Auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes rechtsschutzgewährender Auslegung ist eine eindeutige Erklärung eines rechtskundigen Prozessvertreters nicht abweichend von ihrem tatsächlichen Inhalt auszulegen.

In der Auslegung prozessualer Willenserklärungen, die im erstinstanzlichen Klageverfahren abgegeben worden sind, ist das Revisionsgericht frei; es ist insoweit nicht gemäß § 118 Abs. 2 FGO an die Auslegung durch die Vorinstanz gebunden1.
Prozessuale Rechtsbehelfe sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs in entsprechender Anwendung des § 133 BGB wie sonstige Willenserklärungen auszulegen, wenn eine eindeutige und zweifelsfreie Erklärung fehlt. Nur wenn die Prozesserklärung klar und eindeutig ist und offensichtlich dem bekundeten Willen des Beteiligten entspricht, besteht grundsätzlich kein Raum für eine gegenteilige Auslegung2. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen. Die Auslegung einer Prozesserklärung darf aber nicht zur Annahme eines Erklärungsinhalts führen, für den sich in der (verkörperten) Erklärung selbst keine Anhaltspunkte mehr finden lassen3. Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung4. Dabei können auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände berücksichtigt werden. Im Zweifel ist das gewollt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht5. Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften nach Art.19 Abs. 4 GG Rechnung6.
Auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes rechtsschutzgewährender Auslegung ist eine eindeutige Erklärung eines rechtskundigen Prozessvertreters allerdings nicht abweichend von ihrem tatsächlichen Inhalt auszulegen7.
Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist in dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall der Klageschriftsatz vom 13.04.2021 nicht, wie erstinstanzlich das Finanzgericht Düsseldorf8 angenommen hat, einer Auslegung in der Weise zugänglich, dass die Klägerin hiermit auch eine Klage gegen den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 erhoben hat. Vielmehr enthielt der Klageschriftsatz, der durch eine Partnerschaft von Rechtsanwälten als Prozessbevollmächtigte verfasst worden war, eine eindeutige Erklärung: Mit ihrem in dem Klageschriftsatz formulierten Klageantrag begehrte die Klägerin, „den Branntweinsteuerbescheid vom 20.06.2018 … (Steuerbescheid) in der Form der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 … (Einspruchsentscheidung) aufzuheben„. Weiter war ausgeführt: „Den angegriffenen Steuerbescheid fügen wir in Kopie als Anlage K1 und die Einspruchsentscheidung als Anlage K2 bei.“ Diese Formulierungen beziehen sich eindeutig nur auf den Steuerbescheid vom 20.06.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021, nicht aber auf den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019. Sprachlich hat die Klägerin wiederholt nur einen Bescheid („den Branntweinsteuerbescheid“; „den angegriffenen Steuerbescheid“) angefochten, nicht zwei Bescheide. Damit liegt eine zweifelsfreie Erklärung vor. Nach der zitierten Rechtsprechung kann eine solche Erklärung, die von einem rechtskundigen Prozessvertreter abgegeben worden ist, nicht abweichend von ihrem tatsächlichen Inhalt ausgelegt werden.
Nichts anderes ergibt sich aus den dem Klageschriftsatz vom 13.04.2021 beigefügten Anlagen. Grundsätzlich sind bei der Auslegung von Prozesserklärungen auch Unterlagen zu berücksichtigen, auf die ausdrücklich Bezug genommen wird und die als Anlage beigefügt sind9. Der Klageschrift war als Anlage jedoch nur der Steuerbescheid vom 20.06.2018, nicht aber der Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 beigefügt. Der Umstand, dass sich die Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021, welche ebenfalls der Klageschrift als Anlage beigefügt war, sowohl auf den Steuerbescheid vom 20.06.2018 als auch auf den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 bezog, rechtfertigt entgegen der Auffassung des Finanzgerichtes nicht die Annahme, dass die Klägerin mit dem Klageschriftsatz vom 13.04.2021 auch den Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 anfechten wollte. Denn allein um den Steuerbescheid vom 20.06.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.03.2021 zu bezeichnen und dies durch beigefügte Anlagen zu verdeutlichen, musste die Klägerin die Einspruchsentscheidung beifügen. Die Annahme, dass sie hiermit auch einen weiteren Bescheid habe anfechten wollen, der nicht als Anlage beigefügt war, auf den sich die Einspruchsentscheidung aber ebenfalls bezog, übersteigt den Umfang der zulässigen Auslegung. Hierdurch würde einer eindeutigen Erklärung ein Inhalt beigemessen, für den es in der Erklärung keine Anhaltspunkte gibt. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Verfahren über die Steuerfestsetzung -eine gebundene Entscheidung- und dem Verfahren über die abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO -eine Ermessensentscheidung- um unterschiedliche Verwaltungsverfahren handelt10, weswegen eine in dem einen Verfahren abgegebene Erklärung nicht auf das andere Verfahren übertragen werden kann.
