Abschiebehaft – und die fehlende Befristungsentscheidung

Das Fehlen der Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG steht der Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht entgegen, wenn sichergestellt ist, dass diese Entscheidung so rechtzeitig vor der beabsichtigten Abschiebung ergeht, dass der Betroffene noch im Inland eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung in die Wege leiten kann.

Abschiebehaft – und die fehlende Befristungsentscheidung

Beruhen Ausreisepflicht oder Haftgrund dagegen auf einer wegen des Verstoßes gegen ein Einreiseverbot auf Grund einer früheren Ausweisung oder Abschiebung unerlaubten Einreise, darf die Haft zur Sicherung der Abschiebung erst angeordnet werden, nachdem die Wirkungen der früheren Ausweisung oder Abschiebung befristet worden sind.

Richtig ist allerdings, dass seit dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache Filev und Osmani vom 19.09.20131 eine Ausweisung nur noch angeordnet werden darf, wenn gleichzeitig über die Befristung des Einreiseverbots entschieden wird2. Es trifft auch zu, dass die Abschiebung eines Betroffenen seit dem Urteil des Gerichtshofs nur erfolgen darf, wenn dem Betroffenen zuvor die Entscheidung über die Befristung des Einreiseverbots bekannt gemacht wird, und zwar so frühzeitig, dass er noch in Deutschland Rechtsschutz dagegen organisieren kann3. Der Betroffene durfte deshalb auf Grund des Ausweisungsbescheids der beteiligten Behörde vom 25.02.2008 auch vor dem Inkrafttreten des § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG am 1.08.2015 in sein Heimatland Vietnam nur abgeschoben werden, wenn das Einreiseverbot, das die Abschiebung auslösen würde, vorher nach Maßgabe des hier anzuwendenden § 11 Abs. 1 Sätze 3 bis 8 AufenthG aF (= § 11 Abs. 2 bis 7 AufenthG) befristet wurde. Die Befristung war ihm auch in einem zeitlichen Abstand vor der Abschiebung bekannt zu geben, die ihm erlaubte, ihre gerichtliche Überprüfung noch im Inland in die Wege zu leiten.

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Diese ausländerrechtlichen Vorgaben führen aber nicht dazu, dass Haft zur Sicherung der Abschiebung stets erst angeordnet werden dürfte, nachdem die Wirkungen der Ausweisung – Einreise- und Aufenthaltsverbot, Titelerteilungsverbot, § 11 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AufenthG aF = § 11 Abs. 1 AufenthG – gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG aF (= § 11 Abs. 2 bis 7 AufenthG) befristet worden sind. Die Anordnung von Sicherungshaft ist vielmehr, von einer noch darzustellenden Ausnahme abgesehen, schon vorher möglich, wenn sichergestellt ist, dass diese Befristung rechtzeitig vor der Abschiebung erfolgt.

Der Gesetzgeber behandelt die Entscheidung über die Ausweisung eines Ausländers und die Entscheidung über die Ausweisungswirkungen nicht als einen durch eine einheitliche Entscheidung abzuarbeitenden Gesamtvorgang. Er trennt vielmehr zwischen der Entscheidung über die Ausweisung einerseits und derjenigen über die Befristung der Ausweisungswirkungen andererseits. Dieses Konzept hat zur Folge, dass eine fehlerhafte Befristungsentscheidung nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung führt, sondern selbstständig angreifbar ist4. Das Fehlen der Befristungsentscheidung führt nicht dazu, dass die – als solche rechtmäßige – Ausweisung aufzuheben ist. Vielmehr kann der Betroffene vor den Verwaltungsgerichten zugleich mit Anfechtung der Ausweisung seinen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG aF (= § 11 Abs. 2 AufenthG) gerichtlich durchsetzen5. Das Fehlen der Befristung stellt damit im Grundsatz weder die durch die Ausweisung begründete Ausreisepflicht noch den Haftgrund in Frage.

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Anders ist es nur, wenn die Ausreisepflicht und/oder der Haftgrund daraus abgeleitet werden, dass der Betroffene wegen eines Verstoßes gegen ein auf einer früheren Ausweisung oder Abschiebung beruhendem Einreiseverbot unerlaubt eingereist ist. Dann nämlich lässt sich ohne die (nachträgliche) Entscheidung über die Wirkungen der früheren Ausweisung oder Abschiebung nicht beurteilen, ob Ausreisepflicht und Haftgrund bestehen. Die Haft darf in diesen Fällen erst angeordnet werden, nachdem die Befristung nachgeholt worden ist6. Ist die Einreise dagegen schon aus anderen Gründen – etwa wegen fehlender Einreisedokumente – unerlaubt, scheitert die Anordnung von Abschiebungshaft nicht von vornherein an dem Fehlen der Befristungsentscheidung7. Das gilt erst recht, wenn die Ausreisepflicht nicht kraft Gesetzes aus einer unerlaubten Einreise, sondern aus einer Ausweisung folgt und wenn die Haft auf einen anderen Haftgrund gestützt wird.

