Die mündliche Anhörung des Verurteilten über die Aussetzung des Strafrestes kann nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts in Form einer Videokonferenz durchgeführt werden, wenn der Verurteilte sich hiermit ausdrücklich vor dem Anhörungstermin einverstanden erklärt hat und er darauf hingewiesen worden ist, dass er Anspruch auf eine mündliche Anhörung hat.

Durch die mündliche Anhörung gem. § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO soll sich das Gericht einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von dem Verurteilten verschaffen, um den Sachverhalt umfassend aufzuklären. Die Form der Anhörung bestimmt es nach seinem pflichtgemäßen Ermessen. Dabei ist eine Videokonferenz grundsätzlich möglich, allerdings nur dann, wenn dem der Zweck der mündlichen Anhörung nicht entgegensteht, in der alle für die Aussetzungsfrage maßgeblichen Umstände zu erörtern sind. Bei der Ermessensentscheidung sind vor allem die Persönlichkeit des Verurteilten, die Vollzugsdauer, die Art der begangenen Straftat, sein Verhalten im Vollzug, die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) und die Entfernung der Justizvollzuganstalt vom Sitz des Gerichts zu berücksichtigen. Auch ist zu bedenken, dass der Verurteilte befangen ist, dass Hemmungen auftreten und er das Gefühl hat, „gegen eine Wand zu reden“, da ein real existierendes menschliches Gegenüber fehlt. Es kann eine im Vergleich zu einer mündlichen Anhörung hinausgehende Nervosität auftreten. Darüber hinaus gehört zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts durch die Strafvollstreckungskammer, dass sie sich von der Person des Verurteilten ein umfassendes Bild macht, wozu eine Videokonferenz nur eingeschränkt in der Lage ist1.
Hieraus ergibt sich, dass der Ersatz der mündlichen Anhörung durch eine Videokonferenz vielfach in den Fällen nicht möglich sein wird, in denen es um die Aussetzung hoher Strafreste geht. Auch wird in aller Regel in den Verfahren, die unter § 454 Abs. 2 StPO fallen, eine Videokonferenz ausscheiden. Gleiches gilt, wenn besondere Schwierigkeiten erkennbar sind oder der Sachverhalt nicht hinreichend, auch nicht durch die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt, aufgeklärt ist.
In den Fällen, in denen hiernach eine audiovisuelle Vernehmung in Betracht kommt, steht es dem Verurteilten frei zu erklären, dass er auf einer persönlichen Anhörung besteht2.
Er ist zu befragen, ob er hiermit einverstanden ist. Angesichts der Bedeutung der mündlichen Anhörung genügt es nicht, wenn er sein Einverständnis mit diesem Verfahren erst während der Videokonferenz gibt, da er in dieser Situation vielfach nicht in der Lage sein wird, spontan zu bedenken, ob aus seiner Sicht bei dieser Form der Anhörung seine Rechte in ausreichender Weise gewahrt werden. Auch ist zu besorgen, dass sich manch Verurteilter scheuen mag, die faktisch bereits stattfindende Videovernehmung noch zu beenden, da er befürchten könnte, anderenfalls drohten ihm Nachteile bzw. er bringe das Gericht gegen sich auf. Vielmehr ist es notwendig, ihn vor dem Anhörungstermin, z.B. in der Nachricht vom Termin zur Anhörung, ausdrücklich zu befragen, ob er mit einer audiovisuellen Vernehmung einverstanden ist. Dabei ist er darauf hinzuweisen, dass er eine mündliche Anhörung verlangen kann. Ist er nicht sprachkundig, müssen die Fragen in die für ihn verständliche Sprache übersetzt werden. Reagiert er auf die Anfrage nicht, scheidet die Anhörung in Form einer Videokonferenz aus.
Oberlandesgericht Stuttgart, Beschluss vom 3. Mai 2012 – 4 Ws 66/12
- KK-Appl, StPO, 6. Aufl., § 454 Rd. 17a; zu allem grundlegend Esser NStZ 2003, 464;OLG Frankfurt NStZ-RR 2006, 357; OLG Karlsruhe Justiz 2005, 399; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. § 454 Rn. 34; LR/Graalmann-Scheerer, StPO, 26. Aufl., § 454 Rn. 36[↩]
- vgl. OLG Frankfurt a.a.O.; OLG Karlsruhe a.a.O.[↩]
- OLG München – 6 St 3/12[↩]