Das freigestellte Betriebsratsmitglied – und sein Anspruch auf Provision und Zielerreichungs-Bonus

Nach § 37 Abs. 2 BetrVG sind Mitglieder des Betriebsrats von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts zu befreien, wenn und soweit es zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Aufgaben erforderlich ist. § 37 Abs. 2 BetrVG begründet keinen eigenständigen Vergütungsanspruch, sondern sichert den Entgeltanspruch des Betriebsratsmitglieds aus § 611a Abs. 2 BGB iVm. dem Arbeitsvertrag, indem er dem Arbeitgeber den Einwand des nicht erfüllten Vertrags nimmt1.

Das freigestellte Betriebsratsmitglied – und sein Anspruch auf Provision und Zielerreichungs-Bonus

Die Vorschrift gilt für alle Betriebsratsmitglieder, auch für nach § 38 BetrVG freigestellte2. Das Verbot der Entgeltminderung soll die Bereitschaft des Arbeitnehmers zur Übernahme eines Betriebsratsamts fördern, indem es ihm die Befürchtung nimmt, Einkommenseinbußen durch die Wahrnehmung eines Ehrenamts zu erleiden. Es bedeutet, dass dem Betriebsratsmitglied das Arbeitsentgelt weiterzuzahlen ist, das es verdient hätte, wenn es keine Betriebsratstätigkeit geleistet, sondern gearbeitet hätte. Zum Arbeitsentgelt iSv. § 37 Abs. 2 BetrVG gehören alle Vergütungsbestandteile, nicht dagegen reiner Aufwendungsersatz3.

Danach hat das freigestellte Betriebsratsmitglied auch nach der Freistellung von seiner beruflichen Tätigkeit gemäß § 38 BetrVG einen Anspruch auf Zahlung eines in einer Gesamtbetriebsvereinbarung geregelten Zielerreichungs-Bonus. 

Das Arbeitsentgelt ist nach dem Lohnausfallprinzip fortzuzahlen. Die Berechnung der geschuldeten Vergütung nach dem Lohnausfallprinzip erfordert eine hypothetische Betrachtung, welches Arbeitsentgelt das Betriebsratsmitglied ohne die Arbeitsbefreiung verdient hätte. Zur Berechnung der hypothetischen Vergütung ist die Methode zu wählen, die dem Lohnausfallprinzip am besten gerecht wird. Dabei sind die Besonderheiten des jeweiligen Vergütungsbestandteils zu berücksichtigen. Da es um die Feststellung eines hypothetischen Sachverhalts geht, kann die Feststellung der Zielerreichung bei einem variablen Jahresbonus nur aufgrund von Hilfstatsachen, die iVm. Erfahrungsregeln einen indiziellen Schluss auf einen bestimmten Geschehensablauf zulassen, getroffen werden. Nach der Feststellung entsprechender Hilfstatsachen kann das Landesarbeitsgericht ggf. nach § 287 Abs. 2 ZPO unter Berücksichtigung aller Umstände eine Schätzung vornehmen4. Nach dieser Bestimmung gelten die Vorschriften des § 287 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ZPO bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten entsprechend. Die Vorschrift erlaubt damit unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen auch die Schätzung des Umfangs von Erfüllungsansprüchen5.

Die vom Tatsachengericht gemäß § 287 Abs. 2 ZPO nach freier Überzeugung vorgenommene Schätzung unterliegt nur einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung. Es ist nur zu überprüfen, ob das Tatsachengericht wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder seiner Schätzung unrichtige oder unbewiesene Anknüpfungstatsachen zugrunde gelegt hat und damit die Schätzung mangels konkreter Anhaltspunkte völlig „in der Luft“ hängt, also willkürlich ist6.

Die Regelung des § 37 Abs. 4 BetrVG findet insoweit keine Anwendung7. Nach § 37 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 BetrVG darf das Arbeitsentgelt von Betriebsratsmitgliedern nicht geringer bemessen werden als das Arbeitsentgelt vergleichbarer Arbeitnehmer mit betriebsüblicher beruflicher Entwicklung. Diese Vorschrift betrifft einen anderen Sachverhalt als § 37 Abs. 2 BetrVG. Während § 37 Abs. 2 BetrVG die Fortzahlung des – vereinbarten – Arbeitsentgelts für die Dauer der Arbeitsbefreiung zur Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Aufgaben regelt, gewährt § 37 Abs. 4 BetrVG einem Betriebsratsmitglied einen Anspruch auf Erhöhung seines Entgelts in dem Umfang, in dem das Entgelt vergleichbarer Arbeitnehmer mit betriebsüblicher beruflicher Entwicklung steigt. Im Streitfall geht es um die Berechnung des in einer Betriebsvereinbarung geregelten Zielerreichungs-Bonus und nikcht um eine Anpassung seiner Vergütung an die Vergütungsentwicklung vergleichbarer Arbeitnehmer. Die von der Arbeitgeberin vertretene alleinige Bemessung des Zielerreichungs-Bonus anhand der Zahlen der Vergleichsgruppe stünde auch nicht im Einklang mit dem Verbot der Entgeltminderung. Arbeitnehmer, die regelmäßig einen höheren Bonus als die Mitglieder der Vergleichsgruppe verdienen, weil sie mehr Einheiten an Kunden ausliefern, würden von der Übernahme eines Betriebsratsamts abgeschreckt, da sie die Befürchtung haben müssten, Einkommenseinbußen durch die Wahrnehmung eines Ehrenamts zu erleiden.

