Die Anwesenheit eines zur Verteidigung bereiten Verteidigers steht nach Ansicht des Oberlandesgerichts Karlsruhe der Verwerfung der Berufung des geladenen, aber nicht erschienenen Angeklagten nicht entgegen, wenn die Befugnis zur Vertretung des Angeklagten nicht durch schriftliche Vollmacht nachgewiesen ist.

Ob der Rechtsprechung des EGMR, wonach die Verwerfung der Berufung des Angeklagten ohne Hauptverhandlung zur Sache, weil der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne Entschuldigungsgrund nicht erschienen ist, eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK darstellt, wenn ein verteidigungsbereiter Verteidiger erschienen ist1, durch konventionskonforme Auslegung von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO Rechnung getragen werden kann2, bedarf vorliegend keiner Entscheidung.
Selbst bei einer befürwortenden Auslegung ergeben sich aus § 234 StPO weitere an den Nachweis der Vertretungsmacht zu stellende Anforderungen, die vorliegend nicht erfüllt sind. Dieser Bestimmung zufolge ist die Vertretung des Angeklagten, soweit die Hauptverhandlung ohne seine Anwesenheit stattfinden kann, (nur) durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger zulässig.
Auch wenn die Vorschrift des § 234 StPO im Zusammenhang mit den in §§ 231 Abs. 2, 231a, 231b und 232 StPO gesetzlich geregelten Ausnahmefällen von dem in § 231 Abs. 1 StPO aufgestellten Grundsatz, wonach nur gegen einen anwesenden Angeklagten verhandelt werden kann, zu sehen ist, sind ihre tatbestandlichen Voraussetzungen doch so gefasst, dass sie auch dann eingreift, wenn über die gesetzlich ausdrücklich geregelten Fälle hinaus eine Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten für zulässig erachtet wird. Die Anwendbarkeit des § 234 StPO auf die hier gegebene Fallkonstellation und damit das Erfordernis einer besonderen Vertretungsvollmacht ergeben sich auch aus einem Vergleich mit der Rechtslage im Strafbefehlsverfahren. Gemäß §§ 411 Abs. 2, 329 Abs. 1 Satz 1 StPO kann sich ein Angeklagter hier auch in der Berufungshauptverhandlung durch einen Verteidiger vertreten lassen, der seine Vertretungsmacht durch eine schriftliche Vollmacht nachweisen muss. Es liegt auf der Hand, dass für die Vertretung eines Angeklagten, gegen den Anklage erhoben worden ist, keine geringeren Anforderungen gelten können.
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Karlsruhe steht die Regelung des § 234 StPO nicht in Widerspruch zu den in Art. 6 EMRK verbürgten Rechten des Angeklagten, insbesondere dem Anspruch auf rechtlichen Beistand gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. Dies ergibt sich nach der Auffassung des Oberlandesgerichts daraus, dass das Erfordernis des Nachweises einer schriftlichen Vollmacht nicht die Rechte des Angeklagten beschneidet, sondern im Gegenteil seinem Schutz dient. Eine solche zur umfassenden Vertretung ermächtigende schriftliche Vollmacht verlangt das Gesetz nämlich im Interesse des Angeklagten, da er damit wichtige Verfahrensrechte in die Hände seines Vertreters legt, der an seine Stelle tritt und mit Wirkung für ihn Erklärungen abgeben und entgegennehmen kann, an die der Angeklagte gebunden ist und deren Folgen allein er zu tragen hat3.
Das Erfordernis, die Befugnis zur Vertretung des Angeklagten in der Hauptverhandlung auch in dessen Abwesenheit durch entsprechende schriftliche Vollmacht nachzuweisen, gilt auch für den gemäß § 141 StPO bestellten Verteidiger.
Dieser sog. Pflichtverteidiger hat grundsätzlich dieselbe Rechtsstellung wie der gewählte Verteidiger, wobei der Bestellungsakt lediglich die durch die Verteidigungsvollmacht nachgewiesene rechtsgeschäftlich begründete Verteidigungsbefugnis ersetzt4. Der Wahlverteidiger ist aber nicht (allgemeiner) Vertreter, sondern (vgl. § 137 Abs. 1 StPO) Beistand des Angeklagten, der einen gesetzlichen Auftrag zu erfüllen hat5. Die übliche Verteidiger-vollmacht ermächtigt ihn nicht, den Angeklagten zugleich auch in der Erklärung und im Willen zu „vertreten“6. Dafür ist vielmehr eine ausdrückliche Vollmacht erforderlich7. Wegen der Vergleichbarkeit der Rechtsstellung gilt das auch für den Pflichtverteidiger. Ein Grund, den gemäß § 141 StPO bestellten Verteidiger anders zu behandeln und ihn auch ohne besondere Vollmacht als zur Vertretung im vorgenannten Sinn ermächtigt anzusehen, besteht nicht8.
Vorliegend ergibt sich schon aus dem Vorbringen in der Revisionsbegründung selbst, dass der Verteidiger keine vom Angeklagten erteilte Vollmacht, ihn in der Hauptverhandlung in seiner Abwesenheit zu vertreten, besaß. Dass der Verteidiger zu einer solchen Vertretung überhaupt vom Angeklagten ermächtigt wurde, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Oberlandesgericht Karlsruhe, Beschluss vom 25. September 2013 – 2 (6) Ss 386/13 – AK 101/13
- EGMR StraFo 2012, 490 m.w.N.[↩]
- ablehnend OLG Düsseldorf StV 2013, 299; OLG Hamm VRR 2012, 391; OLG München NStZ 2013, 358; vgl. im Übrigen Mosbacher NStZ 2013, 312; Peglau jurisPR-StrafR 5/3013 Anm. 3; Püschel StraFo 2012, 493; Esser StV 2013, 331[↩]
- vgl. BGHSt 9, 356; Gmel in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 234 Rn. 5; Mosbacher a.a.O., <314> m.w.N.[↩]
- Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl.2013, vor § 137 StPO Rn. 1 m.w.N.; Laufhütte in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl.2008, vor § 137 Rn. 3[↩]
- Meyer-Goßner, a.a.O.[↩]
- BGH a.a.O.[↩]
- Meyer-Goßner, a.a.O., § 234 StPO Rn. 5 m.w.N.; Laufhütte, a.a.O. und Gmel in Karlsruher Kommentar, a.a.O., § 234 Rn. 4[↩]
- OLG Hamm, Beschluss vom 16.05.1995 – 2 Ss 427/95, bei juris; OLG Brandenburg wistra 2012, 43; OLG Düsseldorf a.a.O.[↩]