Der aus dem Jahr 2010 stammende Urlaub hätte – soweit es den gesetzlichen Mindesturlaub betrifft – unbeschadet des Umstands, dass der Übertragungszeitraum grundsätzlich am 31.03.2011 endete (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG), fortbestanden.

Aufgrund der Vorgaben des Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Arbeitszeitrichtlinie) ist § 7 Abs. 3 BUrlG unionsrechtskonform dahin gehend auszulegen, dass der gesetzliche Urlaub nicht vor Ablauf von 15 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums krank und deshalb arbeitsunfähig ist1.
Da im vorliegenden Fall die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers von Mitte Oktober 2010 bis zum 31.05.2011 und somit über den 31.03.2011 fortdauerte, wäre der gesetzliche Urlaub aus dem Jahr 2010 in das Jahr 2011 übertragen worden.
Diese Grundsätze gelten nicht für den hier streitgegenständlichen tariflichen Mehrurlaub. Dieser ging trotz der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers gemäß § 12 Abschn. I Ziff. 11 MTV am 31.03.2011 unter. Die Parteien wenden den Manteltarifvertrag für die chemische Industrie vom 24.06.1992 idF vom 16.03.2009 auf ihr Arbeitsverhältnis an.
Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts Nürnberg2 streiten die Parteien nicht über den gesetzlichen Mindest, sondern über tariflichen Mehrurlaub.
Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht angenommen, die Arbeitgeberin habe mit der Gewährung des Urlaubs vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers den tariflichen Urlaubsanspruch analog § 366 Abs. 2 BGB erfüllt, da eine Leistungsbestimmung nicht erfolgt sei. Dies widerspricht der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Mit der Urlaubsgewährung im Jahr 2010 brachte die Arbeitgeberin den gesetzlichen und teilweise den tariflichen Urlaubsanspruch gemäß § 362 Abs. 1 BGB zum Erlöschen.
Wenn eine arbeits- oder tarifvertragliche Regelung hinsichtlich des Umfangs des Urlaubsanspruchs nicht zwischen gesetzlichen und arbeits- oder tarifvertraglichen Urlaubsansprüchen unterscheidet und den Arbeitnehmern einen über den gesetzlichen Anspruch hinausgehenden Anspruch auf Erholungsurlaub einräumt, kommt entgegen der Rechtsansicht des Landesarbeitsgerichts ein Rückgriff auf die Auslegungsregel in § 366 Abs. 2 BGB ebenso wenig in Betracht wie eine analoge Anwendung dieser Vorschrift. Es handelt sich um einen einheitlichen Anspruch auf Erholungsurlaub, der auf verschiedenen Anspruchsgrundlagen (Anspruchsgrundlagenhäufung) beruht, und nicht um selbstständige Urlaubsansprüche3.
Der tarifliche Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers ist nach diesen Grundsätzen gegenüber dem gesetzlichen Anspruch auf Erholungsurlaub gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG kein eigenständiger Anspruch, soweit sich beide Ansprüche decken.
Der MTV differenziert schon seinem Wortlaut nach bei der Festlegung der Höhe des Urlaubsanspruchs nicht zwischen dem gesetzlichen Mindest- und dem tariflichen Mehrurlaub. Der tarifliche Urlaub soll erkennbar nicht zusätzlich zum gesetzlichen Erholungsurlaub gewährt werden, sondern schließt diesen mit ein.
Auch die sonstigen tariflichen Urlaubsregelungen des MTV enthalten keine Anhaltspunkte dafür, dass die im MTV angeordnete Urlaubsdauer sich erst aus der Addition zweier eigenständiger Urlaubsansprüche ergibt, nämlich dem gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch einerseits und einem diesen aufstockenden, gesonderten tariflichen Urlaubsanspruch andererseits.
Der Annahme, dass es keiner Tilgungsbestimmung des Arbeitgebers bedarf und dieser mit der Freistellung des Arbeitnehmers von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung sowohl den gesetzlichen als auch den übergesetzlichen Anspruch des Arbeitnehmers auf Erholungsurlaub ganz oder teilweise erfüllt, wenn im Arbeits- oder Tarifvertrag nicht hinreichend deutlich zwischen gesetzlichem und übergesetzlichem Urlaub unterschieden wird, steht nicht entgegen, dass ein arbeits- oder tarifvertraglicher Mehrurlaub bezüglich seiner Entstehungsvoraussetzungen, seiner Übertragung, seiner Kürzung bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, seines Verfalls oder seiner Abgeltung eigenen Regeln unterliegen kann. Diese Fragen sind jeweils getrennt zu betrachten4.
