Finanzgerichtliches Verböserungsverbot

Das finanzgerichtliche Verböserungsverbot begründet im Hinblick auf § 174 Abs. 4 AO kein allgemeines „Änderungsverbot“. Es besagt lediglich, dass eine Schlechterstellung des Klägers bezogen auf die mit der Klage angegriffene Steuerfestsetzung durch das Finanzgericht verboten ist. Einer erneuten Änderung eines zuvor bereits durch Gerichtsentscheidung geänderten Steuerbescheids stehen Sinn und Zweck des § 174 Abs. 4 AO sowie Rechtskraftgründe jedoch entgegen, wenn es sich um denselben Streitgegenstand handelt.

Finanzgerichtliches Verböserungsverbot

Änderung wegen irriger Beurteilung eines Sachverhalts

Nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO können aus einem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden, wenn aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird. Dies gilt auch dann, wenn die Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheids durch das Gericht erfolgt (§ 174 Abs. 4 Satz 2 AO).

Dadurch soll die Finanzbehörde die Möglichkeit erhalten, in bestimmten Fällen der materiellen Richtigkeit Vorrang einzuräumen, indem vermieden wird, dass Steuerfestsetzungen bestehen bleiben, die inhaltlich zueinander im Widerspruch stehen1. Die Vorschrift setzt hinsichtlich der verfahrensmäßigen Abfolge voraus, dass ein angefochtener Bescheid als irrig erkannt und deswegen auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird. Dies löst sodann „nachträglich“- die Rechtsfolge des § 174 Abs. 4 AO aus, nämlich dass ein anderer Bescheid erlassen oder geändert werden kann. Die Vorschrift zieht somit die verfahrensrechtliche Konsequenz daraus, dass der andere Bescheid nunmehr eine „widerstreitende Steuerfestsetzung“ enthält, wie sie das Gesetz nach seiner amtlichen Überschrift zu § 174 AO voraussetzt2.

Mithin müssen sich begrifflich zwei oder mehrere verschiedene Besteuerungsverfahren gegenüberstehen, in denen der „bestimmte Sachverhalt“ möglicherweise geregelt werden könnte. Dementsprechend wird einhellig im Schrifttum von dem Erlass oder der Änderung einer „anderen“ Steuerfestsetzung gesprochen3. Auch das BFH-Urteil vom 11. Juli 19914 beruht auf der Überlegung, dass die weitere Berücksichtigung desselben Sachverhalts nur bei einem anderen Steuerpflichtigen oder bei einer anderen Steuerart oder in einem anderen Veranlagungszeitraum in Frage kommt. Eine Befugnis des Finanzamt zur Änderung ein und desselben bereits durch Gerichtsentscheidung modifizierten Steuerbescheids zu Ungunsten des Steuerpflichtigen eröffnet der Tatbestand des § 174 Abs. 4 AO hingegen nicht5.

Das finanzgerichtliche Verböserungsverbot

Das finanzgerichtliche Verböserungsverbot verwehrt dem Finanzgericht lediglich, den Kläger bezogen auf die mit der Klage angegriffene Steuerfestsetzung schlechter zu stellen6. Deshalb war zwar das Finanzgericht gehindert, die streitige Änderung des Einkommensteuerbescheids 2002 selbst vorzunehmen. Ein allgemeines „Änderungsverbot“ im Hinblick auf § 174 Abs. 4 AO begründet das finanzgerichtliche Verböserungsverbot jedoch nicht7. Die Vorinstanz verkennt insoweit, dass allenfalls die Rechtskraft eines Urteils die Änderung eines Steuerbescheids hindern kann, wenn das Finanzgericht unter Hinweis auf das finanzgerichtliche Verböserungsverbot davon absieht, den ursprünglich angefochtenen Bescheid zu Lasten des Klägers zu ändern8.

Rechtskraft

Vorliegend verbietet auch die Rechtskraft (§ 110 Abs. 1 FGO) des FG-Urteils vom 13. September 2007 die streitbefangene Änderung des Einkommensteuerbescheids 2002 nicht.

Zwar erstreckt sich die Rechtskraft, da sich das FG-Urteil vom 13.09.2007 auf die Einkommensteuerfestsetzungen 1997 bis 2002 bezogen hat, auch auf den Einkommensteuerbescheid 2002.

Jedoch ist die materielle Rechtskraftwirkung des § 110 Abs. 1 FGO nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs auf den Teil des Streitgegenstands begrenzt, über den jeweils entschieden worden ist9. Soweit über den Streitgegenstand (genauer: Entscheidungsgegenstand) entschieden worden ist, darf das Finanzamt deshalb nach einem rechtskräftigen Sachurteil nicht (mehr) korrigieren.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 13. Juni 2012 – VI R 92/10

  1. BFH, Urteil vom 28.01.2009 – X R 27/07, BFHE 224, 15, BStBl II 2009, 620[]
  2. BFH (Großer Senat), Beschluss vom 10.11.1997 – GrS 1/96, BFHE 184, 1, BStBl II 1998, 83, unter C.II.01.[]
  3. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, § 174 AO Rz 257, 270; Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, § 174 Rz 145; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Rz 48a; WeberGrellet, Die steuerliche Betriebsprüfung 1982, 29, 34[]
  4. BFH, Urteil vom 11.07.1991 – IV R 52/90, BFHE 165, 449, BStBl II 1992, 126[]
  5. vgl. BFH, Urteil vom 08.07.1992 – XI R 54/89, BFHE 168, 231, BStBl II 1992, 867[]
  6. BFH, Urteil vom 01.12.2010 – XI R 46/08, BFHE 232, 232[]
  7. vgl. BFH, Urteil vom 08.06.2000 – IV R 65/99, BFHE 192, 207, BStBl II 2001, 89[]
  8. BFH, Beschluss vom 30.12.2008 – I S 31/08[]
  9. BFH, Urteil vom 21.11.1989 – VII R 3/88, BFH/NV 1990, 650; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 110 Rz 13; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 110 FGO Rz 10; Lange in HHSp, § 110 FGO Rz 48[]