Das Fehlen der Befristungsentscheidung kann aber Auswirkungen auf die von dem Haftrichter nach § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG anzustellende Prognose haben. Bei dieser Prognose sind nämlich mögliche Hindernisse zu berücksichtigen, die dazu führen, dass die durch die Haft sicherzustellende Abschiebung nicht innerhalb des beantragten Zeitraums durchgeführt werden kann. Zu solchen Hindernissen kann der Antrag des Betroffenen auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Abschiebung gehören, dessen Behandlung durch die Verwaltungsgerichte der Haftrichter deshalb bei seiner Prognose zu berücksichtigen hat8. Entsprechendes gilt für das Fehlen der Befristungsentscheidung. Wird diese Entscheidung nicht so rechtzeitig vor der beabsichtigten Abschiebung erlassen, dass der Betroffene noch in Deutschland ihre gerichtliche Überprüfung veranlassen kann, muss die Abschiebung zurückgestellt werden. Das wiederum kann zu der Prognose führen, dass die Abschiebung im beantragten Zeitraum nicht gelingen wird und deshalb Haft zu ihrer Sicherung nicht angeordnet werden darf. Der Haftrichter muss daher nach § 26 FamFG von Amts wegen aufklären, ob der rechtzeitige Erlass der Befristungsentscheidung bei dem von der beteiligten Behörde geplanten Vorgehen sichergestellt ist. Rechtfertigen die Feststellungen diese Annahme, steht das Fehlen der Befristung der Anordnung von Abschiebungshaft nicht entgegen. Sie wäre allerdings nach § 426 FamFG wieder aufzuheben, wenn sich die Erwartung einer rechtzeitigen Befristung im Nachhinein als unzutreffend erweisen sollte.

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Daran gemessen stand im vorliegenden Fall das Fehlen der Befristungsentscheidung der Anordnung von Abschiebungshaft gegen den Betroffenen nicht entgegen. Die beteiligte Behörde hatte in ihrem Antrag angekündigt, über die Befristung der Wirkungen der durch die Ausreise nach Großbritannien noch nicht erledigten Ausweisung des Betroffenen vom 25.02.2008 (vgl. § 50 Abs. 3 AufenthG) unmittelbar nach der Rückkehr des Betroffenen nach Deutschland zu entscheiden. Die Abschiebung sollte nach den Angaben der beteiligten Behörde in dem Haftantrag im Anschluss an den nächstanstehenden Prüftermin nach Art. 6 des deutschvietnamesischen Rücknahmeabkommens9 im November 2014 erfolgen. Danach war der rechtzeitige Erlass der Befristungsentscheidung sichergestellt. Diese Erwartung ist durch den weiteren Ablauf bestätigt worden; die beteiligte Behörde hat die Befristungsentscheidung am Tag nach der Haftanordnung erlassen. Der Betroffene ist im November 2014 nach Vietnam abgeschoben worden und hatte ausreichend Zeit, eine gerichtliche Überprüfung der Befristungsentscheidung in die Wege zu leiten.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16. September 2015 – V ZB 194/14

  1. EuGH, Urteil vom 19.09.2013 – C297/12, ECLI:EU:C:2013:569[]
  2. BVerwG, InfAuslR 2013, 141 Rn. 11 f.; BVerwGE 143, 277 Rn. 30[]
  3. VGH Baden-Württemberg, ESVGH 63, 159, 161; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.03.2014 – OVG 12 S 113.1320 f.; VGH Kassel, InfAuslR 2015, 53, 55[]
  4. BVerwGE 143, 277 Rn. 32 mwN[]
  5. BVerwG, InfAuslR 2013, 141 Rn. 12[]
  6. BGH, Beschluss vom 08.01.2014 – V ZB 137/12, NVwZ 2014, 1111 Rn. 8, 13[]
  7. BGH, Beschluss vom 22.10.2014 – V ZB 64/14, InfAuslR 2015, 60 Rn. 12[]
  8. dazu BGH, Beschluss vom 12.05.2011 – V ZB 309/1019 f.[]
  9. vom 21.07.1995, BGBl. II S. 743 nebst Protokoll vom gleichen Tag, BGBl. II S. 746, dazu BGH, Beschluss vom 19.06.2013 – V ZB 96/12 11[]
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