Soweit das Landesarbeitsgericht angenommen hat, die Frage, ob § 366 Abs. 2 BGB auf Urlaubsansprüche anzuwenden ist, werde vom Bundesarbeitsgericht nicht einheitlich beantwortet, geht sein Hinweis auf die Entscheidungen vom 16.07.20135 und 15.10.20136 fehl. In diesen Entscheidungen ging es nicht um die Erfüllung von gesetzlichen und tariflichen Urlaubsansprüchen, sondern um eine (etwaige) Tilgungsbestimmung des Arbeitgebers iSv. § 366 Abs. 1 BGB bei der Zahlung von Urlaubsabgeltung.
Dem Untergang des tariflichen Mehrurlaubs am 31.03.2011 steht die bis zum 31.05.2011 andauernde krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nicht entgegen.
Die Tarifvertragsparteien können Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln7. Diese Befugnis schließt die Befristung des tariflichen Mehrurlaubs ein8. Die Tarifvertragsparteien des MTV haben von dieser Regelungsbefugnis Gebrauch gemacht.
Für einen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien, den tariflichen Mehrurlaub einem eigenen, von dem des gesetzlichen Mindesturlaubs abweichenden Fristenregime zu unterstellen, müssen deutliche Anhaltspunkte vorliegen. Fehlen solche, ist von einem Gleichlauf des gesetzlichen Urlaubsanspruchs und des Anspruchs auf tariflichen Mehrurlaub auszugehen. Ein Gleichlauf ist nicht gewollt, wenn die Tarifvertragsparteien entweder bei der Befristung und Übertragung bzw. beim Verfall des Urlaubs zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub unterschieden oder sich vom gesetzlichen Fristenregime gelöst und eigenständige; vom BUrlG abweichende Regelungen zur Befristung und Übertragung bzw. zum Verfall des Urlaubsanspruchs getroffen haben9.
Die Tarifvertragsparteien des MTV haben den tariflichen Mehrurlaub einem eigenständigen; vom BUrlG abweichenden Fristenregime unterstellt.
Nach dem Wortlaut des § 12 Abschn. I Ziff. 11 MTV ist der Urlaub bis spätestens 31.03.des folgenden Jahres zu gewähren (Satz 1) und erlischt, wenn er nicht bis dahin geltend gemacht worden ist (Satz 2). Damit wird der Wille der Tarifvertragsparteien deutlich, der Arbeitnehmer könne seinen Urlaub ohne besondere Gründe und ohne die Notwendigkeit der Übertragung vom 01.01.eines Kalenderjahres bis zum 31.03.des Folgejahres geltend machen. Dies ist eine wesentliche Abweichung von § 7 Abs. 3 Satz 1 bis 3 BUrlG. Nach dessen Regime geht der nicht genommene Urlaub grundsätzlich am 31.12 des Urlaubsjahres unter und wird nur bei Vorliegen der gesetzlichen Übertragungsgründe bis zum 31.03.des Folgejahres übertragen. Damit unterscheidet sich die tarifliche Regelung von der des BUrlG insoweit, als der Urlaubsanspruch ohne Übertragungsvoraussetzungen und ohne Übertragungsnotwendigkeit zumindest bis zum 31.03.des Folgejahres besteht10 und genommen werden kann. Insofern unterscheidet sich die tarifliche Regelung des MTV von einer anderen tariflichen Regelung, bei der das Bundesarbeitsgericht einen Gleichlauf angenommen hat. Dort hat der Tarifvertrag nicht auf eine Übertragung, sondern ausschließlich auf das Vorliegen von Übertragungsgründen verzichtet11.
Diese Auslegung widerspricht der gemeinsamen Erläuterung der Tarifvertragsparteien vom 23.03.1984 zu § 12 Abschn. I Ziff. 10 Satz 1 MTV vom 24.03.1979. Diese haben die Tarifregelung entgegen dem Wortlaut „authentisch interpretiert“. Es solle keine generelle Übertragbarkeit des Urlaubs geregelt sein. Der Urlaub sei vielmehr im jeweiligen Kalenderjahr zu nehmen. Eine Übertragung in das nächste Kalenderjahr sei nur aus dringenden betrieblichen oder in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen möglich. Diese Interpretation der Tarifvertragsparteien entspricht § 7 Abs. 3 Satz 1 bis 3 BUrlG und würde zu einem Gleichlauf zwischen gesetzlichem und tariflichem Urlaub führen. Für die Tarifauslegung kann diese gemeinsame Erläuterung jedoch nicht herangezogen werden.
