Nichtigkeitsklage – wegen Verletzung der Vorlagepflicht

Verletzt ein letztinstanzliches Gericht seine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union, liegt kein Besetzungsmangel iSd. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vor. Eine Nichtigkeitsklage ist in diesen Fällen nicht statthaft.

Nichtigkeitsklage – wegen Verletzung der Vorlagepflicht

Nach § 79 Satz 1 ArbGG iVm. § 578 Abs. 1 ZPO kann die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Endurteil abgeschlossenen Verfahrens durch Nichtigkeitsklage (§ 579 ZPO) und durch Restitutionsklage (§ 580 ZPO) erfolgen. Mit der Nichtigkeitsklage hat der Gesetzgeber neben der Restitutionsklage ein Mittel geschaffen, um eine Durchbrechung der Rechtskraft in Fällen zu ermöglichen, in denen schwerste Mängel des Verfahrens oder gravierende inhaltliche Fehler gegen den Bestand des Urteils sprechen und dadurch das Vertrauen der Parteien in die Urteilsgrundlage in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise erschüttert ist. Diesem Zweck entspricht es, die Nichtigkeitsklage auf eng begrenzte Ausnahmefälle zu beschränken1.

In seiner Entscheidung vom 28.07.20222 hat das Bundesarbeitsgericht – im Gegensatz zur damaligen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs3 – Zweifel an der Statthaftigkeit einer Nichtigkeitsklage geäußert, soweit mit ihr eine Verletzung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) wegen einer unterlassenen Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gerügt wird. Das Bundesarbeitsgericht hat dies damit begründet, dass die Nichtigkeitsklage nicht dazu diene, eine im Ausgangsverfahren vom Gericht in Kenntnis der Problematik bereits beantwortete Rechtsfrage erneut zur Überprüfung zu stellen. Daher dürfte die Nichtigkeitsklage nur hinsichtlich solcher Wiederaufnahmegründe statthaft sein, die im Ausgangsverfahren übersehen bzw. unerkannt geblieben seien4. Im Ergebnis konnte das Bundesarbeitsgericht diese Frage aber offenlassen, da die Nichtigkeitsklage aus anderen Gründen keinen Erfolg hatte.

Mit Urteil vom 10.10.20235 hat der Neunte Xenat des Bundesfinanzhofs, nachdem dessen Vierter, Achter und Elfter Xenat auf Anfrage mitgeteilt hatten, an ihrer bisherigen Rechtsprechung nicht mehr festzuhalten, entschieden, dass die Nichtigkeitsklage gemäß § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nach dessen klaren Wortlaut nur stattfinde, wenn das Gericht personell nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei. Die Fragen, ob der richtige Spruchkörper oder das richtige Gericht entschieden hätten, fielen dagegen nicht mehr in den Anwendungsbereich dieser Norm. Daher sei eine Nichtigkeitsklage nicht statthaft, wenn sie lediglich darauf gestützt werde, dass im Ausgangsverfahren das Gericht seine Vorlageverpflichtung verkannt habe. Das gelte auch dann, wenn die Beurteilung der Vorlageverpflichtung durch das Ausgangsgericht rechtlich unzutreffend gewesen sei6.

Der Sechste Xenat schließt sich dieser Rechtsauffassung an. Die Verkennung einer Vorlageverpflichtung (durch das vorschriftsmäßig besetzte Gericht) ist eine materiell-rechtliche Frage. Sie betrifft weder die Konstituierung noch die vorschriftsmäßige Besetzung des Spruchkörpers, sondern dessen Entscheidungsfindung7. Sie ist damit kein Besetzungsmangel iSd. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Soweit der Xenat in seiner Entscheidung vom 28.07.20228 in seiner Hilfsbegründung im Anschluss an die damalige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs noch angenommen hat, es liege ein Nichtigkeitsgrund vor, wenn ein zur Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtetes Gericht diese Pflicht willkürlich verletze, hält er hieran nicht mehr fest. Ebenso wie der Neunte Xenat des Bundesfinanzhofs geht er davon aus, dass der Vorwurf der willkürlichen Verletzung der Vorlagepflicht nicht die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts iSv. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO betrifft. Eine solche Verletzung ist deshalb (unmittelbar) mit der Verfassungsbeschwerde gegen die letztinstanzliche Entscheidung geltend zu machen9.

