Der Umdeutung bedarf es nicht, wenn sich der beabsichtigte Inhalt eines Abrechnungsbescheids bereits im Wege der Auslegung bestimmen lässt und die erlassende Behörde im Rahmen der Einspruchsentscheidung eine entsprechende Klarstellung vornimmt; darin liegt auch keine unzulässige Verböserung.

Die Korrektur der Bezeichnung der steuerlichen Nebenleistungen als Säumniszuschläge im Einspruchsverfahren ist damit zulässig und verstößt insbesondere nicht gegen § 367 Abs. 2 Satz 2 AO.
Dies folgt für den Bundesfinanzhof bereits daraus, dass schon der ursprüngliche Abrechnungsbescheid trotz der falschen Bezeichnung der steuerlichen Nebenleistungen als „Zinsen“ als eine Abrechnung über Säumniszuschläge auszulegen war. Die Einspruchsentscheidung beinhaltet insofern eine bloße Klarstellung.
Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) sind gemäß § 218 Abs. 1 Satz 1 AO die Steuerbescheide, Steuervergütungsbescheide, Haftungsbescheide und die Verwaltungsakte, durch die steuerliche Nebenleistungen festgesetzt werden; bei den Säumniszuschlägen genügt die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands (§ 240 AO). Nach § 3 Abs. 4 AO sind steuerliche Nebenleistungen insbesondere Zinsen (Nr. 4) und Säumniszuschläge (Nr. 5).
Wird eine Steuer oder eine zurückzuzahlende Steuervergütung nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet, so ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1 % des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu entrichten; abzurunden ist auf den nächsten durch 50 € teilbaren Betrag (§ 240 Abs. 1 AO). Im Gegensatz zu Zinsen bedürfen Säumniszuschläge nach der ausdrücklichen Regelung in § 218 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AO keiner Festsetzung (vgl. auch § 239 AO versus § 240 AO).
Gemäß § 218 Abs. 2 Satz 1 AO entscheidet die Finanzbehörde über Streitigkeiten, die die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis betreffen, durch Abrechnungsbescheid. Dies gilt nach § 218 Abs. 2 Satz 2 AO auch, wenn die Streitigkeit einen Erstattungsanspruch (§ 37 Abs. 2 AO) betrifft. Der Abrechnungsbescheid enthält grundsätzlich nur die Feststellung, ob und inwieweit der festgesetzte Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis bereits verwirklicht (also erfüllt) oder noch zu verwirklichen ist. Als Ausnahme ist anerkannt, dass der Abrechnungsbescheid bei Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit der Erhebung von Säumniszuschlägen (§ 240 AO) unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nicht nur über den Fortbestand der Zahlungsverpflichtung, sondern auch darüber entscheidet, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe Säumniszuschläge überhaupt entstanden sind1.
So auch in dem hier entschiedenen Fall: Bereits der ursprüngliche Abrechnungsbescheid über „Steuerliche Nebenleistungen (Zinsen)“ war nach dem Empfängerhorizont als ein Abrechnungsbescheid über steuerliche Nebenleistungen in Gestalt von Säumniszuschlägen auszulegen. Schon deshalb war die Familienkasse berechtigt, den offensichtlich irrigen Klammerzusatz („Zinsen“) in der Einspruchsentscheidung zu berichtigen.
Bei der Auslegung eines Bescheids sind die §§ 133, 157 BGB entsprechend anzuwenden. Die Auslegung durch das Finanzgericht ist im Revisionsverfahren in vollem Umfang nachprüfbar. Maßgebend ist der objektive Erklärungsgehalt der Regelung, wie der Empfänger sie nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte2. Abzustellen ist auf den Zugangszeitpunkt. Im Zweifel ist das für den Betroffenen weniger belastende Auslegungsergebnis vorzuziehen, da er als Empfänger einer auslegungsbedürftigen Willenserklärung der Verwaltung durch etwaige Unklarheiten aus ihrer Sphäre nicht benachteiligt werden darf3.
