Die 34-monatige Untätigkeit des Finanzgerichts

Bei einem finanzgerichtlichen Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, besteht die Vermutung, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene Phase der gerichtlichen Aktivität nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt.

Die 34-monatige Untätigkeit des Finanzgerichts

Wird das Finanzgericht in einem Klageverfahren, das sowohl hinsichtlich seines Schwierigkeitsgrads als auch hinsichtlich seiner Bedeutung für die Verfahrensbeteiligten als durchschnittlich anzusehen ist, erstmals 34 Monate nach Klageeingang tätig und bescheidet es mehrere Verzögerungsrügen und Sachstandsanfragen des Verfahrensbeteiligten entweder gar nicht oder lediglich mit -nicht auf das konkrete Verfahren bezogenen- Standard-Textbausteinen, ist die Verfahrensdauer im Umfang von neun Monaten als unangemessen anzusehen.

Führt ein Entschädigungsklageverfahren zur Zuerkennung eines Geldanspruchs, besteht zusätzlich ein Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz (§ 288 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 291 BGB). Der erhöhte Zinssatz des § 288 Abs. 2 BGB (acht Prozentpunkte über dem Basiszinssatz) ist nicht anwendbar, weil ein Anspruch auf Entschädigung keine „Entgeltforderung“ darstellt.

Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Diese gesetzlichen Maßstäbe beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts1.

Nach dieser Entscheidung ist der Begriff der „Angemessenheit“ für Wertungen offen, die dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einem möglichst zügigen Abschluss des Rechtsstreits einerseits und anderen, ebenfalls hochrangigen sowie verfassungs- und menschenrechtlich verankerten prozessualen Grundsätzen -wie dem Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes durch inhaltlich möglichst zutreffende und qualitativ möglichst hochwertige Entscheidungen, der Unabhängigkeit der Richter und dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter- Rechnung tragen. Danach darf die zeitliche Grenze bei der Bestimmung der Angemessenheit der Dauer des Ausgangsverfahrens nicht zu eng gezogen werden; dem Ausgangsgericht ist ein erheblicher Spielraum für die Gestaltung seines Verfahrens -auch in zeitlicher Hinsicht- einzuräumen. Zwar schließt es die nach der Konzeption des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG vorzunehmende Einzelfallbetrachtung aus, im Rahmen der Auslegung der genannten Vorschrift konkrete Fristen zu bezeichnen, innerhalb der ein Verfahren im Regelfall abschließend erledigt sein sollte. Gleichwohl kann für ein finanzgerichtliches Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, die Vermutung aufgestellt werden, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene („dritte“) Phase des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt. Dies gilt nicht, wenn der Verfahrensbeteiligte rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf Umstände hinweist, aus denen eine besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens folgt.

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Nach diesen Grundsätzen ist das Ausgangsverfahren um neun Monate in unangemessener Weise verzögert worden.

Die Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG beispielhaft genannten Kriterien vermittelt im Streitfall kein einheitliches Bild.

Der Schwierigkeitsgrad des Verfahrens war als durchschnittlich anzusehen. Einerseits waren die für die Beurteilung des Rechtsstreits maßgebenden rechtlichen Grundsätze geklärt. In tatsächlicher Hinsicht ging es aber um einen Sachverhalt, der die private Sphäre des Klägers berühren könnte und daher regelmäßig nicht ohne Schwierigkeiten aufklärbar ist.

Die Bedeutung des Ausgangsverfahrens war für den Kläger in Bezug auf die Einkommen- und Gewerbesteuer -legt man das Verhältnis zwischen den streitigen und den insgesamt festgesetzten Beträgen von 50 % bzw. 100 % zugrunde- erheblich. In Bezug auf die Umsatzsteuer ging es demgegenüber nur um einen Betrag von 1, 4 % der für das Streitjahr festgesetzten Steuerschuld. Allerdings ist davon auszugehen, dass die -formal auf das Jahr 2006 beschränkte- Entscheidung des Finanzgericht im Ausgangsverfahren auch für die Folgejahre von Bedeutung war.

Das Finanzamt hatte Aussetzung der Vollziehung gewährt, so dass sich der Kläger während der gesamten Verfahrensdauer keinen fälligen Forderungen des Finanzamt gegenüber sah, auch wenn er -im Falle eines Unterliegens im Ausgangsverfahren- Aussetzungszinsen gemäß § 237 AO zu tragen gehabt hätte.

Umstände, die für eine besondere Eilbedürftigkeit des Ausgangsverfahrens sprechen, sind dem Finanzgericht weder vom Kläger unterbreitet worden noch waren derartige Umstände für das Finanzgericht sonst ersichtlich.