Die Schätzung kann im Wesentlichen mit dem Grad der Zielerreichung durch den freigestellten Betriebsrat im Vergleich zur Zielerreichung durch die Vergleichsgruppe im vorangegangenen Berechnungszeitraum begründet werden. Dabei darf nicht verkannt werden, dass es sich bei dem in der Vergangenheit erreichten Zielerreichungsgrad in Relation zu dem der Vergleichsgruppe nicht um die einzige grundsätzlich zu berücksichtigende Hilfstatsache handelt. Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 29.04.20158 kann sich ein Indiz für die hypothetische Zielerreichung des Betriebsratsmitglieds aus einem Vergleich des von ihm in den Jahren vor der Übernahme des Betriebsratsamts durchschnittlich erfüllten Zielerreichungsgrads und des durchschnittlichen Zielerreichungsgrads der Vergleichsgruppe in dieser Zeit ergeben. Der Rückschluss aus der Vergangenheit auf die Zukunft ist gerechtfertigt, soweit und solange keine Tatsachen vorgebracht werden, denen eine andere indizielle Bedeutung zuzumessen ist und die etwa darin liegen können, dass (nur) bestimmte und nun weggefallene Sondereffekte zu dem höheren Zielerreichungsgrad des freigestellten Betriebsrats geführt haben oder die Vergleichsgruppe aufgrund bestimmter Umstände, etwa einer geänderten Zusammensetzung oder ebenfalls bestimmter Sondereffekte die Leistung hat so steigern können, dass hypothetisch nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass dem freigestellten Betriebsratsmitglied eine die der Vergleichsgruppe in bisherigem Maß übersteigende Zielerreichung gelungen wäre.

Das (freigestellte) Betriebsratsmitglied hat Anspruch auf Arbeitsentgelt einschließlich aller Nebenbezüge, die es erzielt haben würde, wenn es im Betrieb gearbeitet hätte. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, das dem Arbeitnehmer aufgrund seines Arbeitsverhältnisses geschuldete Arbeitsentgelt trotz Nichterbringung der Arbeitsleistung für die Dauer der Betriebsratstätigkeit weiterzuzahlen. Der Arbeitgeber ist jedoch nicht verpflichtet, für den Ausfall eines Entgelts, das von ihm nicht geschuldet wird, zu haften. Die Vorschrift erfasst nur das vom Arbeitgeber aufgrund des Arbeitsvertrags geschuldete Arbeitsentgelt9. Die von einem Dritten im Hinblick auf das Arbeitsverhältnis erbrachten Leistungen (hier: Provisionszahlungen der Leasingbank) können insofern dann Arbeitsentgelt iSd. § 37 BetrVG darstellen, wenn der Dritte sie nach der Abrede der Arbeitsvertragsparteien anstelle oder neben dem zwischen ihnen vereinbarten Arbeitsentgelt erbringen soll. Erfüllt der Dritte gegenüber dem Arbeitnehmer die von ihm im Hinblick auf das Bestehen des Arbeitsverhältnisses übernommene Verpflichtung nicht, so kann an seiner Stelle der Arbeitgeber zur Leistung an das Betriebsratsmitglied verpflichtet sein (vgl. zu § 37 Abs. 4 BetrVG BAG 16.01.2008 – 7 AZR 887/06, Rn. 15 f.).

Die Auslegung nichttypischer vertraglicher Abreden der Parteien obliegt in erster Linie den Gerichten der Tatsacheninstanzen. Sie kann vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob das Berufungsgericht Auslegungsregeln (§§ 133, 157 BGB) verletzt, gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Tatsachen unberücksichtigt gelassen hat10.

