Die Frage, ob die Gerichte für Arbeitssachen erhebliches Prozessvorbringen der Parteien und ggf. deren Beweisantritte bei ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigen dürfen bzw. müssen, beantwortet sich nach Inkrafttreten der DSGVO nach deren Vorschriften. Die DSGVO regelt die Zulässigkeit von Datenverarbeitungen auch im Verfahren vor den nationalen Zivilgerichten.

In dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall war der klagende Arbeitnehmer bei der beklagten Arbeitgeberin zuletzt als Mitarbeiter in der Gießerei beschäftigt. Die Arbeitgeberin wirft ihm unter anderem vor, am 2.06.2018 (Samstag) eine sog. Mehrarbeitsschicht in der Absicht nicht geleistet zu haben, sie gleichwohl vergütet zu bekommen. Nach dem übereinstimmenden Vortrag beider Parteien hat der Arbeitnehmer zwar an diesem Tag zunächst das Werksgelände betreten. Die auf einen anonymen Hinweis hin erfolgte Auswertung der Aufzeichnungen der durch ein Piktogramm ausgewiesenen und auch sonst nicht zu übersehenden Videokamera an Tor 5 zum Werksgelände ergab nach dem Vorbringen der Arbeitgeberin aber, dass der Arbeitnehmer dieses vor Schichtbeginn wieder verlassen hat. Zudem soll der Arbeitnehmer die Präsenz eines Kollegen vorgetäuscht haben, indem er vor Betreten des Geländes zunächst dessen Werksausweis vor das Kartenlesegerät hielt. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien – nach Anhörung des Betriebsrats – außerordentlich fristlos und mit weiterem Schreiben ordentlich zum 31.12.2019. Dagegen hat sich der Arbeitnehmer rechtzeitig mit der vorliegenden Klage gewandt und u.a. behauptet, er habe am 2.06.2018 gearbeitet. Die Erkenntnisse der Arbeitgeberin aus der Videoüberwachung und der elektronischen Anwesenheitserfassung unterlägen einem Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot. Dessen ungeachtet sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört worden. Die Arbeitgeberin habe die Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB für die außerordentliche Kündigung nicht eingehalten.
Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht Niedersachsen haben den Kündigungsschutzanträgen stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat zudem den Auflösungsantrag der Arbeitgeberin abgewiesen1. Die hiergegen gerichtete Revision der Arbeitgeberin war vor dem Bundesarbeitsgericht überwiegend erfolgreich; das Landesarbeitsgericht hat – der Sache nach – dem vorrangigen Antrag gegen die außerordentliche Kündigung rechtsfehlerhaft mit der Begründung entsprochen, es mangele an einem wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB:
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat im Ausgangspunkt zu Recht angenommen, dass bereits das dem Arbeitnehmer von der Arbeitgeberin vorgeworfene Verhalten am 2.06.2018 (Erschleichen von Vergütung hinsichtlich einer nicht abgeleisteten Mehrarbeitsschicht sowie Vortäuschen des Erscheinens eines Kollegen zur Arbeitsleistung) – wäre es unstreitig oder erwiesen – jeweils einen wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB für eine außerordentliche fristlose Kündigung bilden könne.
Des Weiteren ist das Landesarbeitsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass auch der dringende Verdacht eines solchen Verhaltens jeweils einen wichtigen Grund darstellen kann.
Allerdings hat das Landesarbeitsgericht Niedersachsen zu Unrecht gemeint, der Arbeitnehmer habe das Vorbringen der Arbeitgeberin – ungeachtet des möglichen Eingreifens eines Sachvortragsverwertungsverbots – ausreichend bestritten, wonach er die Mehrarbeitsschicht am 2.06.2018 in Täuschungsabsicht nicht abgeleistet und das Erscheinen seines Kollegen zur Arbeitsleistung vorgetäuscht habe. Das Landesarbeitsgericht hat die Grundsätze der abgestuften Darlegungslast verkannt, die eingreifen, wenn der Arbeitgeber Vortrag zu einer negativen Tatsache (hier: die Nichtableistung der Schicht nach vorherigem Vorspiegeln der Präsenz) halten muss2. Zudem hat es rechtsfehlerhaft angenommen, der Arbeitnehmer habe die Behauptung der Arbeitgeberin ausreichend bestritten, er habe den Werksausweis eines Kollegen vor das Kartenlesegerät gehalten, um auch dessen Anwesenheit vorzutäuschen.
Nach dem übereinstimmenden Vorbringen beider Parteien hat der Arbeitnehmer sich verbindlich für die Mehrarbeitsschicht am 2.06.2018 gemeldet und das Werksgelände vor Schichtbeginn mithilfe seines Werksausweises unter Auslösung einer elektronischen Anwesenheitserfassung durch ein Drehkreuz an Tor 5 betreten. Für den von der Arbeitgeberin vorrangig behaupteten Kündigungsvorwurf ist es ohne rechtliche Bedeutung, ob er seinen Namen anschließend selbst in eine vor Ort ausliegende Anwesenheitsliste eingetragen oder die Eintragung durch eine andere Person veranlasst hat. Allein entscheidend ist das Vorspiegeln einer Präsenz in der Absicht, die Schicht ohne Rechtfertigung nicht abzuleisten.
Letzteres war nach dem Vorbringen der Arbeitgeberin der Fall, weil der Arbeitnehmer das Werksgelände noch vor Beginn der Mehrarbeitsschicht wieder verlassen und es anschließend vor oder doch während der Schicht nicht erneut betreten haben soll. Damit hat die Arbeitgeberin ihrer primären Darlegungslast dafür genügt, dass der Arbeitnehmer die Mehrarbeitsschicht nicht abgeleistet haben kann (Negativum).
