Unabhängig von der Dauer der Hauptverhandlung ist der Lauf der in § 229 Absatz 1 und 2 StPO genannten Unterbrechungsfristen gehemmt, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate; diese Fristen enden frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung. Mit der Anwendbarkeit dieses neu geschaffenen Hemmungsgrundes des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO bei ärztlich angeratener Kontaktvermeidung eines Prozessbeteiligten zum Schutz von dessen Ehegatten vor einer Ansteckung durch das SARS-CoV-2-Virus hatte sich jetzt der Bundesgerichtshof zu befassen.

Dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs lag folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Am Ende des Hauptverhandlungstages vom 13.03.2020 bestimmte der Vorsitzende als Fortsetzungstermin den 31.03.2020. Tatsächlich wurde die Hauptverhandlung jedoch erst am 30.04.2020 fortgesetzt. An diesem Tag verkündete das Landgericht nach Anhörung der Prozessbeteiligten einen Beschluss, in dem festgestellt wurde, dass der Lauf der Unterbrechungsfrist vom 28.03.2020 bis zum 29.04.2020 gehemmt war. Zur Begründung berief sich das Landgericht auf § 10 EGStPO und führte aus, dass der Vorsitzende am 28.03.2020 von der Schöffin erfahren habe, dass sich ihr Ehemann am 14.04.2020 einem unaufschiebbaren operativen Eingriff am Herzen unterziehen müsse. Aus ärztlicher Sicht sei eine Ansteckung mit dem Coronavirus sowohl vor als auch nach der Operation bis zur Mitte der 18. Kalenderwoche unbedingt zu vermeiden, weshalb die Schöffin und ihr Ehemann fast jeglichen Außenkontakt innerhalb des fraglichen Zeitraums gemieden hätten.
Die Revision sieht einen Rechtsfehler zum einen darin, dass die Hemmung der Frist nicht innerhalb der Dreiwochenfrist des § 229 Abs. 1 StPO beschlossen wurde. Zum anderen hätten die Voraussetzungen des § 10 EGStPO nicht vorgelegen, da nicht die Schöffin selbst, sondern ein Angehöriger betroffen sei und zudem durch Schutzmaßnahmen während der Hauptverhandlung jegliche Gefahr der Ansteckung hätte vermieden werden können. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs greift die Verfahrensrüge jedoch nicht durch:
Dass das Gericht den Beginn der Hemmung nicht innerhalb der dreiwöchigen Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO festgestellt hat, stellt keinen Rechtsverstoß dar. Die Hemmung des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO tritt kraft Gesetzes ein. Der Feststellungsbeschluss hat nur insofern konstitutive Bedeutung, als er den Beginn und das Ende der Hemmung unanfechtbar feststellt1.
Es begegnet auch keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht einen Hemmungsgrund gemäß § 10 Abs. 1 EGStPO angenommen hat. Nach dieser Vorschrift ist der Lauf der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO genannten Unterbrechungsfristen gehemmt, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARSCoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate. Nach § 10 Abs. 1 Satz 2 EGStPO stellt das Gericht Beginn und Ende der Hemmung durch unanfechtbaren Beschluss fest.
Aufgrund dieser Unanfechtbarkeit kommt mit Blick auf § 336 Satz 2 Alt. 1 StPO eine Richtigkeitsprüfung über den Willkürmaßstab hinaus nicht in Betracht; sie ist auch verfassungsrechtlich nicht geboten2. Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO für eine Hemmung überhaupt nicht vorgelegen haben, sind nicht ersichtlich.
Die weitgehende Kontaktvermeidung des Ehemannes der Schöffin aufgrund einer ärztlichen Empfehlung stellte eine Schutzmaßnahme zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus dar. Die Schutzmaßnahme musste nicht gerichtlich oder gesundheitsbehördlich angeordnet oder empfohlen worden sein. § 10 EGStPO enthält insoweit keine Einschränkung. Es genügt, wenn sie nachvollziehbar der Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem Coronavirus dienen soll. Dies ist aufgrund der ärztlichen Empfehlung der Fall. Maßnahmen, die eine weitere Durchführung der Hauptverhandlung verhindern, sind auch solche, die dem Schutz von Personen dienen, die zur Risikogruppe gehören, wie beispielsweise ältere Personen, Personen mit Grunderkrankung oder einem unterdrückten Immunsystem3.
Dass die Schöffin nur mittelbar durch die Schutzmaßnahme betroffen war, ist unerheblich. Ein Hindernis für die Durchführung der Hauptverhandlung liegt auch vor, wenn es nur mittelbar auf Schutzmaßnahmen beruht4.
Es ist aus Rechtsgründen auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht keine anderen Maßnahmen als die Unterbrechung der Hauptverhandlung zum Schutz des Ehemannes der Schöffin getroffen hat. Die Annahme des Landgerichts, dass die Hauptverhandlung nicht durchgeführt werden konnte, ist jedenfalls nicht willkürlich.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19. November 2020 – 4 StR 431/20
- vgl. zu § 229 Abs. 3 StPO: BGH, Urteil vom 12.08.1992 – 5 StR 234/92, NStZ 1992, 550; Beschluss vom 18.02.2016 – 1 StR 590/15, NStZ-RR 2016, 178[↩]
- vgl. zur Parallelvorschrift des § 229 Abs. 3 Satz 2 StPO: BGH, Beschluss vom 20.04.2016 – 5 StR 71/16[↩]
- vgl. BT-Drs.19/18110, S. 32 f.[↩]
- vgl. BT-Drs.19/18110, S. 33[↩]
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