Nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG ist ein Rechtsstreit auszusetzen, wenn seine Entscheidung davon abhängt, ob eine Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG oder eine Rechtsverordnung nach § 7 oder § 7a AEntG oder nach § 3a AÜG wirksam ist. Die Entscheidung über die Wirksamkeit einer solchen Allgemeinverbindlicherklärung oder Rechtsverordnung darf ausschließlich im Rahmen eines gesonderten Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG erfolgen1.
Im vorliegenden Fall, in dem über die Aussetzung eines die Zahlung von Beiträgen zu den Sozialkassen des Maler- und Lackiererhandwerks betreffenden Rechtsstreits nach § 98 Abs. 6 ArbGG gestritten wurde, ist das Hessische Landesarbeitsgerichts in seinem Aussetzungsbeschluss2 nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts zutreffend davon ausgegangen, dass eine Aussetzung nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG nicht in Betracht kommt, wenn der Rechtsstreit ohne Klärung der Wirksamkeit der AVE oder Rechtsverordnung entschieden werden kann3. Es hat insoweit festgestellt, dass der Arbeitgeberin einen Malerbetrieb führt. Die Entscheidungserheblichkeit der AVE VTV Maler 2012 hat es damit begründet, dass sich der Arbeitgeberin von Anfang an ausschließlich gegen deren Wirksamkeit gewandt habe. Angesichts des Umstands, dass der Kläger den Arbeitgeberin unstreitig auf Zahlung der von diesem für die gewerblichen Arbeitnehmer im Streitzeitraum gemeldeten Beiträge in Anspruch nimmt, genügt die Begründung des Landesarbeitsgerichts den insoweit an einen Aussetzungsbeschluss nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG zu stellenden Anforderungen4.
Das Landesarbeitsgericht hat ferner berücksichtigt, dass bei der Überprüfung einer Allgemeinverbindlicherklärung von Amts wegen der erste Anschein für deren Rechtmäßigkeit spricht, weil davon auszugehen ist, dass sie unter Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen ausgesprochen worden ist. Es hat demzufolge für die Einleitung eines Überprüfungsverfahrens nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG substantiierten Parteivortrag verlangt, der geeignet ist, ernsthafte Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen nach § 5 Abs. 1 TVG zu begründen. Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts5.
Bei der Beurteilung der Frage, ob „ernsthafte Zweifel“ an der Wirksamkeit einer AVE bestehen, bleibt dem Landesarbeitsgericht ein gewisser Spielraum. Das Rechtsbeschwerdegericht kann nur nachprüfen, ob das Landesarbeitsgericht den Begriff selbst verkannt hat, die Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und ob die Beurteilung wegen des Übersehens wesentlicher Umstände offensichtlich fehlerhaft ist6. Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält der angegriffene Beschluss stand.
Das Landesarbeitsgericht hat bei seiner Entscheidung den gesamten Sachverhalt gewürdigt und alle von den Parteien für und gegen die Wirksamkeit der AVE VTV Maler 2012 vorgebrachten Argumente berücksichtigt. Den Beschlussgründen lässt sich im Einzelnen entnehmen, von welchen der vorgetragenen oder gerichtsbekannten Zweifeln das Landesarbeitsgericht ausgegangen ist und welche Tatsachen es dieser Annahme zugrunde gelegt hat. Die in sich widerspruchsfreie und ohne Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze erfolgte Würdigung, wonach ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit der AVE VTV Maler 2012 bestehen, überschreitet nicht den dem Landesarbeitsgericht insoweit zustehenden Beurteilungsspielraum.
Das Landesarbeitsgericht hat betont, vieles spreche für die auch vom BMAS geteilte Annahme, wonach es zutreffend und im Ergebnis besonders genau sei, wenn bei der Prüfung des Quorums nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG aF die von der Urlaubskasse ermittelten Zahlen zugrunde gelegt würden. Die gleichwohl erfolgte Einbeziehung des vom Arbeitgeberin hervorgehobenen Umstands, wonach die Zugrundelegung des Zahlenmaterials des Klägers problematisch sei, in seine Würdigung hat das Landesarbeitsgericht ohne Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze mit dem eigenen Interesse des Klägers am positiven Ausgang des Verfahrens der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV Maler begründet.
Das Landesarbeitsgericht ist ebenfalls ohne Denkfehler auf die Diskrepanz zwischen den von dem Arbeitgeberin verwerteten Zahlenwerken des Statistischen Bundesamts und der Urlaubskasse eingegangen. Es hat dabei insbesondere auch den Einwand des Klägers berücksichtigt, wonach die Daten des Statistischen Bundesamts wegen der Nichterfassung von Kleinbetrieben mit weniger als 20 Beschäftigten ungenauer seien. Die daraus abgeleitete Schlussfolgerung des Landesarbeitsgerichts, dass dann allerdings die „Große Zahl“ bei Einbeziehung der Kleinbetriebe noch größer ausfallen müsste, weil gerade im Maler- und Lackiererhandwerk kleinere Betriebe mit weniger Arbeitnehmer häufig anzutreffen seien, begegnet keinen rechtsbeschwerderechtlichen Bedenken. Die von der Rechtsbeschwerde in diesem Zusammenhang zitierten Entscheidungen einer anderen Kammer des Hessischen Landesarbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg betrafen nicht die streitgegenständliche AVE VTV Maler 2012.