Hierauf hätte es dem Arbeitnehmer im Rahmen einer sekundären Darlegungslast oblegen, substantiiert vorzutragen, welche tatsächlichen Umstände für das Positivum – das ordnungsgemäße Ableisten der Mehrarbeitsschicht – sprechen. Dazu hätte er zunächst konkret darlegen müssen, ob er durchgehend auf dem Werksgelände geblieben sein oder dieses zwar noch einmal verlassen, aber rechtzeitig wieder betreten haben möchte. Daran fehlt es bislang. Das Landesarbeitsgericht hat auch keine Tatsachen festgestellt, die dem Arbeitnehmer eine Festlegung unzumutbar gemacht hätten3. Dagegen spricht, dass er nach seinem eigenen Vorbringen nur in seltenen Ausnahmefällen das Werksgelände noch vor einem Schichtbeginn, zunächst – wieder verlassen haben möchte. Deshalb müsste ihm dies ggf. in Erinnerung geblieben sein. Es tritt hinzu, dass nach dem eigenen Vorbringen des Arbeitnehmers lediglich am mit einem Pförtner besetzten Haupteingang ein Zutritt zum Werksgelände ohne Verwendung des Werksausweises zur Freischaltung eines Drehkreuzes bei gleichzeitiger elektronischer Anwesenheitserfassung möglich ist. Der Arbeitnehmer hätte daher ggf. – nach der Lebenserfahrung glaubhaft4 – erläutern müssen, warum ihm der überaus ungewöhnliche Wiederzutritt zum Werksgelände über den Haupteingang nicht mehr erinnerlich sein könnte. Ohne entsprechendes Vorbringen ist der Vortrag der Arbeitgeberin zum Nichtableisten der Mehrarbeitsschicht in Täuschungsabsicht durch den Arbeitnehmer nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen.
Nach den tatbestandlichen Feststellungen im Berufungsurteil hat der Arbeitnehmer den Vorwurf, im kollusiven Zusammenwirken mit einem Kollegen dessen Werksausweis vor das Kartenlesegerät an Tor 5 gehalten zu haben, lediglich einfach bestritten. Das genügt nicht. Vielmehr hätte er vortragen müssen, ob er den „fremden“ Werksausweis überhaupt nicht verwendet oder ihn vielmehr in einer redlichen Absicht (welcher?) gebraucht haben möchte.
Angesichts eines unzureichenden Bestreitens der beiden Vorwürfe durch den Arbeitnehmer hätte das Landesarbeitsgericht nicht nur ein Beweiserhebungs, sondern vorrangig ein Sachvortragsverwertungsverbot5 betreffend das Vorbringen der Arbeitgeberin prüfen müssen, aus dem sie das Fehlen einer Arbeitsleistung des Arbeitnehmers am 2.06.2018 sowie die missbräuchliche Verwendung des Werksausweises eines Kollegen ableitet. Indes greift weder ein Sachvortrags- noch ein Beweiserhebungsverbot ein. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen musste vielmehr nach Maßgabe von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Abs. 3 und ggf. Abs. 4 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Buchst. f und j DSGVO in Verbindung mit § 3 BDSG sowie den Vorgaben der Zivilprozessordnung (§§ 138, 286, 371 ff. ZPO) nicht nur das Vorbringen der Arbeitgeberin über das vorzeitige Verlassen des Werksgeländes durch den Arbeitnehmer seiner Entscheidung zugrunde legen, sondern ggf. auch die betreffende Bildsequenz aus der Überwachung an Tor 5 in Augenschein nehmen. Überdies hätte es ggf. die Erkenntnisse der Arbeitgeberin aus der elektronischen Anwesenheitserfassung betreffend den Einsatz des Werksausweises eines Kollegen berücksichtigen müssen.
Die Frage, ob die Gerichte für Arbeitssachen erhebliches Prozessvorbringen der Parteien und ggf. deren Beweisantritte bei ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigen dürfen bzw. müssen, beantwortet sich nach Inkrafttreten der DSGVO nach deren Vorschriften. Die DSGVO regelt die Zulässigkeit von Datenverarbeitungen auch im Verfahren vor den nationalen Zivilgerichten.
Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO ist die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig, wenn sie für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. Gemäß Art. 6 Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO kann die Rechtsgrundlage für entsprechende Verarbeitungen durch das Recht des Mitgliedstaats festgelegt werden, dem der Verantwortliche unterliegt. Dieses muss nach Art. 6 Abs. 3 Satz 4 DSGVO ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen. Davon ist auszugehen, wenn die Zivilgerichte6, zu denen nach unionsrechtlichem Verständnis auch die Gerichte für Arbeitssachen gehören7 – die ihnen durch das nationale Recht übertragenen gerichtlichen Befugnisse ausüben8.
Erfolgt diese Verarbeitung zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem die Daten erhoben wurden, ist das nach Art. 6 Abs. 4 DSGVO in Verbindung mit deren Erwägungsgrund 50 insbesondere zulässig, wenn die zweckändernde Verarbeitung auf dem Recht eines Mitgliedstaats beruht und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der in Art. 23 Abs. 1 DSGVO genannten Ziele darstellt. Ausweislich des Erwägungsgrundes 50 ist der Verantwortliche zum Schutz dieser wichtigen Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses berechtigt, die personenbezogenen Daten ungeachtet dessen weiterzuverarbeiten, ob sich die Verarbeitung mit den Zwecken, für die die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, vereinbaren ließ9. Zu den in Art. 6 Abs. 4 DSGVO normierten Zielen gehören nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. f DSGVO der „Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und der Schutz von Gerichtsverfahren“, wobei dieses Ziel nicht nur den Schutz der Rechtspflege vor internen oder externen Eingriffen, sondern auch eine ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleistet. Darüber hinaus stellt nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. j DSGVO die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche ebenfalls ein Ziel dar, das eine Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als demjenigen rechtfertigen kann, zu dem sie erhoben wurden10. Insoweit ist es unerheblich, ob deren Verarbeitung auf einer materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Vorschrift des nationalen Rechts beruht11. Den vorstehenden unionsrechtlichen Vorgaben genügen – was zu beurteilen Sache der deutschen Gerichte ist12 – die §§ 138, 286, 355 ff. ZPO. Diese Vorschriften des nationalen Rechts verpflichten die Parteien zu einem substantiierten und wahrheitsgemäßen Vorbringen und das Gericht zu dessen vollständiger Berücksichtigung und ggf. einer tatrichterlichen Würdigung auch im Hinblick auf eine etwaige Beweisaufnahme. Sie stellen nach Art. 6 Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO erforderliche Rechtsgrundlagen für entsprechende Verarbeitungen im gerichtlichen Verfahren dar.
