Pflichtverteidigung wegen Belehrungsfehler vor dem Truppendienstgericht

Be­lehrt der Vor­sit­zen­de der Trup­pen­dienst­kam­mer einen an­walt­lich nicht ver­tre­te­nen Sol­da­ten in der Haupt­ver­hand­lung nicht über aus einem Be­leh­rungs­feh­ler im Er­mitt­lungs­ver­fah­ren re­sul­tie­ren­de Ver­wer­tungs­ver­bo­te be­züg­lich frü­he­rer ge­stän­di­ger Ein­las­sun­gen, muss er ihm wegen der damit ver­bun­de­nen, schwie­ri­gen recht­li­chen Fra­gen einen Pflicht­ver­tei­di­ger be­stel­len, wenn auch das Ge­ständ­nis in der Haupt­ver­hand­lung Grund­la­ge der tat­säch­li­chen Fest­stel­lun­gen ist.

Pflichtverteidigung wegen Belehrungsfehler vor dem Truppendienstgericht

Hier kann dahinstehen, ob ein schwerer Mangel des gerichtlichen Verfahrens bereits darin liegt, dass der Vorsitzende der Truppendienstkammer neben der Belehrung über das Schweigerecht nach § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO den früheren Soldaten nicht auch qualifiziert darüber belehrt hat, dass dessen Einlassungen aus dem Ermittlungsverfahren wegen einer unterlassenen Belehrung über das Recht auf Verteidigerkonsultation nicht verwertet werden können1. Wenn eine qualifizierte Belehrung durch den Vorsitzenden der Truppendienstkammer unterbleibt, liegt ein schwerer Verfahrensfehler jedenfalls darin, dass das Truppendienstgericht dem im gerichtlichen Disziplinarverfahren nicht durch einen Rechtsanwalt verteidigten früheren Soldaten entgegen § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO keinen Pflichtverteidiger bestellt hat, und diese Unterlassung für den Ausgang des Verfahrens erheblich sein kann2.

Nach § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO bestellt der Vorsitzende der Truppendienstkammer dem Soldaten, der noch keinen Verteidiger gewählt hat, auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn die Mitwirkung eines solchen geboten erscheint. Ob die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist, beurteilt sich nach der Schwierigkeit der Rechts- und Sachlage3. Schwierige rechtliche Fragen, deren Tragweite ein juristisch nicht vorgebildeter Soldat ohne Rechtsbeistand nur schwer beantworten kann, sind insbesondere Fragen des Prozessrechts4. Der frühere Soldat kann nicht deshalb wie ein Volljurist behandelt werden, weil er im Rahmen seines Studiums der Wirtschafts- und Organisationswissenschaften auch elementaren Rechtsunterricht erhalten hat. Denn die hier in Rede stehenden Rechtsfragen sind nicht Teil der juristischen Grundlagenausbildung für Nichtjuristen.

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Der vorliegende Fall wirft komplexe prozessuale Fragen auf, weil es im Ermittlungsverfahren zu einem Belehrungsfehler gekommen ist. Der frühere Soldat ist nämlich am 20.11.2009 in Anwendung von § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO angehört worden, ohne dass er auch über sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt worden ist. Dies wäre aber nach § 92 Abs. 2, § 97 Abs. 2 Satz 5 WDO erforderlich gewesen, weil die Wehrdisziplinaranwaltschaft dem Disziplinarvorgesetzten bereits unter dem 21.10.2009 die Aufnahme von Vorermittlungen mitgeteilt hatte. Hiernach wäre die geständige Einlassung in dieser Vernehmung grundsätzlich nicht verwertbar5. Da es in der Folgezeit auch nicht zu einer qualifizierten Belehrung über das Verwertungsverbot bezüglich der Einlassung vom 20.11.2009 gekommen ist, ist auch die Verwertbarkeit der weiteren geständigen Einlassungen des früheren Soldaten rechtlich bedenklich6.

Die Entscheidung des früheren Soldaten über die für ihn günstigste Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte in der Hauptverhandlung setzt auch die Kenntnis darüber voraus, ob und in welchem Umfang frühere Geständnisse gegen ihn verwertbar sind. Über den Gebrauch seines Schweigerechts kann er nur dann eigenverantwortlich entscheiden, wenn er diese Kenntnisse hat oder sein Verteidiger sie ihm verschaffen kann. Eine qualifizierte Belehrung über Verwertungsverbote durch das Gericht kann verhindern, dass ein Beschuldigter auf ein Aussageverweigerungsrecht nur deshalb verzichtet, weil er möglicherweise glaubt, eine frühere unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht zustande gekommene Selbstbelastung nicht mehr aus der Welt schaffen zu können7. Sie wäre damit ein geeignetes Mittel gewesen, die rechtlichen Schwierigkeiten prozessualer Art für den früheren Soldaten auszuräumen und ihm so die Möglichkeit einer geordneten und effektiven Verteidigung8 zu geben, damit er zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen kann9.

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Zwar bewirkt die Einreichung der Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht eine Zäsur, mit der die Verfahrensherrschaft auf das Gericht übergeht. Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpften Überzeugung und beachtet hierbei Beweisverwertungsverbote bezüglich der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens. Dass mit dieser Zäsur aber auch eine Möglichkeit gegeben ist, eine unter Verstoß gegen Belehrungspflichten zustande gekommene Selbstbelastung aus der Welt zu schaffen, ist eine Information, die bei einem nicht juristisch ausgebildeten Soldaten nicht vorausgesetzt werden kann. Dieses Informationsdefizit hindert ihn an der effektiven Nutzung seiner Verteidigungsrechte. Ein rechtsstaatliches, faires Verfahren ist nur dann gewährleistet, wenn dieses Informationsdefizit ausgeglichen wird.