Gemeinsame Erläuterungen können für die Auslegung eines Tarifvertrags Bedeutung gewinnen. Auch wenn ihnen selbst nicht der Charakter einer Tarifnorm zukommt, kann ihr Inhalt zur Ergänzung und Bestätigung einer Tarifauslegung herangezogen werden12. Ein hieraus ersichtlicher Wille der Tarifvertragsparteien muss jedoch stets im Tarifwerk selbst einen objektiven Niederschlag gefunden haben. Der Inhalt gemeinsamer Erläuterungen darf nicht im Widerspruch zum Wortlaut und Sinn des Tarifvertrags stehen13.
So ist es hier. Der Inhalt der gemeinsamen Erläuterung steht im Widerspruch zum Wortlaut des § 12 Abschn. I Ziff. 10 Satz 1 MTV vom 24.03.1979 sowie zu dem des § 12 Abschn. I Ziff. 11 Satz 1 MTV. Danach ist der Urlaub bis spätestens 31.03.des folgenden Kalenderjahres zu gewähren. Die Notwendigkeit der Übertragung des Urlaubs in das folgende Kalenderjahr hat im Wortlaut keinen Niederschlag gefunden. Dies gilt erst recht für das Erfordernis betrieblicher oder in der Person des Arbeitnehmers liegender Übertragungsgründe. Zudem haben die Tarifvertragsparteien davon Abstand genommen, ihre gemeinsame Erläuterung in den nachfolgenden Manteltarifverträgen umzusetzen. Dies könnte so auszulegen sein, dass sie hiervon wieder Abstand genommen haben.
Im Übrigen haben die Tarifvertragsparteien lediglich § 12 Abschn. I Ziff. 10 Satz 1 MTV vom 24.03.1979 interpretiert, nicht aber dessen Satz 2. Danach erlischt der Urlaubsanspruch, wenn er nicht bis zum 31.03.des folgenden Kalenderjahres geltend gemacht worden ist. Der Wortlaut von § 12 Abschn. I Ziff. 10 Satz 2 MTV vom 24.03.1979 spricht sogar dafür, dass der Urlaub nicht bis zum 31.03.des Folgejahres genommen sein muss, sondern auch dann nicht erlischt, wenn er bis zum 31.03.des Folgejahres, wenn auch für einen nachfolgenden Zeitraum, geltend gemacht wird14. Damit reicht es aus, dass der Urlaub bis zu diesem Zeitpunkt verlangt wird. Demgegenüber muss er nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden.
Der Arbeitnehmer machte seine streitgegenständlichen Resturlaubsansprüche aus dem Kalenderjahr 2010 erst im Oktober 2011 geltend. Zu diesem Zeitpunkt waren sie gemäß § 12 Abschn. I Ziff. 11 Satz 2 MTV bereits verfallen. Ersatzurlaubsansprüche aus Verzug konnten nicht entstehen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17. November 2015 – 9 AZR 275/14
- grundlegend BAG 7.08.2012 – 9 AZR 353/10, Rn. 23 ff., BAGE 142, 371[↩]
- LAG Nürnberg, Urteil vom 25.03.2014 – 7 Sa 423/13[↩]
- BAG 7.08.2012 – 9 AZR 760/10, Rn. 12, BAGE 143, 1[↩]
- vgl. BAG 22.05.2012 – 9 AZR 618/10, Rn. 24, BAGE 141, 374[↩]
- BAG 16.07.2013 – 9 AZR 914/11[↩]
- BAG 15.10.2013 – 9 AZR 302/12[↩]
- vgl. EuGH 3.05.2012 – C-337/10 – [Neidel] Rn. 34 ff. mwN; BAG 12.04.2011 – 9 AZR 80/10, Rn. 21, BAGE 137, 328[↩]
- BAG 7.08.2012 – 9 AZR 760/10, Rn. 18, BAGE 143, 1[↩]
- BAG 22.05.2012 – 9 AZR 575/10, Rn. 12[↩]
- so schon zum gleichlautenden § 12 Abschn. I Ziff. 10 MTV vom 22.02.1973 idF vom 01.07.1975 BAG 13.05.1982 – 6 AZR 12/80, zu B I 4 b der Gründe[↩]
- BAG 12.04.2011 – 9 AZR 80/10, Rn. 29 ff., BAGE 137, 328[↩]
- BAG 19.06.1974 – 4 AZR 436/73, BAGE 26, 198[↩]
- BAG 5.12 2001 – 10 AZR 242/01, zu II 1 e der Gründe[↩]
- offengelassen für den gleichlautenden MTV vom 22.02.1973 idF vom 01.07.1975 in BAG 13.05.1982 – 6 AZR 12/80, zu B I 4 b der Gründe[↩]