Die – ggf. zweckändernde – Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch das Gericht kommt selbst dann in Betracht, wenn die vor- oder außergerichtliche Erhebung dieser Daten durch eine Prozesspartei sich nach Maßgabe der DSGVO oder des nationalen Datenschutzrechts – wie vom Landesarbeitsgericht angenommen – als rechtswidrig darstellt. Dies folgt ohne das Erfordernis eines darauf bezogenen Vorabentscheidungsverfahrens des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in aller Eindeutigkeit (acte clair) aus Art. 17 DSGVO. Nach dessen Abs. 1 Buchst. d sind zwar personenbezogene Daten zu löschen, wenn sie unrechtmäßig verarbeitet wurden, wozu nach Art. 4 Nr. 2 DSGVO auch ihre rechtswidrige Erhebung zählt. Von dem Recht auf Löschung unrechtmäßig verarbeiteter Daten besteht nach Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO jedoch insoweit eine Ausnahme, wie die weitere Verarbeitung der fraglichen Daten zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen „erforderlich“ ist. Dazu hat der Gerichtshof klargestellt, dass das Recht auf Schutz personenbezogener Daten kein uneingeschränktes Recht ist, sondern – wie in Erwägungsgrund 4 der DSGVO ausgeführt – im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden muss13. Selbst wenn Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO keine Rechtsgrundlage für die weitere Verarbeitung in diesen Fällen darstellte, läge der notwendige Erlaubnistatbestand in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Abs. 3 und ggf. Abs. 4 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Buchst. f und j DSGVO in Verbindung mit § 3 BDSG in Verbindung mit den oben genannten Normen der Zivilprozessordnung (§§ 138, 286, 355 ff. ZPO).
Das Bundesarbeitsgericht muss im Streitfall nicht abschließend darüber befinden, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein verfahrensrechtliches Verwertungsverbot für Tatsachen eingreifen kann, von denen ein Arbeitgeber durch eine unrechtmäßige Datenverarbeitung Kenntnis erlangt hat. Ein Sachvortrags- oder Beweisverwertungsverbot kommt – gerade auch im Geltungsbereich der DSGVO – nur in Betracht, wenn die Nichtberücksichtigung von Vorbringen oder eines Beweismittels wegen einer durch Unionsrecht oder Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition des Arbeitnehmers zwingend geboten ist. Dies ist bei einer von ihm vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung, die von einer offenen Überwachungsmaßnahme erfasst wurde, regelmäßig nicht der Fall.
Das Bundesarbeitsgericht kann zugunsten des von einer offenen Videoüberwachung betroffenen Arbeitnehmers unterstellen, dass – obwohl es eher zweifelhaft erscheint – das Merkmal der Erforderlichkeit in Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO eine volle Verhältnismäßigkeitsprüfung bedingt. Da die Vorschrift andernfalls leerliefe und Art. 47 Abs. 2 GRC das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und insbesondere auf ein faires Verfahren verbürgt, wonach die Parteien eines Zivilprozesses grds. in der Lage sein müssen, ihr Rechtschutzziel hinreichend zu begründen und unter Beweis zu stellen14, könnte sich die gerichtliche Verarbeitung von rechtswidrig durch den Arbeitgeber erhobenen personenbezogenen Daten des klagenden Arbeitnehmers jedenfalls nur als unangemessen (unverhältnismäßig im engeren Sinn) darstellen, wenn sich die Überwachungsmaßnahme nach Unionsrecht als schwerwiegende Verletzung von Art. 7 und Art. 8 GRC erwiese und andere mögliche Sanktionen für den Arbeitgeber (zB Schadenersatz nach Art. 82 DSGVO und Verhängung von Geldbußen nach Art. 83 DSGVO) gänzlich unzureichend wären.
Andererseits kann – was aber ebenfalls fraglich erscheint, zugunsten des klagenden Arbeitnehmers unterstellt werden, dass sich unter Geltung von Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO in verfassungskonformer Auslegung des nationalen Verfahrensrechts ausnahmsweise das Verbot für das Gericht ergeben kann, Sachvortrag oder Beweismittel zu verwerten, die im Zug einer das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) des Arbeitnehmers verletzenden Datenverarbeitung vom Arbeitgeber erlangt wurden. Ein solcher Tatbestand führte dazu, dass es an einer Rechtsgrundlage im mitgliedstaatlichen Verfahrensrecht iSv. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO fehlte. Dies hätte wiederum zur Folge, dass auch eine unionsrechtliche Ermächtigung für die Datenverarbeitung durch ein Gericht nicht vorhanden wäre.
Ein Verwertungsverbot kommt in Betracht, wenn dies wegen einer durch das Grundgesetz geschützten Rechtsposition einer Prozesspartei zwingend geboten ist. Das setzt in aller Regel voraus, dass die betroffenen Schutzzwecke des bei der Gewinnung verletzten Grundrechts der Verwertung der Erkenntnis oder des Beweismittels im Rechtsstreit entgegenstehen und deshalb die Verwertung selbst einen Grundrechtsverstoß darstellen würde. Dies ist der Fall, wenn das nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an die Grundrechte gebundene Gericht ohne Rechtfertigung in eine verfassungsrechtlich geschützte Position einer Prozesspartei eingriffe, indem es eine Persönlichkeitsrechtsverletzung durch einen Privaten perpetuierte oder vertiefte. Jenseits der sie treffenden Pflicht, ungerechtfertigte Grundrechtseingriffe zu unterlassen, können die Gerichte allenfalls dann wegen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht gehalten sein, einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Private aktiv zu begegnen und Sachvortrag oder Beweisantritte einer Partei aus Gründen der Generalprävention außer Acht zu lassen, wenn andernfalls die verletzte Schutznorm in den betreffenden Fällen leerliefe15.
