Wegen bis zum 31.05.2013 begangener Taten darf die Sicherungsverwahrung weiterhin nur mit der Einschränkung strikter Verhältnismäßigkeit im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 20111 angeordnet werden.

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 04.05.2011, die den § 66 StGB „für verfassungswidrig und nichtig erklärt“ hat, und nach Ablauf der bis zum 31.05.2013 geltenden Übergangsfrist „bislang noch keine neue Regelung durch den Gesetzgeber getroffen wor-
Am 1.06.2013 ist das „Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung“ vom 05.12 20122 in Kraft getreten ist, mit dem der Gesetzgeber das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 04.05.20111, das § 66 StGB für verfassungswidrig erklärt hatte, umgesetzt hat. Für Tatzeiträume vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ist danach – mit der nachfolgend dargestellten Einschränkung – § 66 StGB in der Fassung des „Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen“ vom 22.12 20103 anzuwenden (Art. 316e Abs. 1 Satz 1, Art. 316f Abs. 2 Satz 1 EGStGB).
Ungeachtet der fehlenden Angabe von Tatzeiten, Einzelstrafen und Haftzeiten aus den beiden genannten Vorverurteilungen sind jedenfalls die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB gegeben; möglicherweise liegen sogar diejenigen des § 66 Abs. 1 StGB vor. Nach den Ausführungen des Landgerichts ist es darüber hinaus – wenngleich die beschwerdeführende Staatsanwaltschaft nicht auf Anordnung von Sicherungsverwahrung angetragen hat – möglich, dass auch die materiellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB erfüllt sind.
Auch die aufgrund der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts4 nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts im vorliegenden „Altfall“ weiterhin vorzunehmende „strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung“ steht der Anordnung der Sicherungsverwahrung hier nicht von vornherein entgegen.
Die am 1.06.2013 in Kraft getretene Neuregelung enthält überaus kompliziert ausgestaltete Übergangsvorschriften5. Hiernach sind für die abgeurteilten Tatzeiträume gemäß Art. 316f Abs. 2 Satz 1 EGStGB „die bis zum 31.05.2013 geltenden Vorschriften über die Sicherungsverwahrung“ (nach Maßgabe der hier nicht einschlägigen Sätze 2 bis 4) anzuwenden. Gemäß Art. 316e Abs. 1 Satz 1 EGStGB handelt es sich um § 66 StGB in der Fassung des „Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen“ vom 22.12 20103. Diese Vorschrift war zur Tatzeit nur mit der Maßgabe „strikter Verhältnismäßigkeit“ anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht in dem genannten Urteil6 gemäß § 35 BVerfGG wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz infolge Verletzung des Abstandsgebotes einschränkend verlangt hat.
Indem der Gesetzgeber in der Übergangsvorschrift ausdrücklich auf die bisherigen Vorschriften abgestellt hat, hat er – freilich entgegen seiner erklärten Absicht7 – die zur Tatzeit geltende Rechtslage fortgeschrieben, damit aber auch die Einschränkung aufgrund der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts. Der Wortlaut der Übergangsvorschrift muss, da er die bisherige Rechtslage hervorhebt; vom Normadressaten nach Auffassung des Bundesgerichtshofs im Sinne eines solchen Vertrauensschutzes verstanden werden8. Dass der Gesetzgeber in den Folgesätzen weitergehende ausdrückliche Fortschreibungen vom Bundesverfassungsgericht vorgegebener Einschränkungen für Fälle besonderen Vertrauensschutzes vorgenommen hat9, rechtfertigt angesichts des rückbezogenen Wortlauts der Regelung des ersten Satzes trotz des entsprechenden Willens des Gesetzgebers nicht, die Einschränkung des Bundesverfassungsgerichts für sonstige vor Inkrafttreten der Neuregelung begangene Taten als überwunden zu verstehen.