Eine abweichende Auslegung ist auch nicht aufgrund der Erklärung der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 10.06.2021 geboten. Diese vermag dem Klageschriftsatz vom 13.04.2021 nicht eine über ihren eindeutigen Wortlaut hinausgehende Erklärung des Inhalts beizumessen, dass mit der Klageerhebung auch der Ablehnungsbescheid vom 16.04.2019 angefochten werden sollte. Zwar kann nach der zitierten Rechtsprechung eine spätere Erklärung zur Auslegung eines Klageschriftsatzes berücksichtigt werden. Da im Streitfall jedoch der Klageschriftsatz eindeutig und zweifelsfrei formuliert war, kommt eine davon abweichende Auslegung aufgrund einer späteren Erklärung nach der zitierten Rechtsprechung schon im Ausgangspunkt nicht in Betracht, und zwar auch dann nicht, wenn das Ergebnis der Auslegung vernünftig wäre und der recht verstandenen Interessenlage der Klägerin entsprechen würde.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 14. Januar 2025 – VII R 21/22
- BFH, Beschlüsse vom 17.09.2014 – VI B 75/14, Rz 4; und vom 08.10.2012 – I B 76, 77/12, Rz 6[↩]
- BFH, Beschluss vom 07.10.2009 – VII B 26/09, BFH/NV 2010, 441, unter II. 2.a der Gründe[↩]
- BFH, Beschluss vom 07.11.2007 – I B 104/07, BFH/NV 2008, 799, unter II. 1.b der Gründe[↩]
- BFH, Beschlüsse vom 17.09.2014 – VI B 75/14, Rz 5; und vom 07.11.2007 – I B 104/07, BFH/NV 2008, 799, unter II. 1.b der Gründe[↩]
- BFH, Beschluss vom 09.09.2014 – VIII B 133/13, Rz 10; BFH, Urteil vom 29.04.2009 – X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777, unter II. 1. der Gründe[↩]
- BFH, Urteile vom 18.06.2024 – VIII R 16/21, Rz 25; und vom 18.09.2014 – VI R 80/13, BFHE 247, 111, BStBl II 2015, 115, Rz 19; BFH, Urteil vom 08.01.1991 – VII R 61/88, BFH/NV 1991, 795, unter II. 1.b der Gründe; BFH, Beschlüsse vom 17.09.2014 – VI B 75/14, Rz 5; vom 09.09.2014 – VIII B 133/13, Rz 10; und vom 08.06.2004 – XI B 46/02, BFH/NV 2004, 1417, unter II. 1.b der Gründe[↩]
- BFH, Beschlüsse vom 02.12.2020 – V B 25/20 (AdV), BFHE 271, 48, BStBl II 2021, 263, Rz 25; und vom 19.07.2010 – I B 207/09, Rz 8[↩]
- FG Düsseldorf, Urteil 18.05.2022 – 4 K 892/21 VBr[↩]
- BFH, Beschlüsse vom 30.12.2022 – XI B 61/22, Rz 11; und vom 05.02.2014 – XI B 73/13, Rz 12[↩]
- BFH, Urteil vom 21.07.2016 – X R 11/14, BFHE 254, 497, BStBl II 2017, 22, Rz 16[↩]