Das Merkmal „vollständige Anschrift“ in § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG erfüllt nur die Angabe der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers, unter der er seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfaltet. Sind Tatbestandsmerkmale des Vorsteuerabzugs nicht erfüllt, kann dieser im Festsetzungsverfahren auch dann nicht gewährt werden, wenn der Leistungsempfänger hinsichtlich des Vorliegens dieser Merkmale gutgläubig war.

Fehlen die für den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG erforderlichen Rechnungsangaben oder sind sie -wie im hier entschiedenen Fall- unzutreffend, besteht für den Leistungsempfänger kein Anspruch auf Vorsteuerabzug1.
Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG setzt die Ausübung des Vorsteuerabzugs voraus, dass der Unternehmer eine nach §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt. Eine solche Rechnung muss gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG die vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers enthalten.
Unionsrechtliche Grundlage dieser Vorschrift ist Art. 178 Buchst. a MwStSystRL. Danach muss der Steuerpflichtige, um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, eine gemäß Titel – XI Kap. 3 Abschn. 3 bis 6 (Art. 219a bis Art. 240 MwStSystRL) ausgestellte Rechnung besitzen. Eine derartige Rechnung muss gemäß Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL ebenfalls die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen enthalten.
Das Merkmal „vollständige Anschrift“ in § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG erfüllt nur die Angabe der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers, unter der er seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfaltet. Denn sowohl Sinn und Zweck der Regelung in § 15 Abs. 1, § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG als auch das Prinzip des Sofortabzugs der Vorsteuer gebieten es, dass der Finanzverwaltung anhand der Rechnung eine eindeutige und leichte Nachprüfbarkeit des Tatbestandsmerkmals der Leistung eines anderen Unternehmers ermöglicht wird. Deshalb ist der Abzug der in der Rechnung einer GmbH ausgewiesenen Umsatzsteuer nur möglich, wenn der in der Rechnung angegebene Sitz der GmbH bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungstellung tatsächlich bestanden hat. Der den Vorsteuerabzug begehrende Leistungsempfänger trägt hierfür die Feststellungslast, denn es besteht eine Obliegenheit des Leistungsempfängers, sich über die Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu vergewissern2. Die Angabe einer Anschrift, an der im Zeitpunkt der Rechnungstellung keinerlei geschäftliche Aktivitäten stattfinden, reicht als zutreffende Anschrift nicht aus3. Soweit der Bundesfinanzhof im Urteil in BFHE 217, 194, BStBl II 2009, 315 geäußert hat, ein „Briefkastensitz“ mit nur postalischer Erreichbarkeit könne ausreichen, hält er hieran nicht mehr fest. Eine von der Unternehmerin hervorgehobene Prüfung anhand von Art. 12 GG kommt nicht in Betracht; denn die Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) hat keinen Spielraum in der Umsetzung der Richtlinie. Deshalb gelten keine verfassungsrechtlichen Maßstäbe4.
Die Beurteilung steht nach Einschätzung des Bundesfinanzhofs auch im Einklang mit dem Unionsrecht.
Das Recht auf Vorsteuerabzug setzt neben den sonstigen Anforderungen als formelle Ausübungsvoraussetzung gemäß Art. 178 Buchst. a MwStSystRL den Besitz einer Rechnung voraus, die alle gemäß Titel – XI Kap. 3 Abschn. 3 bis 6 (Art. 219a bis Art. 240 MwStSystRL) erforderlichen Angaben enthält5. Dazu gehören gemäß Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL auch der vollständige Name und die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen. Dabei muss die Rechnung alle in Art. 226 MwStSystRL genannten Informationen enthalten6.