Zu einem so weit gehenden Vertrauensschutz wäre der Gesetzgeber nach Art. 103 Abs. 2 GG zwar nicht verpflichtet gewesen, womöglich auch nicht nach dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes (vgl. § 2 Abs. 6 StGB). Eine vertrauensschützende Fortgeltungsanordnung, wie sie der Bundesgerichtshof dem Wortlaut des Art. 316f Abs. 2 Satz 1 EGStGB entnimmt, ist indes unbedenklich und rechtsstaatlich ausgewogen. Andernfalls müssten nämlich Täter, die – wie der Angeklagte – ihre Anlasstat vor Inkrafttreten der Neuregelung begangen haben, eine Rechtsverschärfung gegenüber der Rechtslage zur Tatzeit hinnehmen, ohne dass diese im Sinne des Opferschutzes, an dem die vom Bundesverfassungsgericht verlangte einschränkende Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeit sich orientiert, unerlässlich wäre; dies würde insbesondere auch in Fällen wie dem vorliegenden gelten, die nicht bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung des Abstandsgebotes am 1.06.2013 tatgerichtlich abgeurteilt worden sind, obgleich dies ohne weiteres möglich gewesen wäre (hier: Tatzeit bis Sommer 2012; Inhaftierung des Angeklagten im November 2012; Anklage im Februar 2013). Soweit der Bundesgerichtshof bislang die Fortgeltung des vom Bundesverfassungsgericht für die Weitergeltung des § 66 StGB verlangten Maßstabes strikter Verhältnismäßigkeit aufgrund im Rechtsstaatsprinzip verankerten Vertrauensschutzes nur in Fällen verlangt hat, in denen – anders als hier – ein tatgerichtliches Urteil bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen war10, brauchte er ein weitergehendes vertrauensschützendes Verständnis von der Übergangsvorschrift nicht zu erwägen.
Bei „strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung“ scheidet die Anordnung der Sicherungsverwahrung im vorliegenden Fall – entgegen der Auffassung der Verteidigung in der Revisionshauptverhandlung – nicht von vornherein aus.
Zumindest Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB, wie sie der Angeklagte wiederholt begangen hat, sind im Hinblick auf die für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen und die hohe Strafdrohung unabhängig von körperlicher Gewaltanwendung – unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls – grundsätzlich als schwere Sexualstraftaten im Sinne der Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts zu werten11. Allerdings werden bei der tatgerichtlichen Wertung das fortgeschrittene Lebensalter des Angeklagten und seine nicht auf Kinder fixierten sexuellen Neigungen zu bedenken sein sowie der Umstand, dass die einzige schwerwiegende abgeurteilte Tat des Angeklagten zum Nachteil eines bereits 13jährigen Jungen verübt wurde, der ohne Zwangseinwirkung bereit war, entsprechende Sexualpraktiken gegen Entgelt hinzunehmen. Freilich gebietet die letztgenannte Besonderheit auch vor dem Hintergrund der mit Hilfe des Sachverständigen konkret festgestellten Neigungen des Angeklagten, günstige „Gelegenheiten“ auszunutzen, bei denen die jeweiligen Geschädigten die sexuellen Handlungen bereitwillig ausführen ließen, mit Blick auf Opferschutzgesichtspunkte für sich genommen noch nicht die Annahme eines Ausnahmefalles. Immerhin bleibt zu beachten, dass gerade „wehrlose“ Kinder, die von ihren Familien und ihrem sonstigen sozialen Nahraum ersichtlich keinen ausreichenden Schutz erfahren und deshalb anfällig dafür sind, Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden, auf den Schutz des Strafrechts vor schweren sexuellen Übergriffen angewiesen sind. Der Umstand, dass der Angeklagte sich die Bereitschaft des Jungen zur Hinnahme sexueller Handlungen durch Geldzahlungen erkaufte, kann zudem ein frühes Abgleiten des Geschädigten in die Prostitution und einen sozial randständigen Lebensstil begünstigen.
Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht wird unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 1 StPO) die Voraussetzungen des § 66 StGB – unter der Einschränkung strikter Verhältnismäßigkeit – zu prüfen, für den Fall des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB darüber hinaus die gebotene Ermessensentscheidung zu treffen haben.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 11. März 2014 – – 5 StR 563/13
- BVerfGE 128, 326[↩][↩]
- BGBl. I 2425[↩]
- BGBl. I 2300[↩][↩]
- BVerfG, aaO[↩]
- vgl. Fischer, StGB, 61. Aufl., § 66 Rn. 17; Jehle in SSW-StGB, 2. Aufl., § 66 Rn. 5, 52[↩]
- BVerfG, aaO, S. 406, Rn. 172[↩]
- vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 07.11.2012, BT-Drs. 17/11388 S. 24; entsprechend wohl schon der Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 17/9874 S. 12[↩]
- so auch Renzikowski, NJW 2013, 1638, 1642; abweichend Jehle, aaO Rn. 54; Zimmermann, HRRS 2013, 164, 170[↩]
- BVerfG, aaO Rn. 173; vgl. dazu den Gesetzentwurf der Bundesregierung, aaO; Zimmermann, aaO, S. 166[↩]
- BGH, Urteile vom 23.04.2013 – 5 StR 610 und 617/12 – und 12.06.2013 – 5 StR 129/13, NStZ 2013, 522 und 524[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 23.04.2013 – 5 StR 617/12; und vom 19.02.2013 – 1 StR 275/12, jeweils NStZ-RR 2014, 43[↩]