Nach dem Empfängerhorizont des Empfängers beziehungsweise seines Bevollmächtigten war der Abrechnungsbescheid vom 12.12.2018 unzweifelhaft im Sinne einer Abrechnung über Säumniszuschläge auszulegen. Hierfür sprach zunächst der Rückforderungsbescheid vom 15.01.2018, in dem die Familienkasse ausdrücklich auf die Entstehung von Säumniszuschlägen nach § 240 AO für den Fall hinwies, dass der Rückforderungsbetrag nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet werde (vergleiche auch den entsprechenden Hinweis im Abrechnungsbescheid selbst). Für die korrigierende Auslegung spricht ferner, dass der Bevollmächtigte des Empfängers in den Schreiben vom 24.03.2018; und vom 21.06.2018 ausdrücklich den Erlass angefallener Säumniszuschläge beantragt hatte. Er brachte damit zum Ausdruck, dass ihm die Entstehung von Säumniszuschlägen bewusst war (vergleiche vorliegend seine Anträge auf Stundung und AdV). Ebenfalls bewusst war ihm, dass keine Grundlage für die Entstehung von Stundungs- oder Aussetzungszinsen bestand und die Familienkasse vor dem Abrechnungsbescheid vom 12.12.2018 keine Zinsen festgesetzt hatte. Für die von ihm unterstellte „Zinsfestsetzung“ im Abrechnungsbescheid selbst sprach in dieser Situation nichts. Der Bevollmächtigte konnte und musste nach seinen tatsächlichen und rechtlichen Kenntnissen die „Zinsen“ somit von Anfang an als Säumniszuschläge verstehen. Aufgrund seiner Sachkunde bestand an dieser Auslegung des Bescheids trotz der Falschbezeichnung der steuerlichen Nebenleistungen kein Zweifel („falsa demonstratio non nocet“)4.
Die Einspruchsentscheidung beinhaltet nach dieser Bescheidauslegung keine unzulässige Verböserung.
Die für die Entscheidung über den Einspruch zuständige Finanzbehörde (vgl. § 367 Abs. 1 AO) hat die Sache gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO in vollem Umfang erneut zu prüfen. Die erneute Sachprüfung im Einspruchsverfahren erfolgt unabhängig vom Vorbringen und Rechtsbehelfsantrag des Einspruchsführers. Der Verwaltungsakt kann nach § 367 Abs. 2 Satz 2 AO auch zu dessen Nachteil geändert werden, wenn er auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich hierzu zu äußern5.
Die wegen der in A lebenden Mutter sachlich zuständige Familienkasse hat nach der erneuten Sachprüfung in der Einspruchsentscheidung vom 30.07.2019 klargestellt, dass es sich bei den im Abrechnungsbescheid vom 12.12.2018 genannten „Zinsen“ um Säumniszuschläge handelte. Hierin lag eine bloße Korrektur einer aus der Perspektive des Bevollmächtigten des Empfängers ohnehin offenkundigen Falschbezeichnung. Eines vorherigen Hinweises auf eine beabsichtigte Verböserung bedurfte es nicht, weil die bloße Klarstellung keine Änderung des Abrechnungsbescheids zum Nachteil des Empfängers im Sinne des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO war6. Die Feststellung steuerlicher Nebenleistungen in Höhe von 468 € blieb unverändert.
Angesichts des Ergebnisses der Auslegung des Abrechnungsbescheids bedarf es auch keiner Umdeutung des Bescheids gemäß § 128 AO7.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 17. August 2023 – III R 37/22
- vgl. BFH, Urteil vom 19.03.2019 – VII R 27/17, BFHE 263, 483, BStBl II 2020, 31, Rz 14 f.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 26.11.2009 – III R 87/07, BFHE 227, 466, BStBl II 2010, 429, unter II. 2.a; BFH, Urteil vom 22.08.2007 – II R 44/05, BFHE 218, 494, BStBl II 2009, 754, unter II.B.01.b aa[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 18.02.1997 – VII R 96/95, BFHE 182, 282, BStBl II 1997, 339, unter 2.a; und vom 23.06.1998 – VII R 119/97, BFH/NV 1998, 1322, unter 3.a[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 08.02.2001 – VII B 82/00, BFH/NV 2001, 1003, unter 1.b[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 14.04.2021 – III R 50/20, BFHE 273, 385, BStBl II 2021, 866, Rz 26[↩]
- vgl. zum Begriff der Verböserung BFH, Beschluss vom 23.10.2019 – IX B 20/19, BFH/NV 2020, 215, Rz 7; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 367 AO Rz 177 und 183 ff.[↩]
- vgl. zu den diese Vorschrift betreffenden Rechtsgrundsätzen BFH, Urteil vom 22.08.2007 – II R 44/05, BFHE 218, 494, BStBl II 2009, 754, Rz 20 und zum Verhältnis von Auslegung und Umdeutung BFH, Urteil vom 09.10.2019 – I R 67/17, BFH/NV 2020, 681, Rz 11[↩]