Dass die Angabe eines „Briefkastensitzes“ nicht ausreicht, folgt auch aus dem EuGH, Urteil Planzer Luxembourg7. Der EuGH hat darin zum Sitz einer wirtschaftlichen Tätigkeit i.S. von Art. 1 Nr. 1 der Dreizehnten Richtlinie 86/560/EWG des Rates vom 17.11.1986 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Verfahren der Erstattung der Mehrwerststeuer an nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige entschieden, dass sich eine fiktive Ansiedlung in der Form, wie sie für eine „Briefkastenfirma“ oder für eine „Strohfirma“ charakteristisch ist, nicht als derartiger Sitz ansehen lässt8. Das mag sich nicht unmittelbar auf den Begriff der „vollständigen Anschrift“ i.S. des Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL übertragen lassen. Der EuGH hat im selben Urteil aber auch entschieden, dass die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Realität ein grundlegendes Kriterium für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist9. Ein bloßer „Briefkastensitz“ bildet aber die wirtschaftliche Realität gerade nicht ab, sondern verschleiert sie.
Im Übrigen ist die Frage, die die Unternehmerin dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen anregt, nämlich, ob die D an ihrem Firmensitz auch ihre Anschrift im Sinne der MwStSystRL hatte, nicht entscheidungserheblich. Denn die Rechnung wies nach den Feststellungen des Finanzgericht als Anschrift gerade nicht den Firmensitz, sondern einen „Briefkastensitz“ aus.
Ob der Unternehmerin der Vorsteuerabzug wegen ihres guten Glaubens an die Richtigkeit der Rechnungsangaben der D zu gewähren ist, ist im vorliegenden Festsetzungsverfahren nicht zu entscheiden.
§ 15 UStG sieht den Schutz des guten Glaubens an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen im Festsetzungsverfahren nicht vor. Vertrauensschutz kann aufgrund besonderer Verhältnisse des Einzelfalls nach nationalem Recht nicht im Rahmen der Steuerfestsetzung nach §§ 16, 18 UStG, sondern nur im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme gemäß §§ 163, 227 AO gewährt werden10. Hieran hält der Bundesfinanzhof fest.
Dem steht das Unionsrecht nicht entgegen. Denn nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind mangels einer einschlägigen Unionsregelung die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats11. Unionsrechtlichen Belangen wird im Rahmen von Vertrauensschutzgesichtspunkten beim Vorsteuerabzug dadurch Rechnung getragen, dass das dem Finanzamt in § 163 AO eingeräumte Ermessen auf Null reduziert ist, wenn unionsrechtliche Regelungen eine Billigkeitsmaßnahme erfordern12. Macht der Steuerpflichtige Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes im Festsetzungsverfahren geltend, wird die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 Satz 3 AO regelmäßig mit der Steuerfestsetzung zu verbinden sein. Hieran hält der Bundesfinanzhof fest.
Die jüngere Rechtsprechung des EuGH gibt keinen Anlass, den Vorsteuerabzug trotz des Fehlens einzelner materieller oder formeller Merkmale wegen des guten Glaubens des Leistungsempfängers an deren Vorliegen zu gewähren.
Die EuGH-Urteile Mahagebén und Dávid13, Maks Pen14 und Bonik15 begrenzen die Verfahrensautonomie Deutschlands nicht und zwingen nicht dazu, Gutglaubensschutzgesichtspunkte im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen.
Die genannten EuGH, Urteile zielen nicht darauf ab, ein nicht vorliegendes Tatbestandsmerkmal des Vorsteuerabzugs durch den guten Glauben des Leistungsempfängers an dessen Vorliegen zu ersetzen. Denn in den vom EuGH in den Entscheidungen Mahagebén und Dávid, Maks Pen und Bonik beurteilten Sachverhalten stand aufgrund der Vorlageentscheidungen fest, dass die nach der MwStSystRL vorgesehenen materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt waren16. Liegen die materiellen und formellen Voraussetzungen der Berechtigung zum Vorsteuerabzug aber vor, so gibt es für Vertrauensschutzgesichtspunkte keinen Anwendungsbereich. Diese können erst zum Tragen kommen, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Rechts auf Vorsteuerabzug fehlen, der Steuerpflichtige aber gutgläubig von deren Vorliegen ausging und ausgehen konnte.