Nutzt das Truppendienstgericht nicht selbst diese Möglichkeit, die rechtlichen Schwierigkeiten für einen (früheren) Soldaten durch eine ausreichende Belehrung auch hierüber auszuräumen, muss es ihm zumindest einen Verteidiger beiordnen, der dem (früheren) Soldaten diese Kenntnis verschaffen kann. Ist ein (früherer) Soldat nämlich verteidigt, sind vorgerichtliche Einlassungen trotz Belehrungsfehlern verwertbar, wenn der Verteidiger nicht rechtzeitig widerspricht10. In diesem Fall gleicht die Beteiligung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung das Informationsdefizit des (früheren) Soldaten über die Verwertbarkeit vorgerichtlicher Einlassungen angemessen aus und gewährleistet die effektive Nutzung des Schweigerechts und ein faires Verfahren.

Für den Ausgang des Verfahrens ist das Unterlassen des Truppendienstgerichts auch erheblich, weil das angegriffene Urteil seine tatsächlichen Feststellungen auch auf die geständige Einlassung des früheren Soldaten in der Hauptverhandlung gestützt hat. Es ist möglich, dass der frühere Soldat von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hätte, wenn er über die fehlende Bindung an seine Einlassungen im Ermittlungsverfahren informiert gewesen wäre. Der in die Hauptverhandlung eingeführte Strafbefehl hat trotz § 410 Abs. 3 StPO nach ständiger Rechtsprechung keine Bindungswirkung11. Es ist nicht auszuschließen, dass das Truppendienstgericht zu einer anderen Beweiswürdigung gekommen wäre, wenn die Angaben der Zeugen und der von ihm herangezogene Akteninhalt nicht auch dem Geständnis des früheren Soldaten entsprochen hätten.

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Nach alledem macht der Senat von der Möglichkeit nach § 121 Abs. 2 WDO Gebrauch, die Sache unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils an eine andere Kammer des Truppendienstgerichts Süd zurückzuverweisen. Für eine Zurückverweisung an ein anderes Truppendienstgericht besteht keine Veranlassung. Auch unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebotes (§ 17 Abs. 1 WDO) kommt eine andere Ermessensausübung schon deshalb nicht in Betracht, weil die Aufhebung und Zurückverweisung zur Sicherstellung des Anspruchs auf ein faires rechtsstaatliches Disziplinarverfahren12 unvermeidbar ist. Das Verfahren vor der Truppendienstkammer litt wegen der Verletzung von § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO an einem gravierenden strukturellen Defizit13. Solcherart zustande gekommene Feststellungen können nicht Grundlage einer Bemessungsentscheidung des Wehrdienstsenats des Bundesverwaltungsgerichts sein. Vor diesem Hintergrund ist der nach § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO bestehende Ermessensspielraum des Senats dadurch eingeschränkt, dass aufgrund der Berufungsbeschränkung die für eine sachgerechte Entscheidung über das Rechtsmittel erforderlichen tatsächlichen Feststellungen vom Senat nicht getroffen werden konnten.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16. Mai 2012 – 2 WD 8.11

  1. vgl. Becker, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl.2009, § 243 Rn. 56 und 59[]
  2. vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 19.01.2012 – 2 WD 5.11 – und Beschlüsse vom 07.11.2007 – 2 WD 1.07, BVerwGE 130, 12 = Buchholz 450.2 § 120 WDO 2002 Nr. 2, jeweils Rn. 16 m.w.N. und vom 21.12.2011 – 2 WD 26.10 []
  3. BVerwG, Beschluss vom 07.11.2007 a.a.O. Rn. 17 m.w.N.[]
  4. vgl. für § 84 Abs. 1 Satz 2 WDO: BVerwG, Beschluss vom 07.11.2007 a.a.O. Rn. 24[]
  5. vgl. BVerwG, Urteil vom 26.04.2012 – 2 WD 6.11 – Rn. 16 und BGH, Beschluss vom 27.02.1992 – 5 StR 190/91 – BGHSt 38, 214, 218, 225 f.[]
  6. vgl. BVerwG, Urteil vom 26.04.2012, a.a.O.; BGH, Urteil vom 03.07.2007 – 1 StR 3/07, m.w.N. []
  7. vgl. BGH, Urteil vom 18.12.2008 – 4 StR 455/08, BGHSt 53, 112 Rn. 13[]
  8. vgl. BGH, Urteil vom 25.02.1998 – 3 StR 490/97 – BGHSt 44, 46, 49, m.w.N.[]
  9. vgl. BVerfG, Beschluss vom 28.03.1984 – 2 BvR 275/83, BVerfGE 66, 313, 318[]
  10. vgl. BGH, Beschluss vom 27.02.1992 a.a.O. S. 225 f. bzw. Rn. 26[]
  11. vgl. BVerwG, Urteil vom 21.02.2002 – 2 WD 40.01, Buchholz 236.1 § 17 SG Nr. 37 = NZWehrr 2003, 37 f. m.w.N.[]
  12. speziell zum gerichtlichen Wehrdisziplinarverfahren: BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.06.2000 – 2 BvR 993/94 – ZBR 2001, 208[]
  13. vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.11.2007 a.a.O. Rn. 27 f.[]
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