Ausgehend von diesen Maßgaben hält die Annahme des Landesarbeitsgerichts Hamburg11, den Gesamtumständen lasse sich eine konkludente Vereinbarung der Parteien entnehmen, nach der die Arbeitgeberin zur Zahlung von sog. B Bank Provisionen neben der von ihr im Übrigen zu zahlenden Vergütung verpflichtet ist, einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Das Landesarbeitsgericht hat seiner Entscheidung zutreffend die vom Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung vom 16.01.200812 aufgestellten Rechtssätze zugrunde gelegt. Auch die Annahme, ein Arbeitnehmer müsse davon ausgehen, seine Arbeitgeberin verpflichte sich zur Zahlung eines Entgelts, das für eine arbeitsvertraglich geschuldete Leistung gezahlt wird, verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze. Es gehört zu den arbeitsvertraglichen Pflichten des Automobilverkäufers, den Kunden eine Finanzierung anzubieten, wobei er zugleich dahingehend gebunden ist, Leasing- und Kreditgeschäfte über die B Tochtergesellschaften abzuwickeln. Dabei durfte – und musste – das Landesarbeitsgericht im Rahmen der Gesamtwürdigung berücksichtigen, dass die Auszahlung der Provisionen nicht unmittelbar durch die B Bank GmbH, sondern durch die Arbeitgeberin erfolgte und von dieser auch in den Gehaltsabrechnungen – wenn auch als Sachbezug – ausgewiesen wurde. Insoweit ist auch nicht ersichtlich, dass das Landesarbeitsgericht wesentliche Tatsachen unberücksichtigt gelassen hat. Dies gilt insbesondere für die Aussage, die Arbeitgeberin habe keine Umstände dargelegt, aus denen sich für den Arbeitnehmer hätte erschließen müssen, dass allein die B Bank GmbH für die Zahlung der Provisionen aufkommen werde. Das Landesarbeitsgericht durfte seiner Berechnung jedoch nicht  allein den Vortrag des Arbeitnehmers zugrunde legen,  er hätte ohne seine Vollfreistellung weiter die sog. B Bank Provisionen im bisherigen Umfang verdient. Auch wenn es an ausdrücklichen Vereinbarungen der Parteien fehlt, ist doch unstreitig, dass es sich um eine erfolgsabhängige Vergütung handelt. Das Landesarbeitsgericht hat seiner Berechnung allein zugrunde gelegt, was der Arbeitnehmer im Zeitraum von November 2019 bis Oktober 2020 durchschnittlich an sog. B Bank Provisionen erhielt. Der Durchschnittswert eines solch kurzen Referenzzeitraums kann jedoch für die Ermittlung der hypothetisch verdienten Provisionen nur dann zugrunde gelegt werden, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass in dem zu vergütenden Zeitraum ähnlich viele provisionspflichtige Geschäfte angefallen wären. Alternativ könnte eine Schätzung nach § 287 ZPO auch auf Basis eines erheblich längeren Referenzzeitraums erfolgen, innerhalb dessen es nach aller Lebenswahrscheinlichkeit zu repräsentativen Schwankungen hinsichtlich der provisionspflichtigen Geschäfte gekommen sein wird.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 12. Juni 2024 – 7 AZR 141/23

  1. BAG 13.03.2024 – 7 ABR 11/23, Rn. 16 mwN[]
  2. vgl. BAG 10.07.2013 – 7 ABR 22/12, Rn.19[]
  3. BAG 29.04.2015 – 7 AZR 123/13, Rn. 12 f. mwN[]
  4. vgl. BAG 29.04.2015 – 7 AZR 123/13, Rn. 14, 23[]
  5. BAG 25.03.2015 – 5 AZR 602/13, Rn.20, BAGE 151, 180[]
  6. vgl. zur Schätzung von Überstunden BAG 25.03.2015 – 5 AZR 602/13, Rn. 24, BAGE 151, 180; zur Schätzung eines Schadensersatzanspruchs nach § 287 Abs. 1 ZPO BAG 29.02.2024 – 8 AZR 359/22, Rn. 23; vgl. auch BGH 11.03.2022 – V ZR 35/21, Rn. 28[]
  7. vgl. BAG 29.04.2015 – 7 AZR 123/13, Rn. 17[]
  8. BAG 29.04.2014 – 7 AZR 123/13, Rn. 27[]
  9. vgl. BAG 28.06.1995 – 7 AZR 1001/94, zu III 1 der Gründe, BAGE 80, 230[]
  10. st. Rspr., vgl. BAG 28.04.2021 – 7 AZR 212/20, Rn.20 mwN[]
  11. LAG Hamburg 26.04.2023 – 3 Sa 29/22[]
  12. BAG 16.01.2008 – 7 AZR 887/06, Rn. 16[]