Der EuGH hat in den o.g. Entscheidungen das Recht auf Vorsteuerabzug nicht durch Vertrauensschutzgesichtspunkte erweitert, sondern -ebenso wie bereits im Urteil Kittel und Recolta Recycling vom 06.07.2006 – C-439/04, – C-440/0417, dem sich der Bundesfinanzhof bereits angeschlossen hat18- begrenzt, indem er den Vorsteuerabzug selbst dann versagt, wenn dessen Voraussetzungen zwar tatsächlich vorliegen, jedoch aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 22. Juli 2015 – V R 23/14
- BFh, Urteile vom 02.09.2010 – V R 55/09, BFHE 231, 332, BStBl II 2011, 235, unter II. 3.; vom 17.12 2008 – XI R 62/07, BFHE 223, 535, BStBl II 2009, 432[↩]
- ständige Rechtsprechung, z.B. BFH, Urteile vom 30.04.2009 – V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744, unter II. 1.b; vom 06.12 2007 – V R 61/05, BFHE 221, 55, BStBl II 2008, 695, unter II. 3.b; vom 19.04.2007 – V R 48/04, BFHE 217, 194, BStBl II 2009, 315, unter II.C.01.a und II.C.03.b; vom 27.06.1996 – V R 51/93, BFHE 181, 197, BStBl II 1996, 620, unter II. 1.[↩]
- BFH, Urteile vom 08.07.2009 – XI R 51/07, BFH/NV 2010, 256, unter II. 1.c; in BFHE 181, 197, BStBl II 1996, 620, Orientierungssatz 3 und unter II. 1.; anderer Ansicht für die Verwendung eines Postfaches durch den Leistungsempfänger Abschn. 14.5 Abs. 2 Satz 3 USt-AE[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.07.2011 – 1 BvR 1916/09, Le Corbusier, Designermöbel Urheberrecht, BVerfGE 129, 78[↩]
- EuGH, Urteil Mahagebén und Dávid vom 21.06.2012 – C-80/11, – C-142/11, EU:C:2012:373, Rz 43, 44, 52[↩]
- EuGH, Urteile Pannon Gép vom 15.07.2010 – C-368/09, EU:C:2010:441, Rz 40 ff.; Dankowski vom 22.12 2010 – C-438/09, EU:C:2010:818, Rz 29 zu der im Wesentlichen inhaltsgleichen Regelung in Art. 22 Abs. 3 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern[↩]
- EuGH, EU:C:2007:397[↩]
- EuGH, Urteil Planzer Luxembourg, EU:C:2007:397, Rz 62[↩]
- EuGH, Urteil Planzer Luxembourg, EU:C:2007:397, Rz 43[↩]
- ständige Rechtsprechung, z.B. BFH, Urteile in BFHE 231, 332, BStBl II 2011, 235; in BFH/NV 2010, 256; vom 12.08.2009 – XI R 48/07, BFH/NV 2010, 259; vom 30.04.2009 – V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744[↩]
- EuGH, Urteil Reemtsma vom 15.03.2007 – C-35/05, EU:C:2007:167, Rz 40, m.w.N.; vgl. auch EuGH, Urteil Schmeink & Cofreth und Strobel vom 19.09.2000 – C-454/98, EU:C:2000:469, Rz 65, 66, Leitsatz 2 zur Berichtigung von zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer[↩]
- BFH, Urteil vom 30.07.2008 – V R 7/03, BFHE 223, 372, BStBl II 2010, 1075, unter II. 5.; vgl. auch BFH, Urteil vom 08.03.2001 – V R 61/97, BFHE 194, 517, BStBl II 2004, 373, unter II. 5.[↩]
- EuGH, EU:C:2012:373[↩]
- EuGH, Urteil vom 13.02.2014 – C-18/13, EU:C:2014:69[↩]
- EuGH, Urteile vom 06.12 2012 – C-285/11, EuGH, EU:C:2012:774[↩]
- EuGH, Urteile Mahagebén und Dávid, EU:C:2012:373, Rz 43, 44, 52; Maks Pen, EU:C:2014:69, Rz 25, und Bonik, EU:C:2012:774, Rz 29, 33, 40[↩]
- EuGH, EU:C:2006:446[↩]
- BFH, Urteile in BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744; in BFHE 217, 194, BStBl II 2009, 315[↩]