Dublin III – und vorläufig keine Abschiebung nach Italien

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einstweilen bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde untersagt, die angeordnete Abschiebung einer syrischen Familie nach Italien zu vollziehen.

Dublin III – und vorläufig keine Abschiebung nach Italien

Die einstweilige Anordnung erging aufgrund einer Folgenabwägung:

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum allgemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre1.

Nach vorläufiger Prüfung kann, so das Bundesverfassungsgericht, nicht festgestellt werden, dass die von den Beschwerdeführern erhobene Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist.

Die Beschwerdeführer, eine Familie aus Syrien mit Kindern im Alter von 7, 10, 15, 19 und 20 Jahren, reisten im Januar 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten Asylanträge; zuvor waren sie in Italien als Asylantragsteller registriert worden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte die Anträge als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Italien an, weil die italienischen Behörden ein Übernahmeersuchen nicht innerhalb von zwei Monaten beantwortet hatten. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag, die aufschiebende Wirkung der gleichzeitig erhobenen Klagen anzuordnen, „mit der Maßgabe“ ab, „dass die Antragsgegnerin die zuständigen italienischen Behörden vor der Abschiebung der Antragsteller über die Ankunft einer Familie mit Kindern zu informieren und in Abstimmung mit den italienischen Behörden sicherzustellen hat, dass die Antragsteller zusammen als Familie unmittelbar im Anschluss an die Übergabe an die italienischen Behörden eine gesicherte Unterkunft erhalten“.

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Die Beschwerdeführer rügen mit ihrer Verfassungsbeschwerde unter anderem die Verletzung ihres Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG. Sie hätten keine Möglichkeit, die Einhaltung der in den Tenor der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung aufgenommenen Maßgaben gerichtlich überprüfen zu lassen. Nach dem Beschluss des Verwaltungsgerichts bestehe nicht einmal die Verpflichtung, die Beschwerdeführer über das Vorliegen und die Art der Garantieerklärung Italiens zu informieren. Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge werde somit das Recht eingeräumt, selbst abschließend zu entscheiden, ob es die Maßgaben des Gerichts als erfüllt ansehe oder nicht.

Diese Rüge ist jedenfalls nicht offensichtlich unbegründet; ihr wird im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nachzugehen sein:

Abs. 4 Satz 1 GG garantiert jedem, der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in eigenen Rechten verletzt zu sein, den Zugang zu den Gerichten und eine wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen2. Aus dieser Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt die Pflicht der Gerichte, angefochtene Hoheitsakte grundsätzlich in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen3.

Ob die im vorliegenden Fall verfahrensgegenständliche verwaltungsgerichtliche Tenorierung – Ablehnung des Rechtsschutzbegehrens mit der Maßgabe, die Einhaltung bestimmter Anforderungen sicherzustellen – dieser Rechtsschutzgewährleistung gerecht wird, bedarf näherer Überprüfung. Der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens erweist sich damit jedenfalls als offen.

Die danach gebotene Abwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Den Beschwerdeführern, die jedenfalls überwiegend einer im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte4 besonders schutzbedürftigen Gruppe angehören, droht durch den Vollzug der Abschiebung ein schwerer und nicht ohne weiteres wiedergutzumachender Nachteil. Demgegenüber wiegen etwaige Nachteile infolge eines vorübergehend verlängerten Aufenthalts der Beschwerdeführer in Deutschland weniger schwer, auch wenn es zu einem Ablauf der Überstellungsfrist nach der VO 604/2013 (Dublin III-Verordnung) kommen sollte.

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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 30. April 2015 – 2 BvR 746/1

  1. vgl. BVerfGE 88, 25, 35; 89, 109, 110 f.; stRspr[]
  2. BVerfGE 40, 272, 275; 113, 273, 310; 129, 1, 20[]
  3. BVerfGE 129, 1, 20[]
  4. EGMR, GK, Tarakhel v. Schweiz, Urteil vom 04.11.2014, Nr. 29217/12, NVwZ 2015, S. 127[]