Ein auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gestütztes Verwertungsverbot scheidet – selbst unter Berücksichtigung der vom Bundesarbeitsgericht zugunsten des betroffenen Arbeitnehmers unterstellten Vorgaben aus Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO – regelmäßig in Bezug auf solche Bildsequenzen aus einer offenen Videoüberwachung aus, die vorsätzlich begangene Pflichtverletzungen zulasten des Arbeitgebers zeigen (sollen), ohne dass es auf die Rechtmäßigkeit der gesamten Überwachungsmaßnahme ankäme.
Die Beeinträchtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung eines Arbeitnehmers durch eine offene Überwachungsmaßnahme wird zum einen durch die Verhaltenshemmung (psychischer Anpassungsdruck) und zum anderen durch die Verdinglichung des gleichwohl gezeigten Verhaltens samt der darin liegenden Gefahr der Verbreitung der Aufzeichnung bewirkt. Anders als bei einer verdeckten Überwachungsmaßnahme geht es bei einer für ihn erkennbaren Überwachung nicht um den Schutz vor einer (heimlichen) Ausspähung, sondern vielmehr „nur“ um Entfaltungs, Dokumentations- und Verbreitungsschutz. Ein Verwertungsverbot kommt lediglich in Betracht, wenn und soweit der Arbeitnehmer bezogen auf diese Zwecke schutzwürdig ist. Hieran fehlt es, wenn der Arbeitgeber durch die vorhandenen Daten von einer vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung Kenntnis erlangt und auf diese reagieren will. Der Arbeitnehmer wurde durch die vorangegangene Überwachung und Aufzeichnung seines Verhaltens nicht daran gehindert, selbstbestimmt zu handeln. Er hat sich vielmehr – trotz seiner Kenntnis von der Überwachung – für die Begehung einer Vorsatztat zulasten des Arbeitgebers entschieden. Zwar wurde dieses Verhalten dokumentiert und damit eine Verbreitung ermöglicht. Doch muss der Arbeitnehmer diese – von ihm angesichts der Offenheit der Überwachung erkennbare – Folge hinnehmen, soweit die betreffende Bildsequenz dazu verwendet wird, den „Tatbeweis“ in einem Kündigungsschutzprozess zu führen, also lediglich der Durchsetzung rechtlich geschützter Belange des Arbeitgebers dienen soll16. Das grundgesetzlich verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann nicht zu dem alleinigen Zweck in Anspruch genommen werden, sich der Verantwortung für vorsätzlich rechtswidriges Handeln zu entziehen17. Datenschutz ist kein Tatenschutz.
Aspekte der Generalprävention könnten allenfalls dann zu einem Verwertungsverbot in Bezug auf vorsätzliches Fehlverhalten des Arbeitnehmers führen, wenn sich die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers als solche trotz ihrer offenen Durchführung als schwerwiegende Verletzung des durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Rechts darstellt (denkbar zB bei offener Überwachung von Toiletten oder Umkleideräumen oder offener Dauerüberwachung ohne Rückzugsmöglichkeit18). Das entspricht angesichts der zugunsten des Arbeitnehmers unterstellten Vorgaben in Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO in Verbindung mit Art. 7 und Art. 8 GRC mit hinreichender Deutlichkeit dem Unionsrecht, was das Bundesarbeitsgericht ohne ein darauf bezogenes Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheiden kann.
Ein Verbot, inkriminierte Bildsequenzen aus einer offenen Videoüberwachung in Augenschein zu nehmen, besteht schließlich nicht deshalb, weil sie womöglich gar kein Verhalten des Arbeitnehmers zeigen, das eine vorsätzliche Verletzung der Rechtsgüter des Arbeitgebers darstellt oder doch auf eine solche hindeutet. Da Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 47 Abs. 2 GRC grds. gebieten, einem erheblichen Beweisantritt nachzugehen, darf eine Beweiserhebung nicht auf die bloße Möglichkeit ihrer Grundrechtswidrigkeit hin unterbleiben. Auch insofern bestehen für den betroffenen Arbeitnehmer ausreichende andere Schutzmechanismen. Ergibt die Inaugenscheinnahme „rein gar nichts“ iSd. Arbeitgebers, verliert dieser nicht nur den Prozess. Vielmehr kann in der weiteren Verarbeitung – eindeutig – irrelevanter Sequenzen und deren Einführung in einen Rechtsstreit eine schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung liegen, für die er unter den Voraussetzungen von § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG eine Geldentschädigung19 oder nach Art. 82 DSGVO immateriellen Schadenersatz schuldet20.
Im vorliegenden Rechtsstreit waren die – vermeintlichen – Erkenntnisse der Arbeitgeberin aus der Videoüberwachung an Tor 5 zum Werksgelände ebenso zu berücksichtigen, wie die Bildsequenz, die den Arbeitnehmer beim vorzeitigen Verlassen des Werksgeländes zeigen soll, ggf. als Beweismittel in Augenschein zu nehmen wäre. Das Gleiche gilt für die Erkenntnisse der Arbeitgeberin aus der elektronischen Anwesenheitserfassung.
Es handelte sich um eine offene, durch zumindest ein Piktogramm ausgewiesene und auch sonst nicht zu übersehende Videoüberwachung. Es ist rechtlich ohne Bedeutung, dass das Piktogramm – über das Monitoring hinaus – nicht gesondert auf eine Aufzeichnung und Speicherung der Bildsequenzen hingewiesen hat und die Arbeitgeberin ihren Informationspflichten aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 DSGVO möglicherweise nicht vollständig nachgekommen sein mag. Der Arbeitnehmer musste jedenfalls damit rechnen, dass auch eine Aufzeichnung und Speicherung seines „Passierverhaltens“ erfolgen könnte. Er wurde nicht heimlich „ausgespäht“, sondern hat sich einer Erfassung seiner möglichen vorsätzlichen Pflichtverletzung „sehenden Auges“ ausgesetzt. Anders hätte es allenfalls gelegen, wenn die Arbeitgeberin ihn in Bezug auf die Erfassung und Speicherung von vorsätzlichen Pflichtverletzungen „in Sicherheit gewiegt“ hätte21. Dafür ist indes nichts festgestellt. Anderes folgt nicht aus dem – streitigen und überdies unsubstantiierten – Vorbringen des Arbeitnehmers, dem Betriebsrat sei mitgeteilt worden, dass die Videoüberwachung dazu bestimmt sei, Dienstfremden und Mitarbeitern, die Probleme mit ihrem Werksausweis hätten, die Möglichkeit zu geben, über eine Klingel den Werkschutz zu kontaktieren, damit dieser das Werkstor aus der Ferne öffnen könne. Dem lässt sich schon nicht entnehmen, dass dies dem Betriebsrat als alleiniger Zweck der Videoüberwachung, zumal auch des Ausgangs vom Werksgelände – eröffnet worden sei. Dessen ungeachtet ist weder dargetan noch sonst ersichtlich, dass die Arbeitgeberin dem Betriebsrat erklärt hat, es erfolge ein reines Videomonitoring bzw. die Aufzeichnungen der Kameras sollten nicht ggf. zur Aufdeckung von vorsätzlichen Pflichtverletzungen genutzt werden.
