Tarifvertragliche Gesamtzusage – und die Anrechnung einer gesetzlichen Erwerbsminderungsrente

Eine Bestimmung in einem Versorgungstarifvertrag, die sich nach ihrer sprachlichen Fassung nur auf Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht, die „aufgrund ihrer vorzeitigen Inanspruchnahme“ gekürzt wurden, regelt nur die Anrechnung gesetzlicher Altersrenten, nicht jedoch von Erwerbsminderungsrenten.

Tarifvertragliche Gesamtzusage – und die Anrechnung einer gesetzlichen Erwerbsminderungsrente

Wird – wie vorliegend beim DAK-Tarifvertrag Alters- und Hinterbliebenenversorgung (DAK-TV) – in einem Tarifvertrag ohne eigene Definition ein Begriff übernommen, der in einem Gesetz verwandt wird, mit dem ein Sachzusammenhang besteht, so ist grundsätzlich die fachspezifische gesetzliche Bedeutung zugrunde zu legen1.

Eine „vorzeitige Inanspruchnahme“ der Sozialversicherungsrente ist nach den sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen – auf die auch im Rahmen von Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 2 der Anlage 7a zum DAK-TV abzustellen ist – nur bei der gesetzlichen Altersrente möglich. Schon § 36 SGB VI in der Fassung vom 16.12 1997 (im Folgenden aF) sah vor, dass langjährig Versicherte eine Altersrente vor Vollendung des 65. Lebensjahres vorzeitig in Anspruch nehmen können, wenn sie das 62. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt hatten. Entsprechende Regelungen zur vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente enthielten § 37 Satz 2 SGB VI aF für schwerbehinderte Menschen sowie die Übergangsvorschriften in § 236 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 und Abs. 3 SGB VI aF für langjährig Versicherte bestimmter Geburtsjahrgänge. Bei einer gesetzlichen Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht die Möglichkeit einer „vorzeitigen Inanspruchnahme“ hingegen nicht. Die Erwerbsminderungsrente wird dem gesetzlich Rentenversicherten, der die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, wegen und nur bei Vorliegen gesundheitlicher Einschränkungen gewährt (vgl. § 43 Abs. 2, § 99 Abs. 1 SGB VI). Anders als die gesetzliche Altersrente kann sie auch immer nur bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze in Anspruch genommen werden (vgl. § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI). Damit kommt eine „vorzeitige Inanspruchnahme“ der Erwerbsminderungsrente nicht in Betracht.

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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 77 SGB VI. Zwar schreiben § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 SGB VI in der seit dem 1.01.2001 geltenden Fassung sowohl für vorzeitig in Anspruch genommene Altersrenten als auch für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit die Anwendung eines Zugangsfaktors bei der Rentenberechnung vor. Im Gegensatz zu § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a SGB VI, der den Zugangsfaktor für die Altersrente regelt, verwendet allerdings § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI – der die Erwerbsminderungsrente betrifft – nicht den Begriff der „vorzeitigen Inanspruchnahme“ für den Bezug einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Soweit § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI in der ab dem 1.01.2001 geltenden Fassung bestimmt, dass die Zeiten des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als „Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme“ gelten, führt auch dies nicht zu einem anderen Ergebnis. Die Regelung will in Zusammenhang mit § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI lediglich sicherstellen, dass auch bei einem Bezug der Erwerbsminderungsrente höchstens ein Abschlag in Höhe von 10, 8 % erhoben wird2.

Das vom Wortlaut vorgegebene Auslegungsergebnis von Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 2 der Anlage 7a zum DAK-TV wird durch die tarifliche Systematik bestätigt.

Buchst. a Unterabs. 3 der Anlage 7a zum DAK-TV sieht vor, dass nur die gekürzte Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung auf das Gesamtruhegeld angerechnet wird, wenn der Versorgungsfall im Anschluss an eine Altersteilzeit eintritt. Damit nimmt die Regelung vorzeitig in Anspruch genommene gesetzliche Renten, die von den Arbeitnehmern nach einer Altersteilzeit in Anspruch genommen werden, von der fiktiven Anrechnung nach Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 2 der Anlage 7a zum DAK-TV aus. Bei diesen Sozialversicherungsrenten handelt es sich indes typischerweise um Altersrenten. Nach den Vorstellungen der Tarifvertragsparteien soll im Fall der Altersteilzeit keine um den Zugangsfaktor bereinigte Anrechnung der vorzeitig in Anspruch genommenen gesetzlichen Altersrente auf das Gesamtruhegeld erfolgen, da sich deren Kürzung nach Nr. 9a der Anlage 7a zum DAK-TV bereits bei der Höhe des Versorgungssatzes auswirkt. Systematisch regelt Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 3 der Anlage 7a zum DAK-TV damit eine vom vorhergehenden Unterabsatz abweichende Ausnahme. Auch dies lässt den Schluss darauf zu, dass Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 2 der Anlage 7a zum DAK-TV nur die vorgezogen in Anspruch genommene Altersrente und nicht auch die Erwerbsminderungsrente erfasst.

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Das sich aus Wortlaut und Systematik ergebende Normverständnis von Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 2 und Unterabs. 4 der Anlage 7a zum DAK-TV wird auch durch den Sinn und Zweck der tariflichen Regelungen getragen.

