Bei schwierigen Beweiswürdigungsfragen betreffend die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage ist ein vorläufiges schriftliches Sachverständigengutachten ein Hilfsmittel für den Tatrichter zur Wahrheitsfindung. Es kann aber im Zwischenverfahren nur dann zur Grundlage der Nichteröffnung gemacht werden, wenn die in der Hauptverhandlung zu erwartende Zeugenaussage keinen über den bisherigen Stand hinausgehenden Erkenntnisgewinn erwarten lässt.

Ein hinreichender Tatverdacht besteht dann, wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens eine spätere Verurteilung des Angeschuldigten mit den vorhandenen zulässigen Beweismitteln wahrscheinlich erscheint [1]. Das ist dahin zu präzisieren, dass entweder die Verurteilung überwiegend wahrscheinlich erscheinen oder ein Zweifelsfall mit ungefähr gleicher Wahrscheinlichkeit von Verurteilung und Nichtverurteilung vorliegen muss, zu dessen Klärung die besonderen Erkenntnismittel der Hauptverhandlung notwendig sind. Das ist insbesondere der Fall, wenn es auf den persönlichen Eindruck des Gerichts zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit bei sich widersprechenden Aussagen entscheidend ankommt. Denn diffizile Beweiswürdigungsfragen dürfen nicht im Zuge der nicht-öffentlichen und nicht-unmittelbaren vorläufigen Tatbewertung des eröffnenden Gerichts womöglich endgültig entschieden werden. Die Eröffnungsentscheidung soll erkennbar aussichtslose Fälle ausfiltern, aber der Hauptverhandlung ansonsten nicht vorgreifen [2]. Insbesondere in beweisrechtlich hochsensiblen Fällen besteht keine Veranlassung, dem Ergebnis der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung im Rahmen des vergleichsweise defizitären Beschlussverfahrens nach § 203 StPO vorzugreifen [3].
Zwar ist dem Tatrichter bei der Prognoseentscheidung über den hinreichenden Tatverdacht ein nicht unerheblicher Beurteilungsspielraum eingeräumt [4]. Dennoch ist der für die Eröffnung erforderliche hinreichende Tatverdacht nach dem vom Oberlandesgericht aufgezeigten Maßstab vorliegend gegeben. Grundsätzlich ist die Beurteilung, ob die Tatschilderung eines Zeugen glaubhaft ist, ureigenste Aufgabe des Tatrichters. Sachverständiger Hilfe bedarf der Tatrichter bei schwierigen Beweiswürdigungen wie etwa der Konstellation „Aussage gegen Aussage“ oder dann, wenn psychosomatische oder psychopathologische Auffälligkeiten in der Person des Zeugen dessen Aussagetüchtigkeit oder die Glaubhaftigkeit seiner Aussage in Frage stellen [5]. Hierbei bleibt Aufgabe des Tatrichters die Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung. Grundlage der Verurteilung oder des Freispruchs ist alleine die dort gewonnene Aussage des Zeugen; der Tatrichter darf dabei seine Pflicht zur Überzeugungsbildung nicht auf den aussagepsychologischen Sachverständigen verschieben [6]. Demgemäß ist das vorläufige schriftliche Sachverständigengutachten eines Gutachters ein Hilfsmittel für die Wahrheitsfindung, das bis zur Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung nur vorläufigen Charakter hat. Gegenstand seiner Begutachtung ist nämlich die Aussage des Zeugen, die dieser in der Hauptverhandlung tätigt. Frühere Angaben und auch Explorationsgespräche des Sachverständigen haben dann nur insoweit Bedeutung, als die Konstanz des Aussageverhaltens des Zeugen anhand dieser Einlassungen zu überprüfen ist. Hieraus folgt, dass das lediglich vorläufige, schriftliche Sachverständigengutachten zur Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin im Zwischenverfahren nur dann zur Grundlage der Nichteröffnung gemacht werden kann, wenn die in der Hauptverhandlung zu erwartende Zeugenaussage keinen über den bisherigen Stand hinausgehenden Erkenntnisgewinn erwarten lässt [7].