Auch die Sicherstellung der Geltung und Durchsetzbarkeit unionsrechtlicher Regelungen im Rahmen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes (Art.19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV)10 führt nicht zur Statthaftigkeit einer Nichtigkeitsklage für den Fall der Vorlagepflichtverletzung durch das Ausgangsgericht. Im Rahmen des Kooperationsverhältnisses zwischen Gerichtshof der Europäischen Union und Bundesverfassungsgericht11 prüft Letzteres in ständiger Rechtsprechung, ob eine Verletzung der Vorlageverpflichtung an den Unionsgerichtshof zu einer Verletzung des gesetzlichen Richters iSd. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG geführt hat12. Über die Einhaltung der Vorlageverpflichtung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in diesen Fällen wacht das Bundesverfassungsgericht13.

Die vorstehende Rechtslage ist unionsrechtlich geklärt. Einer Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es deshalb nicht.

Das Bundesarbeitsgericht ist nicht verpflichtet, das vorliegende Verfahren auszusetzen und den Unionsgerichtshof um Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zu der Frage zu ersuchen, ob es mit Unionsrecht vereinbar ist, wenn nach nationalem Recht eine Verletzung der Vorlageverpflichtung durch denjenigen Spruchkörper überprüft wird, der die Vorlagepflicht verletzt haben soll. Durch den Unionsgerichtshof ist bereits geklärt, dass es gemäß Art.19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Sache der Mitgliedstaaten ist, ein System von Rechtsbehelfen vorzusehen, mit dem die Einhaltung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet werden kann14. Der Vollzug des Unionsrechts und seine gerichtliche Durchsetzung erfolgen dabei nach nationalem Gerichtsorganisations- und Prozessrecht, da die Mitgliedstaaten für die administrative Durchsetzung des Unionsrechts zuständig sind (Art. 291 Abs. 1 AEUV). Insofern ist es in den Grenzen des Effektivitätsgrundsatzes Sache der Mitgliedstaaten, durch welche verfahrensrechtlichen und gerichtsorganisatorischen Modalitäten sie ihrer Verpflichtung aus Art.19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nachkommen15. Ein bestimmter Instanzenzug oder auch nur ein Rechtsbehelf wird von dieser Norm dabei nicht gewährleistet. Es muss nur sichergestellt sein, dass natürliche und juristische Personen die Rechtmäßigkeit jeder nationalen Entscheidung oder anderen Maßnahme, mit der eine Gemeinschaftshandlung allgemeiner Geltung auf sie angewandt wird, vor einem unabhängigen Gericht16 anfechten und sich dabei auf die Ungültigkeit dieser Handlung berufen können17. Das war vorliegend bereits durch die Kündigungsschutzklage sichergestellt. Eine Kontrolle auch der letztinstanzlichen Entscheidung gebietet Art.19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dagegen nicht. Unabhängig davon entscheidet auch der sich bei der Nichtigkeitsklage selbst kontrollierende Spruchkörper als unabhängiges Gericht in völliger Autonomie und Unparteilichkeit entsprechend der vom Unionsgerichtshof bereits geklärten Anforderungen. Dessen Anrufung bedarf es daher nicht.

Soweit vertreten wird, das Bundesarbeitsgericht müsse dem Unionsgerichtshof Fragen im Zusammenhang damit vorlegen, ob es mit Unionsrecht vereinbar sei, wenn die nationale Rechtsordnung keinen statthaften Rechtsbehelf vorsehe, der eine volle, nicht lediglich auf Willkür beschränkte Rechtsprüfung der Verletzung der Vorlageverpflichtung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ermögliche, fehlt es an deren Entscheidungserheblichkeit. Diese Auffassung verkennt, dass sich die Fragen, ob das Bundesarbeitsgericht in der Ausgangsentscheidung die Vorlageverpflichtung verletzt hat und welcher Prüfungsmaßstab bei einer Rüge der Verletzung des gesetzlichen Richters anzulegen ist, mangels Statthaftigkeit der Nichtigkeitsklage nicht stellen. Diese Fragen werden allenfalls im Verfahren der Verfassungsbeschwerde entscheidungserheblich.

