Eine Überlastung des Gerichts ist keine Rechtfertigung für die Fortdauer der Untersuchungshaft.

Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten.
Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art.20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist1, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt2.
Die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte müssen daher alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. So ist im Falle der Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen3 und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen4.
Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Beschuldigten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind5. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen6.
Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Vielmehr kann die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt7. Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen8.
Da der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist9, unterliegen Haftfortdauerentscheidungen einer erhöhten Begründungstiefe10. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können11. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein12.
Diesen Maßstäben genügte im vorliegenden Fall der angegriffene Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken nicht13, er enthielt keine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung für die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft:
Das Verfahren ist nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs gebotenen Zügigkeit mit einem Beginn der Hauptverhandlung binnen drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens gefördert worden. Der angegriffene Beschluss zeigt keine besonderen Umstände auf, die in dieser Konstellation die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten. Er wird damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht. Insbesondere rechtfertigt die seit dem Jahre 2016 andauernde Belastungssituation der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Landau in der Pfalz die zögerliche Verfahrensweise nicht. Diese ist nicht dem Beschwerdeführer, sondern ausschließlich der Justizverwaltung anzulasten, der es obliegt, die Gerichte in einer Weise mit Personal auszustatten, die eine rechtsstaatliche Verfahrensgestaltung erlaubt. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht ist sie nicht nachgekommen und hat zusätzliche Richterstellen erst zu einem Zeitpunkt zur Verfügung gestellt, zu dem eine rechtsstaatliche Verfahrensführung bereits nicht mehr möglich war. Jedenfalls zum Zeitpunkt der Terminierung des hiesigen Verfahrens konnte die 1. Große Strafkammer eine rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Verfahrensführung wegen ihrer Überlastung daher nicht mehr gewährleisten. Hieran haben die getroffenen Abhilfemaßnahmen nichts geändert. Diese haben nicht dazu geführt, dass die vorliegende Haftsache nunmehr innerhalb des durch das Beschleunigungsgebot gezogenen Rahmens bearbeitet und die bereits eingetretene Verfahrensverzögerung wirksam kompensiert14 wird.
Das Bundesverfassungsgericht hat daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festgestellt, dass der Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 02.11.2017 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt, und hat den Beschluss unter Zurückverweisung der Sache aufgehoben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Oberlandesgericht wird unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen erneut über die Haftfortdauer zu entscheiden haben.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. Dezember 2017 – 2 BvR 2552/17
- vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 74, 358, 370 f.[↩]
- vgl. grundlegend BVerfGE 19, 342, 347 sowie BVerfGE 20, 45, 49 f.; 36, 264, 270; 53, 152, 158 f.; BVerfGK 15, 474, 479; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a.; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2011 – 2 BvR 2781/10 15[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.11.2012 – 2 BvR 1164/12 43; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 21[↩]
- vgl. BVerfGK 15, 474, 480 m.w.N.[↩]
- BVerfGK 7, 140, 156; BVerfG, Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 22[↩]
- BVerfGE 36, 264, 273 ff.; BVerfG, Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14[↩]
- BVerfGE 36, 264, 275; BVerfG, Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14[↩]
- vgl. hierzu BVerfGE 53, 30, 65; 63, 131, 143[↩]
- vgl. BVerfGE 103, 21, 35 f.; BVerfGK 7, 140, 161; 10, 294, 301; 15, 474, 481; 19, 428, 433; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a.[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 140, 161; 10, 294, 301; 15, 474, 481; 19, 428, 433; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a.[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 421, 429 f.; 8, 1, 5; 15, 474, 481 f.; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a.; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14[↩]
- OLG Zweibrücken, Beschluss vom 02.11.2017 – 1 Ws 303/17[↩]
- vgl. hierzu BVerfGK 12, 166, 168; BVerfG, Beschluss vom 13.10.2016 – 2 BvR 1275/16[↩]