Solches ist vorliegend nicht ersichtlich. Die Sachverständige hat die Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin bejaht, so dass an einer etwaigen mangelnden Aussagetüchtigkeit die Gewinnung einer qualitativ anderen Aussage in der Hauptverhandlung, die erst eine Überzeugungsbildung der Kammer aufgrund eigener Beweiserhebung ermöglicht, nicht scheitert. Bei der Prüfung der Aussagequalität hat der Sachverständige diese auf die kognitiven Leistungen sowie auf die bereichsspezifischen Erfahrungen und Kenntnisse des Zeugen zu beziehen, sog. Qualitäts-Kompetenz-Vergleich [8]. Zwar stellt die Sachverständige vorliegend fest, dass sich die Zeugin in der Lage zeigte, über – im Gutachten nicht näher geschilderte – fallneutrale eigene Erlebnisse mit einer Anzahl von Details zu berichten; sie fügt aber hinzu, dass der „Aspekt des Realitätsbezugs und der Vollständigkeit (…) im Rahmen der Hauptverhandlung durch Befragung weiterer Zeugen überprüft“ werden könnten. Weiter wird die Aussagequalität zu diesen Kompetenzen der aussagenden Zeugin nicht ins Verhältnis gesetzt [9]. Die Sachverständige erklärt zwar, dass die Bewertung der Aussage schwerpunktmäßig unter dem Gesichtspunkt der Aussage als Leistungsprodukt erfolge; danach werde „analysiert, ob die Zeugin diese Aussage machen könnte unter den gegebenen persönlichen und sozial-kommunikativen Aussagebedingungen, ohne dies erlebt zu haben“. Eine Schlussfolgerung im Hinblick auf die Nebenklägerin wird aber nicht gezogen. Es bleibt damit aus sachverständiger Sicht offen, ob die Nebenklägerin in der Lage wäre, eine Geschichte der dargebotenen Komplexität überhaupt und widerspruchsfrei zu erfinden und über welchen Wissenstand und welche Kenntnisse speziell bezüglich des Aussagethemas sie verfügt [10]. Hinsichtlich der Aussagequalität deckt die Sachverständige Widersprüche in den Aussagen der Nebenklägerin bei der Kriminalpolizei und später in der gutachterlichen Vernehmung auf; gleichzeitig stellt sie aber auch Übereinstimmungen fest. Sie weist ausdrücklich darauf hin, dass die Abweichungen in den Aussagen der Zeugin – mit einer Ausnahme, nämlich dem Beginn der sexuellen Handlungen – mit gedächtnispsychologischen Erkenntnissen in Einklang zu bringen seien, da es sich um häufige und gleichförmige Vorfälle handle. Die Sachverständige bewertet die Qualität der Zeugenaussage als gering, führt aber einige Qualitätsmerkmale auf, die für die Qualität der Aussage sprechen. Hierzu bemerkt sie ausdrücklich, dass diese Qualitätsmerkmale „in einer Hauptverhandlung (…) ergänzt werden“ könnten. Insoweit wären die Feststellungen der Sachverständigen jedenfalls in einer Hauptverhandlung zu ergänzen, um dann entsprechende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
Die Kammer stützt ihre Entscheidung im Wesentlichen auf die mangelnde Konstanz der Aussage der Nebenklägerin. Eine Auseinandersetzung mit den möglichen Ursachen der bisher fehlenden Aussagequalität findet allerdings nicht statt. Die Konstanz der Aussage der Nebenklägerin sowie Widersprüche ihrer Aussage zu den Angaben anderer Zeugen werden daher in der Hauptverhandlung zu überprüfen sein: Bei der Vernehmung in der Hauptverhandlung handelt es sich um eine Vernehmung, deren Ergebnis von der konkreten Vernehmungssituation abhängt. Sie darf keine reine Bestätigungsvernehmung sein; dies gilt insbesondere bei der Vernehmung von kindlichen bzw. jugendlichen Zeugen, bei denen der Erkenntnisgewinn in hohem Maße davon abhängt, dass der Vernehmende einen guten Zugang zum Zeugen bekommt [11]. Insoweit wird sich das Tatgericht in der Hauptverhandlung selbst einen Eindruck von der Nebenklägerin und den anderen Zeugen machen müssen. Hierbei wird auch zu beachten sein, dass die Vertreterin der Nebenklägerin das mangelnde Vertrauensverhältnis der Nebenklägerin zu der Sachverständigen als einen möglichen Grund für die fehlende Aussagekonstanz nennt. Dies erscheint zumindest möglich, da dem Wortprotokoll der Sachverständigenvernehmung zu entnehmen ist, dass die Nebenklägerin sich dort eher wortkarg verhalten hat und nur einsilbig auf die Fragen der Sachverständigen antwortete, während sie bei der polizeilichen Vernehmung und bei der richterlichen Videovernehmung ausführliche Antworten gab. Die Sachverständige selbst weist darauf hin, dass es in der Exploration nur ansatzweise gelang, individuelle und auch konkrete Detailschilderungen von der Zeugin zu erheben.
Auch die als Begründung für die ablehnende Entscheidung der Kammer herangezogene Falschbelastungsmotivation der Nebenklägerin muss nicht notwendigerweise zu deren Unglaubwürdigkeit führen, da sich selbst aus einer festgestellten Belastungsmotivation nicht zwingend auf eine Falschaussage oder auch nur auf Übertreibungen schließen lässt [12].
Das Oberlandesgericht verkennt nicht, dass im Falle der Gewinnung neuer Erkenntnisse in der Hauptverhandlung der Aussagekonstanz besonderes Augenmerk zu schenken sein wird. Allem nach handelt es sich aber deshalb um keinen erkennbar aussichtslosen Fall.
Es besteht damit hinreichender Tatverdacht hinsichtlich der dem Angeschuldigten zur Last gelegten Taten.
Oberlandesgericht Stuttgart, Beschluss vom 29. September 2014 – 1 Ws 124/14
- OLG Karlsruhe, wistra 2005, 72f.; Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage, § 203, Rn. 13[↩]
- OLG Stuttgart, Die Justiz 2011, 218; OLG Saarbrücken, NStZ-RR 2009, 88; Löwe-Rosenberg a.a.O.[↩]
- KK-Schneider, StPO, 7. Auflage, § 203 Rn. 5[↩]
- vgl. OLG Nürnberg, NJW 2010, 3793[↩]
- BGH 4 StR 500/88; 4 StR 329/93, jeweils zitiert nach
[↩] - BGH, NStZ 2002, 636[↩]
- Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 203 Rn. 15[↩]
- Kemme/Boetticher/Kolberg in: Praxis der Rechtspsychologie, Heft 1 August 2013, 3b), S. 40[↩]
- vgl. hierzu Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Auflage 2014, Rn. 289[↩]
- vgl. hierzu Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rn. 290 f., 484[↩]
- Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rn. 1502[↩]
- OLG Stuttgart, NJW 2006, 3506[↩]