§ 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG entspricht nicht den Anforderungen von Art. 2 Buchstabe n Dublin-III-Verordnung, wonach die objektiven Kriterien, die Fluchtgefahr begründen, gesetzlich festgelegt sein müssen. Nach der derzeitigen Gesetzeslage in der Bundesrepublik Deutschland kann die Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren nach Art. 28 Dublin-III-Verordnung daher nicht auf eine unerlaubte Einreise des Betroffenen gestützt werden.

Die Dublin-III-Verordnung gilt nach ihrem Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Fall 2 auch, wenn das Gesuch um Aufnahme oder Wiederaufnahme nach dem 1.01.2014 gestellt wurde.
Die Gründe für die Anordnung von Haft zur Sicherung einer Aufnahme oder Wiederaufnahme eines Betroffenen durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (Überstellungshaft) regelt Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung mit unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ausgenommen Dänemark 1, eigenständig und abschließend. Zugelassen ist die Haft nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift nur, wenn Fluchtgefahr besteht, nicht aus anderen Gründen 2.
Fluchtgefahr ist nach Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, dem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte. Diese objektiven Gründe sind nach der genannten Vorschrift durch den nationalen Gesetzgeber selbst festzulegen.
Den Zweck dieser Festlegung hat die Europäische Kommission in der Begründung des Entwurfs der Verordnung wie folgt beschrieben 3: "Um sicherzustellen, dass die Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern auf der Grundlage des Dublin-Verfahrens nicht willkürlich erfolgt, wird eine begrenzte Zahl von Gründen für die Ingewahrsamnahme vorgeschlagen."
Damit sind aber nicht unterschiedliche Haftgründe nach dem Modell des § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gemeint. Vielmehr soll der nationale Gesetzgeber Tatbestände festlegen, die die Fluchtgefahr als einzigen unionsrechtlich anerkannten Haftgrund zur Sicherung der (Wieder) Aufnahme Betroffener durch andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union konkretisieren und so eine gleichmäßige Anwendung sicherstellen 4.
Dieser Aufgabe kann der nationale Gesetzgeber nicht nur durch die Schaffung neuer gesetzlicher Tatbestände, sondern auch durch die Beibehaltung bestehender Tatbestände genügen. Das setzt aber voraus, dass die bestehenden Haftgründe im nationalen Recht so ausgestaltet sind, dass sie nur bei Vorliegen von objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien verwirklicht werden, welche die Annahme einer Fluchtgefahr begründen 5. Diese Eignung hat der Bundesgerichtshof bei den Haftgründen nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG bejaht, bei dem nicht näher konkretisierten Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG dagegen verneint 6.
Auch der Haftgrund der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist, was der Bundesgerichtshof bislang offen gelassen hat 7 und jetzt entscheidet, zur Konkretisierung der Fluchtgefahr nach Art. 28 und Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung ungeeignet, weshalb die von der beteiligten Behörde aufgeworfene Frage, ob der Asylantrag des Betroffenen die Annahme einer unerlaubten Einreise hinderte, dahinstehen kann.
Allerdings können die Umstände einer unerlaubten Einreise im Sinne von Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung zu der Annahme Anlass geben, der Betroffene könnte sich der Aufnahme oder Wiederaufnahme durch den ersuchten Mitgliedstaat durch Flucht entziehen. Darauf stellt § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG aber gerade nicht ab. Unerlaubt ist eine Einreise nach § 14 Abs. 1 AufenthG vielmehr, wenn sie ohne gültigen Pass oder Passersatz (Nummer 1), ohne den nach § 4 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel (Nummer 2), mit einem erschlichenen Visum (Nummer 2a) oder entgegen einem Einreiseverbot (Nummer 3) erfolgt. Die näheren tatsächlichen Umstände der Einreise spielen keine Rolle. § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG kann auch nicht mit der Maßgabe angewendet werden, dass die näheren Umstände der Einreise, etwa der Einsatz von Schleusern, erwarten lassen, dass sich der Betroffene der Zurückschiebung durch Flucht entzieht. Welche Umstände dafür maßgeblich sein sollen, soll nach Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung gerade nicht der Richter im Einzelfall, sondern der Gesetzgeber durch (typisierende) Beschreibung von Fallgruppen festlegen.
Der Bundesgerichtshof ist nicht verpflichtet, die Sache dem Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV vorzulegen. Der dem nationalen Gesetzgeber mit Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung erteilte Konkretisierungsauftrag ergibt sich aus der Vorschrift klar und eindeutig. Bei solchen Vorschriften besteht eine unionsrechtliche Pflicht zur Vorlage nicht 8.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – V ZB 124/14
- Erwägungsgründe 41 f.[↩]
- BGH, Beschluss vom 26.06.2014 – – V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rn. 11 f.[↩]
- veröffentlicht in BR-Drs. 965/08 S. 6[↩]
- BGH, Beschluss vom 26.06.2014 – V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rn. 14[↩]
- BGH, Beschluss vom 26.06.2014 – V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rn. 31[↩]
- BGH, Beschluss vom 26.06.2014 – V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rn. 23, 31[↩]
- BGH, Beschluss vom 26.06.2014 – V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rn. 29 f.[↩]
- EuGH, Urteil vom 06.10.1982 – Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 16; weitere Nachweise bei Schmidt-Räntsch in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 2. Aufl., § 23 Rn. 31[↩]