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Den zahlreichen Sachstandsanfragen und Verzögerungsrügen des Klägers waren keine Darlegungen zu entnehmen, aus denen sich eine objektiv bestehende besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens ergeben hätte.

Entgegen der Auffassung des Klägers ergab sich eine solche besondere Eilbedürftigkeit auch nicht aus den dem Finanzgericht vorliegenden Akten.

Nicht nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang der Verweis des Klägers auf seine in der Klageschrift enthaltene Behauptung, das Finanzamt habe gegenüber seinem Prozessbevollmächtigten erklärt, der Rechtsstreit habe grundsätzliche Bedeutung und solle einer Entscheidung durch den Bundesfinanzhof zugeführt werden. Zum einen wird diese Behauptung durch den übrigen Akteninhalt und insbesondere durch das Vorbringen des Finanzamt, das in seiner Klageerwiderung ausdrücklich erklärt hatte, seine Entscheidung stimme mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs überein, nicht getragen. Zum anderen würde eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und die Notwendigkeit einer höchstrichterlichen Klärung darauf hindeuten, dass das Ausgangsverfahren von überdurchschnittlichem Schwierigkeitsgrad wäre, was gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG auch eine gegenüber dem Normalfall moderat verlängerte -nicht etwa verkürzte- Verfahrensdauer noch als angemessen erscheinen lassen könnte.

Ebensowenig nachvollziehbar ist die Behauptung des Klägers, aus dem -als Anlage zur Klageschrift eingereichten- Betriebsprüfungsbericht seien die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers erkennbar gewesen, so dass das Finanzgericht hätte wissen müssen, dass die Höhe der streitigen Steuerbeträge für den Kläger von existenzieller Bedeutung gewesen sei. Tatsächlich waren jedenfalls die Vermögensverhältnisse des Klägers aus dem Betriebsprüfungsbericht nicht ersichtlich.

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Soweit der Kläger die Auffassung vertritt, der von ihm in der Klageschrift „vorsorglich“ beantragte Sachverständigenbeweis zu der Tatsache, dass er sämtliche hinter der vorderen Sitzbank liegenden Sitzplätze des VW Multivan entfernt habe, habe erkennbar für eine besondere Eilbedürftigkeit gesprochen, vermag der Bundesfinanzhof dem ebenfalls nicht zu folgen. Zum einen war diese Tatsache nicht nur durch eingereichte Lichtbilder glaubhaft gemacht worden, sondern zwischen den Beteiligten auch unstreitig, so dass eine Beweiserhebung entbehrlich war. Zum anderen war nicht ersichtlich, dass während des Zeitraums, in dem die Verfahrensdauer im Allgemeinen als noch angemessen anzusehen ist, eine Verschlechterung oder Unerreichbarkeit des Beweismittels drohen könnte.

Die Würdigung, dass die Verfahrensdauer in Bezug auf einen Zeitraum von neun Monaten unangemessen war, ergibt sich aus einer Betrachtung des konkreten Verfahrensablaufs.

In dem seit dem 9.03.2010 beim Finanzgericht anhängigen Klageverfahren endete der Wechsel der vorbereitenden Schriftsätze zwischen den Beteiligten am 23.08.2010.

Geht man nach den vorstehend unter a dargelegten Grundsätzen davon aus, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu vermuten ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, hätte das Finanzgericht das Verfahren im Frühjahr 2012 wieder aufgreifen und durch kontinuierliches Tätigwerden zur Entscheidung führen müssen. Tatsächlich ist das Finanzgericht jedoch -trotz der im Dezember 2011 erhobenen Verzögerungsrüge des Klägers- erst im Januar 2013 wieder tätig geworden. Danach ist im Zeitraum von April bis Dezember 2012 (insgesamt neun Monate) eine unangemessene Verzögerung des Verfahrens eingetreten.

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Dem Kläger steht aufgrund der unangemessenen Verfahrensdauer eine Entschädigung für Nichtvermögensnachteile in Höhe von 900 € zu.

Das Entstehen eines Nichtvermögensnachteils wird in Fällen unangemessener Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet2.

Eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 GVG wäre im Streitfall nicht ausreichend. Dafür spricht vor allem, dass das Finanzgericht auf die zahlreichen Versuche des Klägers, es zu einer Entscheidung innerhalb angemessener Frist zu bewegen, entweder gar nicht reagiert hat oder sich auf Standardantworten beschränkt und dem Kläger noch nicht einmal einen Zeitpunkt in Aussicht gestellt hat, ab dem mit einer Verfahrensförderung zu rechnen sei. In derartigen Fällen ist ein Verfahrensbeteiligter, der -wie aus den zahlreichen Anfragen des Klägers folgt- erkennbar, wenn auch ohne Nennung konkreter Umstände, die für eine besondere Beschleunigung des Verfahrens sprechen, an einer zügigen Entscheidung interessiert ist, von der Verfahrensverzögerung in stärkerem Maße betroffen als wenn das Ausgangsgericht zwar seine Überlastung zu erkennen gibt, aber zugleich seine Vorstellungen vom weiteren Ablauf des Verfahrens in zeitlicher Hinsicht konkretisiert und den Beteiligten mitteilt. Hinzu kommt, dass das Finanzgericht im Streitfall in den 35 Monaten, die der mündlichen Verhandlung vorangegangen sind, keinerlei verfahrensfördernde Aktivitäten entfaltet hat.

Umstände dafür, dass der in § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG genannte Regelbetrag von 1.200 EUR für jedes Jahr der Verzögerung vorliegend unbillig (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG) sein könnte, sind weder von den Beteiligten vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.

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Auch wenn im Gesetz ein Jahresbetrag genannt ist, kann dieser -anders als der Kläger meint- im konkreten Fall nach Monaten bemessen werden3.

Die Prozesskosten, die der Kläger aufgrund der im Ausgangsverfahren getroffenen Kostenentscheidung des Finanzgericht zu zahlen hatte, beruhen nicht auf der Verzögerung jenes Verfahrens. Es ist weder erkennbar noch vom Kläger vorgetragen, dass das Finanzgericht -auf der Grundlage seiner kostenrechtlichen Rechtsauffassung- eine andere Kostenentscheidung getroffen hätte, wenn es das Verfahren in angemessener Zeit zu einem Ende geführt hätte.

Der Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz vom Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit der Entschädigungsklage (§ 66 FGO) an folgt aus § 291 i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.

Im Rahmen von Entschädigungsklagen sind die genannten Vorschriften auch in den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten anwendbar, weil Spezialregelungen, die den allgemeinen Anspruch auf Prozesszinsen verdrängen könnten, nicht bestehen4. Dies gilt auch, wenn -wie im Streitfall- die Vorschriften über das finanzgerichtliche Verfahren erster Instanz anzuwenden sind, da sich die abgabenrechtlichen Regelungen über Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge (§ 236 AO) nur auf zu erstattende Steuern und Steuervergütungen beziehen.

Nicht zu folgen ist allerdings der Auffassung des Klägers, ihm stehe ein Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von acht Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu.

Der auf § 288 Abs. 2 BGB gestützte Anspruch auf erhöhte Prozesszinsen setzt nicht allein voraus, dass an dem „Rechtsgeschäft“ ein Verbraucher nicht beteiligt ist, sondern auch, dass es um eine „Entgeltforderung“ geht. Der vorliegende Rechtsstreit betrifft indes eine Forderung auf eine Entschädigungszahlung, nicht aber eine Entgeltforderung.

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Entgeltforderungen sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Forderungen auf Zahlung eines Entgelts als Gegenleistung für eine vom Gläubiger erbrachte oder zu erbringende Leistung5. Die vorliegend vom Bundesfinanzhof auf der Grundlage des § 198 GVG zugesprochene Entschädigung kann aber nicht als Gegenleistung für eine vom Kläger erbrachte Leistung angesehen werden. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass die entsprechende Geltung der §§ 291, 288 BGB für öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche zu einer Verzinsung von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gemäß § 288 Abs. 1 BGB führt, aber keine ausreichende Analogiebasis besteht, Absatz 2 dieser Vorschrift anzuwenden6.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 19. März 2014 – X K 8/13

  1. vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich BFH, Urteil in BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, unter II. 2.[]
  2. vgl. auch BFH, Urteil vom 17.04.2013 – X K 3/12, BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547, unter III. 6.a[]
  3. ebenso BSG, Urteil vom 21.02.2013 – B 10 ÜG 1/12 KL, BSGE 113, 75, unter 2.c d[]
  4. vgl. für die Sozialgerichtsbarkeit: Hess. LSG, Urteil vom 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, NZS 2013, 472; Thür. LSG, Urteil vom 10.07.2013 – L 12 SF 916/12 EK[]
  5. BGH, Urteile vom 21.04.2010 – XII ZR 10/08, NJW 2010, 1872, unter II. 2.a bb, mit Beispielen; und vom 06.11.2013 – KZR 58/11, Neue Zeitschrift für Kartellrecht 2014, 31, unter B.II. 4.c bb[]
  6. BGH, Urteil vom 18.03.2004 – 3 C 23/03, NVwZ 2004, 991, unter 3.[]