Urlaubsgewährung während der zwangsvollstreckungsrechtlichen Weiterbeschäftigung

Die Prozessbeschäftigung zur Abwendung der Zwangsvollstreckung eines titulierten allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs begründet kein Arbeitsverhältnis. Der auf die Sicherung des ideellen Beschäftigungsinteresses des Arbeitnehmers während des Kündigungsrechtsstreits gerichtete Weiterbeschäftigungsanspruch verlangt nur die tatsächliche Beschäftigung des Arbeitnehmers. Die tatsächliche Beschäftigung während der Zwangsvollstreckung stellt auch unter Anwendung des nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs weit auszulegenden unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs kein Arbeitsverhältnis dar.

Urlaubsgewährung während der zwangsvollstreckungsrechtlichen Weiterbeschäftigung

Nach § 1 BurlG hat jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Das Gesetz verlangt für das Entstehen des Urlaubsanspruchs zunächst das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der sich das Arbeitsgericht anschließt, begründet die Prozessbeschäftigung zur Abwendung der Zwangsvollstreckung eines titulierten allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs kein Arbeitsverhältnis iSd. § 611a BGB1. Der auf die Sicherung des ideellen Beschäftigungsinteresses des Arbeitnehmers während des Kündigungsrechtsstreits gerichtete Weiterbeschäftigungsanspruch verlangt nur die tatsächliche Beschäftigung des Arbeitnehmers. Ein Arbeitsverhältnis wird bei Aufnahme der Beschäftigung weder verlängert noch begründet. Aus den Rechtsgrundlagen des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs lässt sich nichts für das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses als Rechtsgrundlage eines Vergütungsanspruchs herleiten2.

Die vorläufige Weiterbeschäftigung begründet auch kein „faktisches bzw. fehlerhaftes Arbeitsverhältnis“. Die dem Arbeitgeber aufgezwungene Weiterbeschäftigung während des Kündigungsrechtsstreits erfolgt nicht durch rechtsgeschäftliche Übereinkunft der Parteien und nicht mit einem autonom bestimmten Wollen des Arbeitgebers. Indem der Arbeitgeber gegen das der Kündigungsschutzklage stattgebende Urteil Rechtsmittel einlegt und den Arbeitnehmer nur zur Vermeidung der Zwangsvollstreckung aus der titulierten Weiterbeschäftigungsverpflichtung beschäftigt, macht er diesem gegenüber hinreichend deutlich, dass er durch die Weiterbeschäftigung kein – auch kein fehlerhaftes – Vertragsverhältnis begründen, sondern lediglich die aus dem Weiterbeschäftigungstitel folgende Rechtspflicht zur tatsächlichen Beschäftigung erfüllen will. Der fehlende rechtsgeschäftliche Wille des Arbeitgebers zum Abschluss eines Arbeitsvertrags wird durch ein vollstreckbares Weiterbeschäftigungsurteil nicht ersetzt3.

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Eine Urlaubsgewährung im Rahmen der Weiterbeschäftigung zur Abwendung der Zwangsvollstreckung des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruches scheidet insoweit aus4.

 Soweit der Arbeitnehmer unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 21.11.20185 der Auffassung ist, dass im Rahmen einer gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung des Bundesurlaubsgesetzes auch Personen, die zur Vermeidung der Zwangsvollstreckung aufgrund eines entsprechenden gerichtlichen Ausspruchs tatsächlich beschäftigt werden, dem Arbeitnehmerbegriff unterfallen und daraus ein Anspruch auf Urlaubsgewährung resultiere, folgt das hier entscheidende Arbeitsgericht Hamburg dem nicht.

Nach Artikel 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Arbeitszeitrichtlinie) müssen die Mitgliedsstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen erhält. Als Arbeitnehmer ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält6.