Zwar hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt, welchen genauen Erfassungsbereich die Kameras an Tor 5 zum Werksgelände hatten. Doch kann das Vorliegen einer zu einem ständigen Anpassungs- und Leistungsdruck führenden Dauer- oder Totalüberwachung ausgeschlossen werden. Die Arbeitnehmer wurden im Wesentlichen nur beim Durchschreiten des Tores – bei Betreten des Werksgeländes zudem beim Vorhalten ihres Werksausweises vor das Kartenlesegerät – für eine kurze Zeit gefilmt. Ihre Intim- oder Privatsphäre wurde dabei nicht tangiert. Eine schwere Grundrechtsverletzung folgt auch nicht daraus, dass die Arbeitgeberin möglicherweise lange mit der erstmaligen Sichtung des Bildmaterials zugewartet und es bis dahin vorgehalten hat22.
Die elektronische Anwesenheitserfassung erfolgte ebenfalls offen. Sie war dem Arbeitnehmer bekannt. Mit ihr war keine schwerwiegende Grundrechtsverletzung verbunden. Der Arbeitnehmer wurde nicht durch die – sich aus dem angefochtenen Urteil nicht vollständig erschließenden – Regelungen einer am 17.10.2007 für das Werk H abgeschlossenen Betriebsvereinbarung über die Einführung einer elektronischen Anwesenheitserfassung (BV 2007) „in Sicherheit gewiegt“, wonach „keine personenbezogene Auswertung von Daten erfolgt“. Es kann unterstellt werden, dass die BV 2007 die vom Landesarbeitsgericht herangezogene Regelung enthält. Diese konnte in Bezug auf die dem Arbeitnehmer vorgeworfene dolose Verwendung des Werksausweises eines Kollegen jedenfalls keine berechtigte Privatheitserwartung begründen.
Die Vorinstanz ist begründungslos davon ausgegangen, dass durch die BV 2007 auch eine vorsätzliche Pflichtverletzung der rechtlichen Ahndung entzogen werden soll. Eine solche Auslegung begegnet schon deshalb Bedenken, weil die Vereitelung von Sanktionen auch für schwere Pflichtverletzungen kaum mit dem in § 2 Abs. 1 BetrVG genannten „Wohl des Betriebs“ als Ziel der Zusammenarbeit zwischen den Betriebsparteien vereinbar wäre. Von der Regelung in der vom Landesarbeitsgericht Niedersachsen verstandenen Weise begünstigt wäre – ohne ersichtlichen Grund – auch der vertragswidrig handelnde Vorsatztäter.
Selbst wenn die Betriebsparteien – was auch aus Sicht des Arbeitnehmers fernliegend erscheinen musste – dies gewollt haben sollten, würde ein Verstoß der Arbeitgeberin gegen das dort bestimmte „Auswertungsverbot“ nicht dazu führen, dass es den Gerichten für Arbeitssachen aufgrund einer berechtigten Privatheitserwartung des Arbeitnehmers verwehrt wäre, die in den Rechtsstreit eingeführten Erkenntnisse ihrer Entscheidung zugrunde zu legen.
Den Betriebsparteien fehlt die Regelungsmacht, ein über das formelle Verfahrensrecht der Zivilprozessordnung hinausgehendes Verwertungsverbot zu begründen oder die Möglichkeit des Arbeitgebers wirksam zu beschränken, in einem Individualrechtsstreit Tatsachenvortrag über betriebliche Geschehnisse zu halten23 und diesen unter Beweis zu stellen. Es kann dahinstehen, ob und ggf. in welchem Umfang sich der Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat überhaupt verpflichten kann, Erkenntnisse aus einer Datenverarbeitung nicht zu nutzen. Die Betriebsparteien sind zwar berechtigt, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte auszugestalten und ggf. zu erweitern. Dabei sind sie nicht auf die in § 88 BetrVG genannten Regelungsgegenstände beschränkt. Die Aufzählung der dort genannten Angelegenheiten ist nicht abschließend. Den Betriebsparteien fehlt jedoch die Befugnis zu Eingriffen in das gerichtliche Verfahren. Dieses steht nicht zu ihrer Disposition. Vielmehr obliegt seine Ausgestaltung dem Gesetzgeber. Allein dieser ist befugt, den gerichtlichen Verfahrensablauf zu bestimmen24. Dazu gehört auch die in §§ 138, 286 Abs. 1 ZPO bestimmte Möglichkeit, Tatsachenstoff in das Verfahren einzuführen und unter Beweis zu stellen, sowie die darauf bezogene Würdigung durch das Gericht.
Es tritt hinzu, dass das Recht zur – hier vorrangig erklärten – außerordentlichen Kündigung des Arbeitsvertrags gemäß § 626 BGB im Voraus weder verzicht- noch erheblich erschwerbar und eine gegenteilige Regelung nach § 134 BGB nichtig ist25. Zumindest auf eine erhebliche Erschwerung des Rechts zur außerordentlichen Kündigung liefe aber ein Verbot für den Arbeitgeber hinaus, Erkenntnisse aus einer Maßnahme zur elektronischen Anwesenheitserfassung, die auf ein Verhalten hindeuten (sollen), das „an sich“ geeignet ist, einen wichtigen Grund iSv. § 626 BGB zu bilden, in einen Kündigungsschutzprozess einzuführen. Denn dabei handelt es sich regelmäßig um die zuverlässigsten Erkenntnisquellen26.
