Berufungszulassung durch das Amtsgericht

Maßstab für die verfassungsrechtliche Prüfung ist vorrangig das Rechtsstaatsprinzip, aus dem für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes abzuleiten ist1. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes beeinflusst die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind.

Berufungszulassung durch das Amtsgericht

Hat der Gesetzgeber sich für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden2. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar sind eine den Zugang zur Berufung erschwerende Auslegung und Anwendung des hier einschlägigen § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO dann, wenn sie sachlich nicht zu rechtfertigen sind, sich damit als objektiv willkürlich erweisen und dadurch den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar einschränken3. Von objektiver Willkür ist dabei insbesondere dann auszugehen, wenn das Gericht ohne Auseinandersetzung mit der Sach- und Rechtslage eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder deren Inhalt bei Auslegung und Anwendung in krasser Weise missdeutet4.

Dies ist in dem hier vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde beurteilten Fall bei der unterlassenen Anwendung des § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO der Fall:

Nach Variante 3 dieser Vorschrift lässt das Gericht des ersten Rechtszugs – bei Streitwerten bis 600 € – die Berufung unter anderem zu, wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Damit soll ausweislich der Gesetzesmaterialien vermieden werden, dass schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen, wobei es darauf ankommt, welche Bedeutung die angefochtene Entscheidung für die Rechtsprechung im Ganzen hat5. Von solchen Unterschieden ist bei Abweichung von der Entscheidung eines höherrangigen Gerichts in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage insbesondere dann auszugehen, wenn die Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung ist, weil sie in einer Mehrzahl von Fällen auftreten kann6. Die willkürliche Nichtzulassung der Berufung in solchen Fällen verletzt Grundrechte der im Ausgangsverfahren unterliegenden Partei7.

Weiterlesen:
Berufungseinlegung per elektronischer Kommunikation - und die Rechtsmittelbelehrung

Diese Rechtslage hat das Amtsgericht verkannt. Es hat nicht nur sein Urteil vor Ablauf der von ihm selbst gesetzten Replikfrist sowie ohne Berücksichtigung der fristgerecht eingegangenen Replik und somit unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG erlassen. Es hat sich hiermit zugleich auch – fortgesetzt durch seinen die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin formularmäßig zurückweisenden Beschluss – in Widerspruch zu einer im Entscheidungspunkt gegebenen und von der Beschwerdeführerin in der Klageschrift angeführten einhelligen oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung gesetzt. Das Amtsgericht hat – ohne nachvollziehbare und tragfähige Begründung – die das Bearbeitungsentgelt vorsehende vertragliche Bestimmung nicht als allgemeine Geschäftsbedingung eingeordnet, ungeachtet einer mit der Replik vorgelegten Produktinformation der Bank. Darin war unter der Rubrik „Kosten“ ein „Bearbeitungsentgelt“ in der – auch tatsächlich berechneten – Höhe von 3 % des Nettokreditbetrags ausgewiesen. In diesem Zusammenhang hatte die Beschwerdeführerin darauf hingewiesen, dass das Bearbeitungsentgelt auf der Grundlage des Preisaushangs und dieser Produktinformation der Bank erhoben worden sei. Damit ist das Amtsgericht von einer im Zeitpunkt seiner Entscheidungen einhelligen oberlandesgerichtlichen Auffassung abgewichen, derzufolge entsprechende Bearbeitungsentgelte, die in einem Preis- und Leistungsverzeichnis, in einem Preisaushang oder sonstigen Geschäftsbedingungen vorgesehen sind, als Geschäftsbedingungen einzuordnen sind8.

Hinzu kommt, dass die entscheidungserheblichen Rechtsfragen – die Einordnung eines Bearbeitungsentgelts als allgemeine Geschäftsbedingung, gegebenenfalls deren Kontrollfähigkeit im Sinne von § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB und, bejahendenfalls, die Frage nach ihrer AGB-rechtlichen Wirksamkeit, die eine Vielzahl von Zivilrechtsstreitigkeiten der hier fraglichen Art betreffen, höchstrichterlich noch nicht geklärt sind9.

Weiterlesen:
Rom I

Es fügt sich in das Gesamtbild, dass der vor Klageerhebung angerufene Ombudsmann der privaten Banken sich ausweislich seiner mit der Klageschrift vorgelegten Mitteilung vom 26.02.2012 veranlasst gesehen hat, wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Rechtsfragen von der Durchführung einer Schlichtung abzusehen. Dieser Standpunkt wird in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung geteilt und hat – nach Erlass der von der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts – in zwei Fällen wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Zulassung der Revision zum Bundesgerichtshof geführt10.