Entsprechend der vorstehenden Maßstäbe ist die vorliegende Nichtigkeitsklage nicht statthaft. Die Klägerin wendet sich mit ihr nicht gegen die personelle Zusammensetzung des erkennendas Bundesarbeitsgerichts bei Erlass der Ausgangsentscheidung18. Sie rügt allein die Verletzung der Vorlageverpflichtung an den Gerichtshof der Europäischen Union und vertritt unter Ergänzung ihres bisherigen rechtlichen Vorbringens lediglich eine von der Ausgangsentscheidung abweichende Rechtsmeinung. Diese Rüge kann mit der Klage nach § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht erhoben werden.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21. März 2024 – 6 AZR 45/23

  1. BAG 28.07.2022 – 6 AZR 24/22, Rn.20 f. mwN, BAGE 178, 283; BFH 10.10.2023 – IX K 1/21, Rn. 14 mwN, BFHE 281, 503[]
  2. BAG 28.07.2022 – 6 AZR 24/22, Rn. 21 f., BAGE 178, 283[]
  3. vgl. BFH 4.09.2009 – IV K 1/09; 13.07.2016 – VIII K 1/16 – BFHE 254, 481 sowie 7.02.2018 – XI K 1/17 – BFHE 260, 410[]
  4. BAG 28.07.2022 – 6 AZR 24/22, Rn. 21 f. mwN, aaO; so jetzt auch BFH 10.10.2023 – IX K 1/21, Rn. 14, 21, BFHE 281, 503[]
  5. BAG 10.10.2023 – IX K 1/21[]
  6. ausführlich BFH 10.10.2023 – IX K 1/21, Rn. 15 f., BFHE 281, 503[]
  7. BeckOK ZPO/Fleck Stand 1.03.2024 ZPO § 579 Rn. 3a.1[]
  8. BAG 28.07.2022 – 6 AZR 24/22, Rn. 25, BAGE 178, 283[]
  9. BFH 10.10.2023 – IX K 1/21, Rn. 17, BFHE 281, 503; vgl. auch BVerfG 8.11.2023 – 2 BvR 1079/20, Rn. 63; BGH Dienstgericht des Bundes 16.11.2023 – RiSt 1/21, Rn. 13[]
  10. vgl. dazu EuGH 27.02.2018 – C-64/16 – [Associação Sindical dos Juízes Portugueses] Rn. 31, 34, 37[]
  11. vgl. dazu BVerfG 14.01.2014 – 2 BvE 13/13 ua., Rn. 27, BVerfGE 134, 366; 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 ua., Rn. 70, 80, BVerfGE 89, 155[]
  12. vgl. u.a. BVerfG 4.03.2021 – 2 BvR 1161/19, Rn. 52 ff.; 19.07.2011 – 1 BvR 1916/09, zu C III der Gründe, BVerfGE 129, 78[]
  13. ausführlich BFH 10.10.2023 – IX K 1/21, Rn.20, BFHE 281, 503[]
  14. EuGH 25.07.2002 – C-50/00 P, Rn. 41; vgl. auch EuGH 27.02.2018 – C-64/16 – [Associação Sindical dos Juízes Portugueses] Rn. 31 ff.; 6.03.2018 – C-284/16, Rn. 34, 36; 5.11.2019 – C-192/18, Rn. 99[]
  15. Gaitanides in von der Groeben/Schwarze/Hatje Europäisches Unionsrecht 7. Aufl. Art.19 EUV Rn. 60[]
  16. dazu EuGH 5.11.2019 – C-192/18, Rn. 105 f., 108 ff.[]
  17. EuGH 25.07.2002 – C-50/00 P, Rn. 41; vgl. auch EuGH 27.02.2018 – C-64/16 – [Associação Sindical dos Juízes Portugueses] Rn. 31, 34, 37[]
  18. BAG 08.11.2022 – 6 AZR 16/22[]