Nach alledem kann dahinstehen, ob ein in einer Betriebsvereinbarung bestimmtes Verbot für den Arbeitgeber, Erkenntnisse aus einer, zumal offenen – Maßnahme zur Anwesenheitserfassung in einen Kündigungsschutzprozess einzuführen, die auf eine vorsätzliche Pflichtverletzung eines Arbeitnehmers hindeuten, auch unionsrechtswidrig wäre. Dafür dürfte sprechen, dass die DSGVO nach ihrem Art. 1 Abs. 1 eine grundsätzlich vollständige Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften zum Schutz personenbezogener Daten sicherstellen soll, und die Mitgliedstaaten bzw. die Betriebsparteien, wenn sie von einer Öffnungsklausel wie derjenigen in Art. 88 Abs. 1 DSGVO Gebrauch machen, ihr Ermessen unter den Voraussetzungen und innerhalb der Grenzen der Bestimmungen der DSGVO ausüben müssen und deshalb nur Rechtsvorschriften bzw. Kollektivvereinbarungen erlassen dürfen, die nicht gegen den Inhalt und die Ziele der DSGVO (u.a. Schutz des freien Datenverkehrs) verstoßen. Das betrifft namentlich die in Art. 6 DSGVO enthaltenen Vorgaben27. Der Vorschrift ist es ausweislich ihres Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f aber fremd, dass bestimmte Verarbeitungen von personenbezogenen Daten trotz eines – bei Vorsatztaten besonders hohen – berechtigten Interesses des Verantwortlichen ungeachtet einer einzelfallbezogenen Abwägung ausgeschlossen sind. Ebenso erscheint zweifelhaft, ob es sich bei solchen Verwertungsverboten um geeignete und besondere Maßnahmen zur Wahrung u.a. der berechtigten Interessen und der Grundrechte der betroffenen Arbeitgeber iSv. Art. 88 Abs. 2 DSGVO handelt28.
Mit der Verwertung der betreffenden Bildsequenz im vorliegenden Rechtsstreit ist keine Zweckänderung iSv. Art. 6 Abs. 4 DSGVO verbunden. Der maßgebliche abstrakte Zweck der Datenerhebung (Schutz der berechtigten Interessen der Arbeitgeberin und widrigenfalls Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche) stimmt mit dem Zweck der Datenverarbeitung im vorliegenden Verfahren (Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche) überein29. Selbst wenn eine Zweckänderung vom Eigentums- hin zum Vermögensschutz vorläge, ergibt die – vom nationalen Gericht vorzunehmende30 – Abwägung der wechselseitigen Interessen, dass die Grundrechtspositionen des Arbeitnehmers aus Art. 7 und Art. 8 GRC nicht das durch Art. 47 Abs. 2 GRC garantierte, in concreto besonders hoch zu bewertende Recht der Arbeitgeberin auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber einem – vermeintlich – vorsätzlichen Fehlverhalten ihres Arbeitnehmers überwiegen. Letzteres (Überwiegen der Grundrechtspositionen der Arbeitgeberin) gilt auch in Bezug auf die Verwertung der Erkenntnisse aus der elektronischen Anwesenheitserfassung.
Das Bundesarbeitsgericht kann aufgrund der bisher vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen nicht selbst abschließend über den vorrangigen Klageantrag gegen die außerordentliche fristlose Kündigung entscheiden. Das Berufungsurteil stellt sich insoweit nicht deshalb als im Ergebnis richtig dar (§ 561 ZPO), weil die Arbeitgeberin – wie das Arbeitsgericht angenommen hat – mit ihrem Vorbringen im Rechtsstreit aus betriebsverfassungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen wäre, da sie es dem Betriebsrat bei der Anhörung nach § 102 BetrVG nicht unterbreitet hatte. Für den vorrangigen Kündigungsvorwurf und die darauf bezogene Einlassung des Gremiums spielt es keine erhebliche Rolle, ob der Arbeitnehmer sich in der ausliegenden Anwesenheitsliste selbst bestätigt oder eine entsprechende Eintragung durch einen anderen Mitarbeiter veranlasst hat. Schon gar nicht handelt es sich um zwei verschiedene Kündigungssachverhalte.
Die damit erforderliche Zurückverweisung umfasst den Antrag gegen die ordentliche Kündigung, den Auflösungsantrag der Arbeitgeberin und den Antrag auf Erteilung eines qualifizierten Endzeugnisses. Dagegen ist der Rechtsstreit hinsichtlich der Erteilung eines qualifizierten Zwischenzeugnisses rechtskräftig abgeschlossen.
Für das fortgesetzte Berufungsverfahren sah das Bundesarbeitsgericht folgende weitere Hinweise als veranlasst:
Das Landesarbeitsgericht wird zunächst über den vorrangigen Antrag gegen die außerordentliche Kündigung vom 05.10.2019 zu befinden haben, die – ungeachtet der weiteren von der Arbeitgeberin angeführten Kündigungssachverhalte, denen entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen indes nicht teilweise schon die „An-sich-Eignung“ iSd. zweistufigen Prüfung des wichtigen Grundes abgesprochen werden kann – schon durchgreifen dürfte, wenn davon auszugehen sein sollte, der Arbeitnehmer habe die Mehrarbeitsschicht am 2.06.2018 in der Absicht überhaupt nicht geleistet, sie gleichwohl von der Arbeitgeberin vergütet zu bekommen, und/oder habe in entsprechender Absicht das Erscheinen eines Kollegen vorgespiegelt.
Dabei wird das Landesarbeitsgericht Niedersachsen zu beachten haben, dass das Vorbringen der Arbeitgeberin zum Erschleichen der Vergütung für die Mehrarbeitsschicht am 2.06.2018 durch den Arbeitnehmer nach dessen bisheriger Einlassung gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen ist, weil er es weder ausreichend substantiiert bestritten hat noch zu seinen Gunsten ein Sachvortragsverwertungsverbot eingreift.