Die in Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a der Anlage 7a zum DAK-TV vorgesehenen Anrechnungsvorschriften zielen darauf ab, eine Überversorgung der gesamtruhegeldberechtigten Arbeitnehmer zu vermeiden. Zu diesem Zweck sollen Nachteilsüberkompensationen vermieden werden. Andererseits soll der die Gesamtversorgung zusagende Arbeitgeber auch nicht mit den Nachteilen belastet werden, die dadurch entstehen, dass der versorgungsberechtigte Arbeitnehmer die gesetzliche Altersrente vorzeitig in Anspruch nimmt. Für diesen Fall ordnet Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 2 der Anlage 7a zum DAK-TV die Anrechnung einer fiktiven Sozialversicherungsrente an, die sich ergeben hätte, wenn die Rente erst ab dem Erreichen der Regelaltersgrenze bezogen worden wäre. Nach dem Zweck der Bestimmung soll der Versorgungsberechtigte die auf seinem Willensentschluss beruhenden Nachteile des früheren Rentenbezugs selbst tragen. Diese, Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 2 der Anlage 7a zum DAK-TV zugrunde liegende Interessenlage stellt sich bei einer Erwerbsminderungsrente typischerweise nicht. Denn bei dem Bezug einer Rente wegen voller Erwerbsminderung hängen der Eintritt des Versorgungsfalls und die damit einhergehende Reduzierung des gesetzlichen Rentenanspruchs durch den Zugangsfaktor nach § 77 SGB VI regelmäßig nicht vom Willen des Arbeitnehmers, sondern von seinem Gesundheitszustand ab. Der Eintritt des Versorgungsfalls ist vom Arbeitnehmer in der Regel nicht beeinflussbar. Die für die Risikoverteilung nach Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 2 der Anlage 7a zum DAK-TV maßgebliche Interessenlage ist damit bei dem Bezug einer Erwerbsminderungsrente nicht gegeben.

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Die Systematik der Gesamtregelungen in Nr. 11 Ziff. 1 der Anlage 7a zum DAK-TV gebietet insoweit kein anderes Auslegungsergebnis.

Ob die Regelung über die Anrechnung der von der VBL gewährten Renten in Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. c der Anlage 7a zum DAK-TV – wie von den Parteien zuletzt übereinstimmend angenommen – dahin zu verstehen ist, dass fiktiv eine ungekürzte Rente anzurechnen ist, kann dahinstehen. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, stünde dies einer anderweitigen Auslegung von Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a der Anlage 7a zum DAK-TV nicht entgegen. Die Tarifvertragsparteien sind entgegen der Annahme der Arbeitgeberin nicht gehalten, die VBL-Rente und die gesetzliche Rente im Fall einer Erwerbsminderung bei der Anrechnung auf das Gesamtruhegeld gleich zu behandeln. Wie Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. d der Anlage 7a zum DAK-TV zeigt, haben sie vielmehr unterschiedliche Berechnungsregeln je nach Art der Versorgungsleistungen getroffen.

Die Beklagte kann die von ihr vorgenommene Anrechnung auch nicht auf Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 1 der Anlage 7a zum DAK-TV stützen. Unabhängig davon, dass die Voraussetzungen dieser Tarifnorm beim Arbeitnehmer nicht vorliegen, kann dieser Anrechnungstatbestand nicht die Anrechnung einer mit dem Zugangsfaktor 1 berechneten Erwerbsminderungsrente rechtfertigen.

Nach Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 1 der genannten Anlage sind Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung auf das Gesamtruhegeld „in voller Höhe“ anzurechnen, und zwar auch dann, wenn die Rente im Zusammenhang mit der Gewährung anderer Leistungen lediglich in verminderter Höhe zur Auszahlung gelangt oder ruht. Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob sich die in Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 1 der Anlage 7a zum DAK-TV verwendete Formulierung „in voller Höhe“ lediglich auf die im nachfolgenden Halbsatz geregelte Situation bezieht, dass die gesetzliche Rente infolge des Bezugs anderer Leistungen ruht oder nur gemindert gezahlt wird, oder ob die Tarifvertragsparteien damit – unabhängig von den Voraussetzungen im nachfolgenden Halbsatz – an den vom Gesetzgeber in Abgrenzung zur sog. Teilrente verwendeten Begriff der „Rente … in voller Höhe“ in § 42 Abs. 1, § 96a Abs. 1a Nr. 1 und Nr. 2 SGB VI anknüpfen wollten3. Beide Verständnismöglichkeiten führen nicht dazu, dass die dem Arbeitnehmer gewährte Erwerbsminderungsrente fiktiv mit dem Zugangsfaktor 1 von seinem Gesamtruhegeld in Abzug zu bringen wäre. Der Arbeitnehmer erfüllt – in beiden Lesarten der Tarifnorm – bereits deren tatbestandlichen Voraussetzungen nicht, da er weder eine wegen des Bezugs anderer Leistungen verminderte Erwerbsminderungsrente noch eine Teilrente nach § 96a Abs. 1a SGB VI erhält. Darüber hinaus würde Nr. 11 Ziff. 1 Buchst. a Unterabs. 1 der Anlage 7a zum DAK-TV auch nur die Anrechnung einer fiktiven Vollrente oder eine nicht wegen der Gewährung anderer Leistungen verminderte – fiktive – Erwerbsminderungsrente ermöglichen, nicht jedoch die von der Arbeitgeberin vorgenommene Anrechnung einer Erwerbsminderungsrente mit dem Zugangsfaktor 1.

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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. April 2016 – 3 AZR 341/14

  1. BAG 21.01.2011 – 9 AZR 565/08, Rn. 42; 29.07.2003 – 3 AZR 425/02, zu I der Gründe[]
  2. vgl. BVerfG 11.01.2011 – 1 BvR 3588/08, 1 BvR 555/09, Rn. 7, BVerfGE 128, 138[]
  3. vgl. zu einem ähnlich lautenden Tarifvertrag BAG 21.01.2011 – 9 AZR 565/08, Rn. 42[]