Nach § 191 Abs. 1 i.V.m. § 69 AO kann die Finanzbehörde die in § 34 AO bezeichneten Personen mit Haftungsbescheid in Anspruch nehmen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht erfüllt wurden. Zu jenen Personen gehören die gesetzlichen Vertreter juristischer Personen (§ 34 Abs. 1 Satz 1 AO).

Nach § 191 Abs. 3 Satz 1 AO sind die Vorschriften über die Festsetzungsfrist auf den Erlass von Haftungsbescheiden entsprechend anzuwenden. Die Festsetzungsfrist, die im Streitfall vier Jahre beträgt (s. insoweit § 191 Abs. 3 Satz 2 Alternative 1 AO), beginnt mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Tatbestand verwirklicht worden ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft (§ 191 Abs. 3 Satz 3 AO). Ist die Steuer, für die gehaftet wird, noch nicht festgesetzt worden, so endet die Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid nicht vor Ablauf der für die Steuerfestsetzung geltenden Festsetzungsfrist; andernfalls gilt § 171 Abs. 10 AO sinngemäß (§ 191 Abs. 3 Satz 4 AO), und danach endet die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe der Steuerfestsetzung.
Im hier entschiedenen Fall hatte erstinstanzlich das Finanzgericht Berlin-Brandenburg1 seine Fristberechnung auf § 191 Abs. 3 Satz 3 AO und auf § 191 Abs. 3 Satz 4 Halbsatz 2 AO gestützt, mithin auf eine sinngemäße Anwendung des § 171 Abs. 10 AO. Da die Steuerfestsetzung gegenüber der GmbH (Festsetzung der Kapitalertragsteuer) am 27.02.2003 erfolgte, komme eine nach § 191 Abs. 3 Satz 4 Halbsatz 2 AO berechnete Ablaufhemmung bei einem Fristbeginn zum 31.12 2001 (Fristbeginn mit dem Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Pflichtverletzung erfolgte) und einer Frist von vier Jahren im Streitfall „im Ergebnis nicht zum Tragen“. Die Frist sei jedenfalls vor dem Tag der Bekanntgabe des Haftungsbescheides vom 05.03.2008 abgelaufen.
Diese Fristberechnung des Finanzgericht ist nach Ansicht des Bundesfinanzhofs rechtsfehlerhaft. Denn sie beruht auf der Nichtanwendung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, nach der es in der Situation der Haftung eines sog. Entrichtungsschuldners zu einer entsprechenden Anwendung der Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO im Bereich des § 191 Abs. 3 AO kommt. Es besteht kein Anlass, von dieser Rechtsprechung abzurücken.
Nach jener Rechtsprechung beginnt die Festsetzungsfrist für eine Haftung eines sog. Entrichtungsschuldners, wenn der haftungsbegründende Pflichtenverstoß darin begründet ist, dass eine Steueranmeldung (Entrichtungssteuer) nicht abgegeben wurde, mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steueranmeldung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahrs, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO)2. Die Literatur folgt dieser Auffassung überwiegend3.
Das Finanzgericht verweist demgegenüber auf den Wortlaut des § 191 Abs. 3 Satz 3 AO: Indem dort maßgeblich an die (erstmalige) Pflichtverletzung des Haftenden angeknüpft werde, könne die für den Steueranspruch geltende Regelung einer Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO nicht gelten; dies erweise sich in besonderem Maße an dem Fall, dass der Geschäftsführer der Kapitalgesellschaft (Entrichtungssteuerschuldnerin) nach dem ursprünglichen Pflichtenverstoß ausscheide, ihm daher in der folgenden Zeit keine Möglichkeit mehr offenstehe, auf die Abgabe einer Steuererklärung der Kapitalgesellschaft hinzuwirken.
Jene vom Finanzgericht angeführte Sachverhaltskonstellation zeigt allerdings nicht auf, aus welchem Grund die (rechtliche) Möglichkeit, die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO durch (wenn auch verspätete) Abgabe der Erklärung zu beenden, auf den bereits eingetretenen Pflichtenverstoß des Geschäftsführers durch die frühere Nichtabgabe der Erklärung/Anmeldung (als haftungsbegründenden Tatbestand) einwirken soll. Vielmehr wird der Zeitpunkt des Pflichtenverstoßes, wenn jener darin liegt, Deklarationsverpflichtungen nicht ordnungsgemäß nachgekommen zu sein, der Behörde zunächst nicht bekannt. Insoweit ist die Anlaufhemmung in Einklang mit dem Zweck des § 191 Abs. 3 Satz 4 AO sinnentsprechend anzuwenden. Die Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid endet nicht vor dem Ablauf der für die Steuerfestsetzung geltenden Festsetzungsfrist4.
