klägerin – wie die Nichtzulassungsbeschwerde unter Verweis auf die betreffenden Aktenstellen aufzeigt – mit der Berufungsbegründung unter anderem darauf hingewiesen, dass die Angaben der Klägerin zur zeitlichen Einordnung des gemeinsamen Entschlusses über die künftige Eigennutzung des Mietobjekts im Widerspruch zu den Angaben ihres erstinstanzlich als Zeugen vernommenen Sohnes D. stünden und dessen Angaben wiederum nicht dazu passten, dass die Klägerin noch zu einem späteren Zeitpunkt sogar gerichtlich von den Beklagten die Duldung einer Besichtigung des Mietobjekts zum Zwecke des Verkaufs verlangt habe. Ferner haben die Beklagten die einander widersprechenden Angaben der beiden erstinstanzlich als Zeugen vernommenen Söhne der Klägerin über die beabsichtigte räumliche Aufteilung des Mietobjekts angeführt und unter anderem darauf hingewiesen, dass die diesbezügliche Würdigung des Amtsgerichts nicht dazu passe, dass die Klägerin nach den Angaben in der Kündigungserklärung hierüber ausführlich mit ihren Söhnen gesprochen habe.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 8. August 2023 – VIII ZR 20/23
- Bestätigung von BGH, Urteile vom 09.03.2005 – VIII ZR 266/03, BGHZ 162, 313, 315 f.; vom 29.06.2016 – VIII ZR 191/15, NJW 2016, 3015 Rn. 26; BGH, Beschluss vom 11.10.2016 – VIII ZR 300/15, WuM 2016, 743 Rn. 23[↩]
- st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, NJW 2022, 3413 Rn. 26; BGH, Beschlüsse vom 05.10.2022 – VIII ZR 88/21, WM 2022, 2242 Rn. 10; vom 13.12.2022 – VIII ZR 298/21, ZIP 2023, 972 Rn. 17; jeweils mwN[↩]
- vgl. nur BGH, Beschluss vom 21.06.2022 – VIII ZR 285/21, WuM 2022, 551 Rn. 12[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 04.09.2019 – VII ZR 69/17, NJW-RR 2019, 1343 Rn. 9[↩]
- LG München II, Urteil vom 13.12.2022 – 12 S 2089/22[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 04.09.2019 – VII ZR 69/17, NJW-RR 2019, 1343 Rn. 11[↩]
- BGH, Urteile vom 14.07.2004 – VIII ZR 164/03, BGHZ 160, 83, 86 ff.; vom 09.03.2005 – VIII ZR 266/03, BGHZ 162, 313, 315 f.; vom 29.06.2016 – VIII ZR 191/15, NJW 2016, 3015 Rn. 26; BGH, Beschluss vom 11.10.2016 – VIII ZR 300/15, WuM 2016, 743 Rn. 23 mwN[↩]
- BGH, Beschlüsse vom 11.10.2016 – VIII ZR 300/15, aaO Rn. 24; vom 04.09.2019 – VII ZR 69/17, aaO[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 09.03.2005 – VIII ZR 266/03, aaO S. 316 f.; vom 29.06.2016 – VIII ZR 191/15, NJW 2016, 3015 Rn. 26; vom 14.02.2017 – VI ZR 434/15, NJW-RR 2017, 725 Rn.20; vom 18.11.2020 – VIII ZR 123/20, WuM 2021, 38 Rn. 23; vom 25.03.2021 – I ZR 37/20 28; Beschlüsse vom 11.10.2016 – VIII ZR 300/15, aaO; vom 04.09.2019 – VII ZR 69/17, aaO[↩]
- vgl. hierzu BGH, Urteil vom 14.02.2017 – VI ZR 434/15, NJW-RR 2017, 725 Rn. 21; Beschluss vom 22.12.2015 – VI ZR 67/15, NJW 2016, 713 Rn. 7[↩]
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