Art. 6 Abs. 3 MRK hindert nicht die Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG, wenn im Termin für den abwesenden Betroffenen ein vertretungsbefugter Verteidiger auftritt, der Betroffene aber von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden war.

Voraussetzung für eine Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör wäre, dass das Amtsgericht den Betroffenen unter Missachtung seines Vorbringens zu Unrecht nicht von seiner Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden hätte. Das Amtsgericht hat vorliegend die beantragte Entbindung vom persönlichen Erscheinen jedoch mit zutreffender Begründung abgelehnt, weil die Anwesenheit des Betroffenen, nachdem er zur Fahrereigenschaft keine Angaben gemacht hat, zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes erforderlich war. Die in § 73 Abs. 2 OWiG geregelten Voraussetzungen lagen mithin nicht vor.
Die Verfahrensrüge der Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit c MRK ist zwar zulässig erhoben, aber ebenfalls unbegründet. Dahingestellt bleiben kann, ob die Anwendung von § 74 Abs. 2 OWiG im Fall eines in der Hauptverhandlung durch einen Rechtsanwalt vertretenen Betroffenen überhaupt gegen Art. 6 Abs. 3 MRK verstößt. Denn selbst wenn dies der Fall wäre, war das Amtsgericht aufgrund des nicht auslegungsfähigen und eindeutigen Wortlauts der Regelung des § 74 Abs. 2 OWiG zu ihrer Anwendung verpflichtet (Art.20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG).
Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten wurde als völkerrechtlicher Vertrag durch den Bundesgesetzgeber in das deutsche Recht transformiert. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung kommt den Regelungen der Konvention der Rang einfachen Bundesrechts zu. Die Konvention ist bei der Interpretation des nationalen Rechts im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden. Dabei sind auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, weil sie den aktuellen Entwicklungsstand der Konvention widerspiegeln. Aus dem Stellenwert der Europäischen Menschenrechtskonvention als lediglich einfaches Bundesrecht folgt indes, dass die Verpflichtung deutscher Gerichte zu vorrangiger konventionskonformer Auslegung auf Fälle vorhandener Auslegungs- und Abwägungsspielräume beschränkt ist. Die Zulässigkeit konventionskonformer Auslegung endet aus Gründen der Gesetzesbindung der Gerichte dort, wo der gegenteilige Wille des nationalen Gesetzgebers deutlich erkennbar wird. Die Europäische Menschenrechtskonvention eröffnet den Gerichten keine Verwerfungskompetenz für eindeutig entgegenstehende Gesetze. Anders als bei deren Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz (Art. 100 Abs. 1 GG) besteht hier auch keine Vorlegungsmöglichkeit. In diesen Fällen ist allein der Gesetzgeber aufgerufen, eine Verletzung der Konvention in Folge Anwendung eindeutiger gesetzlicher Regelung durch deren Abänderung zu beseitigen [1].
Die Anwendung der vorstehenden Grundsätze auf den hier zu entscheidenden Fall hat zur Folge, dass § 74 Abs. 2 OWiG nicht entgegen seinem eindeutigen Wortlaut ausgelegt werden kann [2].Eine Vertretung des Betroffenen durch den Verteidiger ist vielmehr nur unter den in § 73 Abs. 3 OWiG genannten Voraussetzungen zulässig, nämlich wenn das Gericht den Betroffenen zuvor von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden hat. Nachdem diese Voraussetzungen hier nicht gegeben waren, hat das Amtsgericht den Einspruch des Betroffenen zu Recht gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen.
Oberlandesgericht Dresden, Beschluss vom 7. März 2014 – Oberlandesgericht 23 Ss 56/14 (Z)
- so BGHSt 56, 73 ff., m.w.N.[↩]
- vgl. zur Regelung des § 329 Abs. 1 StPO nur: OLG Celle, NStZ 2013, 615; OLG München, Beschluss vom 17.01.2013, Az.: 4 StRR (a) 18/12, zitiert nach juris[↩]