Auf dieser Grundlage beginnt die Festsetzungsfrist im Streitfall mit Ablauf des 31.12 2004 und endet mit Ablauf des 31.12 2008. Ein Verfahrenshindernis der Verjährung für die Haftungsinanspruchnahme durch den streitgegenständlichen Haftungsbescheid vom 05.03.2008 besteht damit nicht.
Die Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist ist nicht auf den Ablauf des 31.12 2003 (als Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuerfestsetzung gegenüber der GmbH erfolgte) zu begrenzen. Zwar könnte man den Zweck jener Hemmung im Zeitpunkt der Festsetzung der Kapitalertragsteuer durch das Finanzamt als erfüllt ansehen. Denn das Finanzamt hat die Steuer auf der Grundlage der den gesamten Besteuerungstatbestand (Ausschüttung) erfassenden Kontrollmitteilung des Finanzamt Kö entsprechend den Angaben der Ausschüttungsbescheinigung „aufgrund der unstrittig im Zeitraum September des Jahres 2001 vorgenommenen Ausschüttungen für das Wirtschaftsjahr 2000“ (wenn auch unter Hinweis auf eine „bislang nicht vorgenommene(n) Kapitalertragsteueranmeldung“ unter dem Vorbehalt der Nachprüfung) festgesetzt. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO soll verhindern, dass für eine Steuerfestsetzung nur noch unangemessen wenig Zeit bleibt, wenn die Finanzbehörde infolge einer Verletzung von Erklärungs- oder Steueranmeldungspflichten von einem steuerpflichtigen Vorgang erst mit erheblicher Verspätung Kenntnis erlangt5. Es ließe sich infolgedessen vertreten, dass die Anlaufhemmung endet, wenn eine Steuerfestsetzung ohne weiteren Aufklärungsbedarf erfolgt. Insoweit könnte sich der Streitfall in rechtserheblicher Weise von der Situation einer durch die Nichtabgabe der Steuererklärung veranlassten Schätzung der Besteuerungsgrundlagen i.S. des § 162 Abs. 1 AO bei einer Veranlagungssteuer unterscheiden, die die Anlaufhemmung nicht beendet6. Allerdings steht einem solchen Verständnis der Wortlaut des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO entgegen. Denn eine Steueranmeldung (verbunden mit einer „Wahrheitsversicherung“ i.S. des § 150 Abs. 2 AO) ist durch die GmbH zu keinem Zeitpunkt beim Finanzamt eingereicht worden. Und von diesem Erfordernis kann angesichts der aus Gründen der Rechtssicherheit eher formalen Struktur der Verjährungsregelungen nicht abgesehen werden.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 15. Januar 2015 – I R 33/13
- FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.02.2013 – 9 K 9282/09[↩]
- BFH, Urteile vom 17.04.1996 – I R 82/95, BFHE 180, 365, BStBl II 1996, 608; vom 09.08.2000 – I R 95/99, BFHE 193, 12, BStBl II 2001, 13; s.a. BFH, Urteil vom 06.03.2008 – VI R 5/05, BFHE 220, 307, BStBl II 2008, 597; BFH, Beschlüsse vom 22.01.2003 – V B 122/02, BFH/NV 2003, 645; vom 22.06.2011 – VII S 1/11, BFH/NV 2011, 2014; s.a. FG Köln, Urteil vom 13.10.2011 – 13 K 2582/07, EFG 2012, 778[↩]
- z.B. Nacke, Die Haftung für Steuerschulden, 3. Aufl., Rz 689; Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 4. Aufl., Rz 629, 633; Jatzke in Beermann/Gosch, AO § 191 Rz 45; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 191 AO Rz 70; s.a. Gosch, Deutsches Steuerrecht 2000, 2087[↩]
- z.B. BFH, Urteil in BFHE 193, 12, BStBl II 2001, 13; BFH, Beschluss vom 04.09.2002 – I B 145/01, BFHE 199, 95, BStBl II 2003, 223; BFH, Urteil in BFHE 220, 307, BStBl II 2008, 597[↩]
- BFH, Urteil vom 29.01.2003 – I R 10/02, BFHE 202, 1, BStBl II 2003, 687[↩]
- s. insoweit BFH, Beschluss vom 29.01.1988 – X S 5/87, BFH/NV 1988, 480; Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO § 170 Rz 39; Paetsch in Beermann/Gosch, AO § 170 Rz 31[↩]