Um der ihn treffenden sekundären Darlegungslast zu genügen, müsste der Arbeitnehmer sich zunächst festlegen, ob er am 2.06.2018 zwar das Werksgelände vor Schichtbeginn verlassen, es jedoch ebenfalls noch vor Schichtbeginn „unbemerkt“ wieder betreten haben, oder ob er durchgängig auf dem Werksgelände geblieben sein möchte. Der Arbeitgeberin obläge sodann (nur) der Nachweis, dass diese Darstellung nicht zutrifft31.
Sollte der Arbeitnehmer behaupten, er sei durchgängig auf dem Werksgelände verblieben, hätte das Landesarbeitsgericht nach §§ 371 ff. ZPO Beweis durch Inaugenscheinnahme der inkriminierten, keinem Verwertungsverbot unterliegenden Bildsequenz aus der Videoüberwachung an Tor 5 zu der gegenteiligen Behauptung der Arbeitgeberin zu erheben, der Arbeitnehmer habe das Gelände vor Schichtbeginn wieder verlassen. Sollte sich dies erweisen, wäre schon deshalb davon auszugehen, dass die Darstellung der Arbeitgeberin zum Kündigungsvorwurf (Nichtableisten der Schicht in Täuschungsabsicht) zutrifft. Der Arbeitnehmer könnte sich nicht in prozessual zulässiger Weise dahin einlassen, er habe das Werksgelände nicht verlassen; sollte er es doch verlassen haben, habe er es noch vor Schichtbeginn wieder betreten.
Sollte der Arbeitnehmer nach der Zurückverweisung substantiiert darlegen, dass er das Werksgelände zwar zunächst wieder verlassen, es aber „unbemerkt“ noch vor Schichtbeginn – wann, durch welchen Eingang? – wieder betreten und sodann – nach rechtzeitigem Erreichen der Gießerei? – ordnungsgemäß gearbeitet habe, wird das Landesarbeitsgericht – ohne dass es auf die von der Arbeitgeberin vorgelegte Bildsequenz aus der Videoüberwachung an Tor 5 ankäme – nach § 286 Abs. 1 ZPO zu würdigen haben, ob es die Behauptung der Arbeitgeberin für erwiesen erachtet, der Arbeitnehmer habe das Werksgelände am 2.06.2018 nicht wieder betreten. Dabei wird das Landesarbeitsgericht Niedersachsen zu beachten haben, dass für eine Überzeugungsbildung iSd. § 286 Abs. 1 ZPO ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit genügt, der verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Das Gericht muss ggf. begründen, warum es Restzweifel nicht überwinden konnte. Insbesondere darf es das Nichterreichen eines ausreichenden Grads an Gewissheit nicht allein darauf stützen, es seien andere Erklärungen theoretisch denkbar32. Dementsprechend wird sich das Landesarbeitsgericht die volle Überzeugung iSd. Vorbringens der Arbeitgeberin ggf. auch allein dadurch verschaffen können, dass es das gegenteilige Vorbringen des Arbeitnehmers zum Wiedereintritt durch den Haupteingang zwar für ausreichend substantiiert, aber für nicht glaubhaft, weil jeder inneren Wahrscheinlichkeit entbehrend, erachtet33. In diesem Zusammenhang könnte es auch eine Rolle spielen, wenn der Arbeitnehmer des vorliegenden Rechtsstreits sowie die Arbeitnehmer der vom Bundesarbeitsgericht am selben Tag entschiedenen Parallelverfahren – 2 AZR 296/22 und 2 AZR 298/22 – das Werksgelände zwar in kurzen Abständen vor Beginn der Mehrarbeitsschicht durch Tor 5 verlassen haben, es aber jeweils „unbemerkt“ rechtzeitig durch ein anderes Tor wieder betreten haben wollen.
Sollte der Arbeitnehmer substantiiert dartun, dass er das Werksgelände vor Schichtbeginn durch ein Drehkreuz wieder betreten haben möchte, wären die Behauptung und ggf. ein entsprechender Beweisantritt der Arbeitgeberin prozessual beachtlich, dass dies nach der elektronischen Anwesenheitserfassung und der Videoüberwachung ausgeschlossen werden kann. Es stellt bereits keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Arbeitnehmers dar, wenn er von einer Überwachungsmaßnahme nicht erfasst wurde. Auch war mit der elektronischen Anwesenheitserfassung und einer offenen Videoüberwachung an den Toren zum Werksgelände keine schwerwiegende Grundrechtsverletzung verbunden.
Überdies wird das Landesarbeitsgericht zu beachten haben, dass der Arbeitnehmer bislang das Vorbringen der Arbeitgeberin nicht ausreichend bestritten hat, er habe am 2.06.2018 zunächst den Werksausweis eines Kollegen vor das Kartenlesegerät an Tor 5 zum Werksgelände gehalten, um auch dessen Erscheinen zur Ableistung der Mehrarbeitsschicht vorzutäuschen, was schon für sich genommen einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellen dürfte. Auch insoweit greift weder auf Sachvortrags- noch ggf. auf Beweiserhebungsebene ein Verwertungsverbot zugunsten des Arbeitnehmers ein.
Das Landesarbeitsgericht wird nicht aufklären müssen, ob bei der Einrichtung der Videoüberwachung – soweit es auf die daraus gewonnenen Erkenntnisse überhaupt ankommen sollte – Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats missachtet wurden. Der Schutzzweck von § 87 Abs. 1 Nr. 6 und § 77 BetrVG gebietet ein Verwertungsverbot jedenfalls dann nicht, wenn die Verwertung der Information bzw. des Beweismittels – wie hier – nach allgemeinen Grundsätzen zulässig ist34.
Falls das Landesarbeitsgericht zwar nicht von einer „Tat“ durch den Arbeitnehmer überzeugt sein, aber einen entsprechenden dringenden Verdacht bejahen sollte, wäre zu prüfen, ob der Arbeitnehmer – wofür alles spricht – dazu ordnungsgemäß angehört worden ist35.
Schließlich wäre ggf. zu erörtern, ob die Arbeitgeberin die Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt und den Betriebsrat – wofür entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts alles spricht – ordnungsgemäß iSv. § 102 Abs. 1 BetrVG zu der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung angehört hat.