Die tatsächliche Beschäftigung des Arbeitnehmers während der Zwangsvollstreckung stellt aus Sicht des Arbeitsgerichts Hamburg – auch unter Anwendung des nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs weit auszulegenden unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs – kein Arbeitsverhältnis dar7. Zwar liegt eine tatsächliche Beschäftigung des Arbeitnehmers durch die Arbeitgeberin vor. Diese erfolgte zum einen jedoch nicht auf Weisung der Arbeitgeberin, sondern allein zur Abwendung der Zwangsvollstreckung des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruches aus dem Urteil vom 19.02.2020. Im Unterschied zu einem Arbeitsverhältnis ist der Arbeitnehmer nicht verpflichtet, seinen titulierten Anspruch im Wege der Zwangsvollstreckung durchzusetzen. Hat er die Arbeit aufgenommen, kann der Arbeitnehmer sie auch wieder einstellen. Es besteht insoweit lediglich eine Obliegenheit zur Aufnahme der Beschäftigung, weil der Arbeitgeber im Falle einer unwirksamen Kündigung in einem Annahmeverzugsprozess nach § 11 Nr. 2 KSchG einwenden könnte, der Arbeitnehmer habe böswillig eine andere ihm zumutbare Beschäftigung unterlassen8. Der Arbeitnehmer unterliegt insoweit nur sehr eingeschränkt den Weisungen der Arbeitgeberin, da ihm – im Unterschied zu einer echten weisungsabhängigen Beschäftigung – die einseitige Möglichkeit zusteht, unter Einstellung der Zwangsvollstreckung der Arbeit fernzubleiben. Zum anderen besteht im Rahmen der Beschäftigung zur Abwendung der Zwangsvollstreckung des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruches keine Gegenleistungspflicht des Arbeitgebers. Im Fall einer zu Unrecht erfolgten Weiterbeschäftigung erfolgt die Rückabwicklung allein nach den Vorschriften des Bereicherungsrechts, d.h. der Arbeitgeber hat nach § 818 Abs. 2 BGB für Zeiten tatsächlich erbrachter Arbeitsleistung Wertersatz zu leisten9. Ein Gegenseitigkeitsverhältnis von Leistung und Gegenleistung im Sinne einer arbeitsvertraglichen Vergütung besteht nicht.

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Ob dem Arbeitnehmer ein Verfügungsgrund im Hinblick auf die Möglichkeit der einseitigen Einstellung oder Beschränkung der zwangsvollstreckungsrechtlichen Weiterbeschäftigung zusteht, konnte das Arbeitsgericht Hamburg somit dahinstehen lassen.

Arbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 9. Dezember 2020 – 16 Ga 11/20

  1. vgl. BAG vom 27.02.1985 – GS 1/84, NZA 1985, 702; BAG, Urteil vom 17.01.1991 – 8 AZR 483/89, NZA 1991, 769; BAG vom 27.05.2020, 5 AZR 247/19, NZA 2020, 1169 Rn. 25; Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Auflage 2021, § 611a BGB Rn. 148; Lingemann/Steinhauser, NJW 2014, 3765[]
  2. vgl. BAG vom 27.05.2020, 5 AZR 247/19, a.a.O.[]
  3. vgl. BAG vom 27.05.2020, 5 AZR 247/19, a.a.O.; BAG vom 01.03.1990 – 6 AZR 649/88, NZA 1990, 696[]
  4. vgl. Korinth, Einstweiliger Rechtsschutz im Arbeitsgerichtsverfahren, 4. Auflage 2019, S. 287 Rn. 225[]
  5. LAG Hamm, Urteil  vom 21.11.2018 – 4 Sa 388/18, BeckRS 2018, 39807[]
  6. EuGH vom 03.05.2012 – C 337/10 „Neidel“, NVwZ 2012, 688 Rn. 23; EuGH vom 23.03.2004 – C-138/02 „Collins“, EuZW 2004, 507 Rn. 26; vgl. auch LAG Hamm vom 21.11.2018 – 4 Sa 388/18, a.a.O. Rn. 34[]
  7. anders: LAG Hamm vom 21.11.2018 – 4 Sa 388/18, a.a.O.; offengelassen: BAG vom 27.05.2020, 5 AZR 247/19, a.a.O.[]
  8. vgl. BAG vom 27.05.2020, 5 AZR 247/19, a.a.O. Rn. 50[]
  9. vgl. BAG vom 27.05.2020, 5 AZR 247/19, a.a.O. Rn. 51[]
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