Das Landesarbeitsgericht hat in seine Erwägungen weiterhin zutreffend die Tatsache einbezogen, dass die im Rahmen der Handwerkszählung des Statistischen Bundesamts erhobene Anzahl von 199.000 Beschäftigten im Maler- und Lackiererhandwerk ebenfalls deutlich über der vom BMAS zugrunde gelegten „Großen Zahl“ liegt.
Das Landesarbeitsgericht durfte auch dem Umstand Beachtung schenken, dass nach dem in der Auskunft des BMAS vom 19.11.2013 zitierten Vermerk das Quorum bei Zugrundelegung der Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit nur geringfügig überschritten gewesen wäre. Soweit das Landesarbeitsgericht den Prozentsatz hierbei mit 50, 6 % anstatt mit 50, 8 % angegeben hat, handelt es sich ersichtlich um einen unbeachtlichen Schreibfehler.
Dass der Arbeitgeberin keine Akteneinsicht beim BMAS genommen hatte, durfte das Landesarbeitsgericht außer Acht lassen, zumal sich bereits aus der vom Kläger vorgelegten ausführlichen Auskunft des BMAS vom 19.11.2013 ergab, dass dieses die Zahlen der Urlaubskasse lediglich mit der Betriebsstatistik des Deutschen Handwerkskammertags für das Maler- und Lackiererhandwerk und der Statistik der Bundesagentur für Arbeit verglichen hatte.
Entgegen der Rüge der Rechtsbeschwerde hat das Landesarbeitsgericht seine Würdigung nicht auf die – später richtig gestellte – Mitteilung in der „Freien Presse“ gestützt, wonach 2012 nur 47, 7 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer in tarifgebundenen Unternehmen beschäftigt gewesen seien. Ebenso wenig hat das Landesarbeitsgericht seiner Würdigung die von der Rechtsbeschwerde für unmaßgeblich gehaltenen Zahlen des Internetportals „Statista“ zugrunde gelegt. Welche Auswirkungen der Einspruch des Freistaats Sachsen gegen die Allgemeinverbindlicherklärung auf die Richtigkeit der von der Urlaubskasse ermittelten Zahlen gehabt haben könnte, legt die Rechtsbeschwerde nicht nachvollziehbar dar.
Wenn das Landesarbeitsgericht vor diesem Hintergrund angenommen hat, das BMAS habe nicht alle zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft, was ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit der AVE begründe, bewegt sich diese Schlussfolgerung innerhalb des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums.
Schließlich hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt, dass es nicht selbst weitere Schritte zur Überprüfung der Wirksamkeit der AVE VTV Maler 2012 unternehmen darf, weil diese gemäß § 98 ArbGG kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung dem dortigen Rechtsstreit vorbehalten ist7.
Auch hat das Landesarbeitsgericht auch ausführlich erwogen, ob das Interesse des Klägers an einer Beschleunigung des Verfahrens Vorrang vor dem durch den Antrag bekundeten Interesse des Arbeitgeberin an der Aussetzung des Rechtsstreits haben könnte. Es hat ohne Überschreitung des ihm insoweit zukommenden tatrichterlichen Beurteilungsspielraums das Überwiegen des Interesses des Arbeitgeberin an der Überprüfung der Wirksamkeit der AVE VTV Maler 2012 bejaht und dies maßgeblich mit der Unzumutbarkeit des zeit- und kostenaufwändigen Verfahrens begründet, das auf den Arbeitgeberin zukäme, wenn er, obwohl er sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Wirksamkeit der AVE VTV Maler 2012 zur Wehr gesetzt hat, zur Zahlung der Beiträge verurteilt würde und sodann ggf. gezwungen wäre, ein Restitutionsverfahren durchzuführen. Auch diese Würdigung ist rechtsbeschwerderechtlich nicht zu beanstanden.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 25. Januar 2017 – 10 AZB 30/16
- BAG 7.01.2015 – 10 AZB 109/14, Rn. 16, BAGE 150, 254[↩]
- Hess.LAG, Beschluss vom 13.05.2016 – 10 Ta 109/16[↩]
- vgl. BAG 7.01.2015 – 10 AZB 109/14, Rn. 23 mwN, BAGE 150, 254[↩]
- vgl. dazu BAG 7.01.2015 – 10 AZB 109/14, Rn. 23, BAGE 150, 254[↩]
- vgl. BAG 17.02.2016 – 10 AZR 600/14, Rn. 12 mwN[↩]
- BAG 7.01.2015 – 10 AZB 109/14, Rn. 22, BAGE 150, 254[↩]
- vgl. BAG 7.01.2015 – 10 AZB 109/14, Rn. 22, BAGE 150, 254[↩]