Sollte das Landesarbeitsgericht Niedersachsen dem Hauptantrag gegen die außerordentliche fristlose Kündigung vom 05.10.2019 stattgeben, fiele der unechte Hilfsantrag gegen die ordentliche Kündigung vom 09.10.2019 zur Entscheidung an. Insofern wird ggf. zu beachten sein, dass die Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB für eine ordentliche Tat, aber auch Verdachtskündigung nicht gilt36.
Falls das Landesarbeitsgericht dem gegen die ordentliche Kündigung gerichteten unechten Hilfsantrag ebenfalls stattgeben sollte, fiele der von der Arbeitgeberin zweitinstanzlich zulässigerweise gestellte Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG zur Entscheidung an. Zwar spricht vieles dafür, dass die Arbeitgeberin die darauf bezogene Begründung nicht wirksam in das Verfahren eingeführt hat. Die Antragsbegründung hat sie weder zu Protokoll des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen gegeben noch in einem gemäß § 46g Satz 1 ArbGG als elektronisches Dokument37 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz ausgeführt. Dies bedarf indes keiner Entscheidung. Die Arbeitgeberin kann ihren den Auflösungsantrag begründenden, bisher nur im Termin übergebenen (Papier-)Schriftsatz im fortgesetzten Berufungsverfahren elektronisch einreichen. Der Auflösungsantrag dürfte sich als erfolgreich erweisen, wenn der dazu zweitinstanzlich und im Revisionsverfahren von der Arbeitgeberin gehaltene Vortrag zum wahrheitswidrigen Prozessvorbringen des Arbeitnehmers unstreitig bleibt oder bewiesen wird.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29. Juni 2023 – 2 AZR 297/22
- LAG Nds 0606.2022 – 8 Sa 1148/20[↩]
- vgl. BAG 16.12.2021 – 2 AZR 356/21, Rn. 31 ff.[↩]
- vgl. BGH 8.01.2019 – II ZR 139/17, Rn. 32[↩]
- vgl. BGH 19.04.2001 – I ZR 238/98, zu II 1 der Gründe[↩]
- zu dessen Wirkung vgl. BAG 23.08.2018 – 2 AZR 133/18, Rn. 16, BAGE 163, 239[↩]
- EuGH 2.03.2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 32[↩]
- zu einem Kündigungsschutzprozess als zivilrechtliche Streitigkeit iSd. Brüssel Ia-VO vgl. BAG 7.05.2020 – 2 AZR 692/19, Rn. 16[↩]
- EuGH 4.05.2023 – C-60/22 – [Bundesrepublik Deutschland] Rn. 73[↩]
- EuGH 2.03.2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 33[↩]
- vgl. EuGH 2.03.2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 38[↩]
- vgl. EuGH 2.03.2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 40[↩]
- vgl. EuGH 2.03.2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 39, 53[↩]
- EuGH 24.09.2019 – C-136/17 – [GC u.a.] Rn. 57; Bäcker in Kühling/Buchner DSGVO 3. Aufl. Art. 13 Rn. 68[↩]
- vgl. EuGH 2.03.2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 53[↩]
- BAG 23.08.2018 – 2 AZR 133/18, Rn. 14, BAGE 163, 239[↩]
- vgl. EGMR 27.05.2014 – 10764/09 – [De la Flor Cabrera/Spanien]; Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 60[↩]
- vgl. BAG 23.08.2018 – 2 AZR 133/18, Rn. 30, BAGE 163, 239; BGH 24.11.1981 – VI ZR 164/79, zu II 2 b der Gründe[↩]
- vgl. BAG 23.08.2018 – 2 AZR 133/18, Rn. 35, BAGE 163, 239[↩]
- BAG 23.08.2018 – 2 AZR 133/18, Rn. 36, BAGE 163, 239[↩]
- EuGH 4.05.2023 – C-300/21 – [Österreichische Post][↩]
- vgl. BAG 23.08.2018 – 2 AZR 133/18, Rn. 44, BAGE 163, 239[↩]
- vgl. BAG 23.08.2018 – 2 AZR 133/18, Rn. 30, 33, BAGE 163, 239[↩]
- zweifelnd bereits BAG 31.01.2019 – 2 AZR 426/18, Rn. 68, BAGE 165, 255[↩]
- vgl. BAG 18.08.2009 – 1 ABR 49/08, Rn.20, BAGE 131, 358[↩]
- BAG 15.03.1991 – 2 AZR 516/90, zu II 2 d aa der Gründe; 28.10.1971 – 2 AZR 15/71, zu II 2 b der Gründe; 18.12.1961 – 5 AZR 104/61, zu 1 der Gründe[↩]
- vgl. BAG 23.08.2018 – 2 AZR 133/18, Rn. 27, BAGE 163, 239[↩]
- vgl. EuGH 30.03.2023 – C-34/21 – [Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer] Rn. 51, 59, 68 ff. und 79[↩]
- vgl. EuGH 30.03.2023 – C-34/21 – [Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer] Rn. 64[↩]
- vgl. Schulz in Gola/Heckmann DSGVO/BDSG 3. Aufl. Art. 6 DSGVO Rn. 135[↩]
- vgl. EuGH 2.03.2023 – C-268/21 – [Norra Stockholm Bygg] Rn. 48[↩]
- vgl. BAG 16.12.2021 – 2 AZR 356/21, Rn. 31 f.[↩]
- vgl. BAG 11.06.2020 – 2 AZR 442/19, Rn. 62, BAGE 171, 66[↩]
- vgl. BGH 22.11.1994 – XI ZR 219/93, zu II f der Gründe[↩]
- vgl. BAG 20.10.2016 – 2 AZR 395/15, Rn. 36, BAGE 157, 69; 22.09.2016 – 2 AZR 848/15, Rn. 44, BAGE 156, 370[↩]
- zu den Anforderungen vgl. BAG 25.04.2018 – 2 AZR 611/17, Rn. 31 f.[↩]
- vgl. BAG 31.01.2019 – 2 AZR 426/18, Rn. 31, BAGE 165, 255[↩]
- dazu Siegmund NJW 2023, 1681, 1683[↩]
Bildnachweis:
- Videoüberwachung: PIRO