Es stand dem Amtsgericht frei, wie geschehen zu entscheiden. Es hätte dann allerdings auf die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin das Verfahren fortführen und – von Amts wegen11 – nach § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO wegen grundsätzlicher Bedeutung (Nr. 1 Var. 1) oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (Nr. 1 Var. 3) die Berufung zulassen müssen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 19. Dezember 2013 – 1 BvR 859/13

  1. vgl. BVerfGE 54, 77, 291; 80, 103, 107; 85, 337, 345; stRspr[]
  2. vgl. BVerfGE 69, 381, 385; 74, 228, 234; 77, 275, 284; 104, 220, 232; 125, 104, 137[]
  3. vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.11.2008 – 1 BvR 2587/06, NJW 2009, 572, 573; BVerfG, Beschluss vom 26.04.2010 – 1 BvR 1991/09, GRUR 2010, S. 1333; BVerfG, Beschluss vom 28.06.2012 – 1 BvR 2952/08, WM 2013, S. 15 f.[]
  4. vgl. BVerfGE 87, 273, 278 f.; 89, 1, 13 f.[]
  5. vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 93, 104[]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.05.2004 – 1 BvR 172/04, NJW 2004, S. 2584, 2585 m.w.N.[]
  7. vgl. BVerfGK 12, 298, 301 f.; BVerfG, Beschluss vom 26.05.2004 – 1 BvR 172/04, NJW 2004, 2584 [jeweils Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG]; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21.01.2009 – 1 BvR 2524/06, NVwZ 2009, 515, 516; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21.12 2009 – 1 BvR 812/09, NJW 2010, 1062, 1063 Rn. 13 ff. [jeweils Verletzung von Art.19 Abs. 4 GG im Verwaltungsrechtsstreit]; BVerfGK 2, 202, 204 [Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch willkürliche Nichtzulassung der Revision]; vgl. auch BerlVerfGH, Beschluss vom 01.04.2008 – VerfGH 203/06, NJW 2008, 3420 [Verletzung der mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG übereinstimmenden Vorschrift der Landesverfassung][]
  8. vgl. OLG Bamberg, Urteil vom 04.08.2010 – 3 U 78/10, WM 2010, S.2072 f.; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 21.02.2011 – 4 U 174/10, MDR 2011, S. 1125; OLG Düsseldorf, Urteil vom 24.02.2011 – I-6 U 162/10; OLG Hamm, Urteil vom 11.04.2011 – 31 U 192/10; OLG Karlsruhe, Urteil vom 03.05.2011 – 17 U 192/10, WM 2011, 1366; OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 27.07.2011 – 17 U 59/11; OLG Dresden, Urteil vom 29.09.2011 – 8 U 562/11, WM 2011, 2320 f.; OLG Celle, Beschluss vom 13.10.2011 – 3 W 86/11, WM 2011, 2323 f. [Berichtigung WM 2012, 191]; OLG Hamm, Urteil vom 17.09.2012 – I-31 U 60/12[]
  9. vgl. nur LG Bonn, Urteil vom 16.04.2013 – 8 S 293/12; LG Berlin, Urteil vom 04.06.2013 – 10 S 2/13, ZIP 2013, S. 1613 ff.; LG Stuttgart, Urteil vom 20.09.2013 – 4 S 67/13; LG Stuttgart, Urteile vom 23.10.2013 – 13 S 65/13 bzw. 13 S 108/13; AG Bonn, Urteil vom 30.10.2012 – 108 C 271/12; AG Mannheim, Urteil vom 01.02.2013 – 3 C 465/12; AG Marienberg, Urteil vom 05.02.2013 – 4 C 63/13; AG Köln, Urteil vom 13.03.2013 – 136 C 600/12; AG Stuttgart, Urteil vom 20.03.2013 – 1 C 39/13; AG Bonn, Urteil vom 05.04.2013 – 105 C 8/13; AG Gelsenkirchen-Buer, Urteil vom 14.05.2013 – 23 C 41/13; AG München, Urteil vom 16.05.2013 – 282 C 1718/13, WM 2013, 1946 f.; AG Düsseldorf, Urteil vom 24.05.2013 – 35 C 15807/12, WM 2013, 1944 ff.; AG Bonn, Urteil vom 13.06.2013 – 102 C 262/12, BKR 2013, 423 ff.; AG Gießen, Urteil vom 25.06.2013 – 47 C 46/13; AG Halle (Saale), Urteil vom 25.07.2013 – 93 C 137/13; AG München, Urteil vom 29.07.2013 – 231 C 6023/13, WM 2013, 1947 f.; AG Hamburg, Urteil vom 31.07.2013 – 8a C 406/12; AG Bad Urach, Urteil vom 02.08.2013 – 1 C 310/13; siehe auch die Nachweise zu der in weiten Teilen nicht veröffentlichten instanzgerichtlichen Rechtsprechung bei Billing, WM 2013, 1777, 1778 in Fn. 14 und 15 und bei Schmieder, WM 2012, 2358 in Fn. 5[]
  10. vgl. LG Bonn, Urteil vom 16.04.2013 – 8 S 293/12; Revision eingelegt: BGH – XI ZR 170/13]; LG Stuttgart, Urteil vom 20.09.2013 – 4 S 67/13, Revision eingelegt: BGH – XI ZR 373/13][]
  11. vgl. Ball, in: Musielak, ZPO, 10. Aufl., § 511 Rn. 42; Heßler, in: Zöller, ZPO, 30. Aufl., § 511 Rn. 39[]
Weiterlesen:
Gerichtliche Kenntnis aus anderen Prozessen und die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme