Die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist, erfolgt in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren:

- Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist.
- Sodann sind in einem weiteren Schritt der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Angeklagten zu untersuchen [1].
Haben bei der Tat mehrere Faktoren zusammengewirkt und kommen mehrere Eingangsmerkmale gleichzeitig in Betracht, so dürfen diese hierbei nicht isoliert abgehandelt, sondern müssen einer Gesamtbetrachtung unterzogen werden [2].
Es bedurfte im hier entschiedenen Fall jedoch keiner Entscheidung des Bundesgerichtshofs, ob eine ADHS-Erkrankung als krankhafte seelische Störung oder als eine schwere andere seelische Abartigkeit einzuordnen ist [3]. Denn keines dieser Eingangsmerkmale des § 20 StGB sah der Bundesgerichtshof von der Strafkammer tragfähig festgestellt:
Allein eine psychiatrische Diagnose ist nicht mit einem Eingangsmerkmal des § 20 StGB gleichzusetzen. Hierfür sind vielmehr – wie oben dargelegt – der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit entscheidend [4]. Die positive Feststellung, dass der Angeklagte eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der erheblich verminderten Schuldfähigkeit begangen hat, setzt dabei voraus, dass in der Person des Angeklagten letztlich nicht nur Eigenschaften und Verhaltensweisen hervorgetreten sind, die sich im Rahmen dessen halten, was bei schuldfähigen Menschen anzutreffen und übliche Ursache für strafbares Verhalten ist [5]. Hierzu gehören etwa Eigenschaften wie Stimmungsschwankungen, geringe Frustrationstoleranz, Tendenz zu Streitereien und Impulsivität; diese sind nicht ohne weiteres dazu geeignet, eine Person in einen Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit zu versetzen [6].
Für die Bewertung der Schwere einer krankhaften seelischen Störung ist vielmehr insbesondere maßgebend, ob es im Alltag außerhalb der beschuldigten Delikte zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist [7]. Dies gilt in gleicher Weise, wenn es um die Einordnung als schwere andere seelische Abartigkeit geht. Auch für die Bewertung deren Schwere ist im Allgemeinen maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist [8]. Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens oder Verhaltens sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die an krankhafte seelische Störungen oder an eine – dieser gleichzustellenden – schwere andere seelische Abartigkeit zu stellen sind [9].
Eine solche Prüfung, ob es im Alltag außerhalb der beschuldigten Delikte zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist, lies das landgerichtliche Urteil im vorliegenden Fall – wie oben dargelegt – indes vermissen. Hinzu kommt, dass das von der Strafkammer festgestellte Tatgeschehen jedenfalls in weiten Teilen nicht die typischen Merkmale eines auf einer Impulskontrollstörung beruhenden Geschehens aufweist [10]. Vielmehr hat der Angeklagte seinen Entschluss, mit der Nebenklägerin auch gegen deren Willen den Geschlechtsverkehrs auszuüben, umgesetzt, indem er sich zur Wohnung der Nebenklägerin begab, zu dem gekippten Fenster kletterte, dieses öffnete, ihr den Mund zuhielt, ihr das Mobiltelefon abnahm, um dessen Benutzung zu verhindern, auf das Einschalten des Lichts dadurch reagierte, dass er die Kapuze seines Sweatshirts aufsetzte und anschließend das Licht wieder ausschaltete, und schließlich auch auf die Flucht der Nebenklägerin ins Wohnzimmer noch interessengerecht reagierte. Zudem handelte er bei dem ersten Schlag, um die Schreie der Nebenklägerin zu unterbinden, bei den weiteren, zu dem Nasenbeinbruch führenden Gewalthandlungen schlug er aus Wut über die körperliche Gegenwehr der Nebenklägerin und damit ebenfalls aus „einem gewissen Beweggrund“ zu [11]. Nicht für eine Überforderung, sondern ein plausibles Motiv der Misshandlungen spricht auch, dass der Angeklagte selbst eingeräumt hat, dass „Ziel seiner Schläge … gewesen (sei), die Schreie und Hilferufe der Nebenklägerin zu unterbinden, damit keine Dritten auf die Situation aufmerksam werden würden“.
Die Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Urteils mit den Feststellungen, soweit die Strafkammer von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Tat ausgegangen ist.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21. Juni 2016 – 4 StR 161/16
- BGH, Urteile vom 12.06.2008 – 3 StR 154/08, NStZ-RR 2008, 338, 339 7; vom 17.04.2012 – 1 StR 15/12, NStZ 2013, 53, 54 24; Beschluss vom 12.03.2013 – 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520 7[↩]
- BGH, Beschluss vom 12.03.2013 – 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520 7, mwN[↩]
- vgl. dazu auch Nedopil/Müller, Forensische Psychiatrie, 4. Aufl., S. 136, und OLG Hamm, Beschluss vom 05.11.2007 – 3 Ss 461/07, NStZ-RR 2008, 138 13[↩]
- BGH, Beschlüsse vom 22.05.2013 – 1 StR 71/13, Rn. 6; vom 19.12 2013 – 2 StR 534/13, BGHR StGB § 20 Wahnvorstellungen 1, Rn. 4; vom 08.01.2014 – 2 StR 514/13, Rn. 8; Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, NStZ 2005, 57, 58[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 19.02.2015 – 2 StR 420/14, Rn. 7; ferner Urteil vom 02.04.1997 – 2 StR 53/97, BGHR StGB § 21 Psychose 1, Rn. 7; Beschluss vom 15.07.1997 – 4 StR 303/97, BGHR StGB § 63 Zustand 26, Rn. 6[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 04.10.2006 – 2 StR 349/06, NStZ 2007, 29 f., Rn. 4[↩]
- BGH, Beschluss vom 22.05.2013 – 1 StR 71/13 6; Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, NStZ 2005, 57, 58[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 21.01.2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52, Rn. 31; vom 01.07.2015 – 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319, 3320, Rn. 14; OLG Hamm aaO; vgl. auch Nedopil/Müller aaO S. 139[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 21.01.2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52, Rn. 31[↩]
- vgl. dazu auch BGH, Urteil vom 21.01.2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52 32[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 30.09.2008 – 5 StR 305/08, Rn. 4[↩]
Bildnachweis:
- Marihuana,Cannabis,BTM,: Pixabay (User: TechPhotoGal)
- Staatsanwaltschaft Dresden Zweigstelle Meißen 1: Wikemedia Commons | Public Domain Mark 1.0