Vertragsauslegung durch das Finanzgericht – und seine Überprüfung durch den Bundesfinanzhof

Ist die Auslegung eines Vertrags streitig, ist bei der Prüfung, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, weil Akteninhalt und Beteiligtenvortrag entgegen § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO vom Finanzgericht nicht einwandfrei berücksichtigt worden sein sollen, der -ggf. auf einer anderen Vertragsauslegung und Sachverhaltswürdigung beruhende- materiell-rechtliche Standpunkt des Finanzgerichts zugrunde zu legen.

Vertragsauslegung durch das Finanzgericht – und seine Überprüfung durch den Bundesfinanzhof

Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und dabei die erforderlichen Beweise (§ 81 Abs. 1 Satz 2 FGO) zu erheben. Ein Verfahrensmangel liegt vor, wenn das Finanzgericht einen entscheidungserheblichen Beweisantrag übergeht1.

Ein ordnungsgemäß gestellter Beweisantrag darf nur unberücksichtigt bleiben, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich, das Beweismittel unerreichbar bzw. unzulässig oder untauglich ist oder wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann. Bei der Prüfung der Frage, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, ist auf den materiellen Rechtsstandpunkt des Finanzgericht abzustellen2. Liegen diese Ausnahmetatbestände nicht vor, muss das Finanzgericht angebotene Beweisunterlagen auch dann entgegennehmen und würdigen, wenn es nicht davon ausgeht, dass diese die im Beweisantrag enthaltene Tatsachenbehauptung bestätigen3.

Der Verzicht auf eine Beweiserhebung zum entscheidungserheblichen Sachverhalt, insbesondere zu einer von einem Beteiligten behaupteten Tatsache, unter dem Gesichtspunkt der Wahrunterstellung ist gerechtfertigt, wenn das Gericht zugunsten des Beteiligten den von diesem behaupteten Sachverhalt ohne jede inhaltliche Einschränkung als richtig annimmt, die behauptete Tatsache also in ihrem mit dem Parteivorbringen gemeinten Sinn so behandelt, als wäre sie nachgewiesen. Das Gericht ist daher gehalten, die Beweisbehauptung ohne jede Einengung, dem Beteiligten nachteilige Umdeutungen oder sonstige Änderungen als wahr zu behandeln. Es darf insbesondere nicht von einem anderen als dem unter Beweis gestellten Sachverhalt ausgehen oder einen Sachverhalt zugrunde legen, durch den das Beweisvorbringen in seiner Bedeutung abgeschwächt oder irrelevant wird4.

Von einer beantragten Beweiserhebung kann abgesehen werden, wenn der Beweisantrag unsubstantiiert ist, was insbesondere dann der Fall ist, wenn der Beweisantrag lediglich auf eine weitere Ermittlung bzw. Ausforschung abzielt und nicht erkennen lässt, welche entscheidungserheblichen Tatsachen bezeugt werden sollen, oder die unter Beweis gestellten Tatsachen so ungenau bezeichnet, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann, oder so unbestimmt ist, dass im Grunde erst die Beweiserhebung selbst die entscheidungserheblichen Tatsachen und Behauptungen aufdecken kann5.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20. September 2022 – VIII B 82/21

  1. BFH, Beschluss vom 12.02.2018 – X B 64/17, BFH/NV 2018, 538, Rz 10, 11[]
  2. ständige Rechtsprechung, z.B. BFH, Beschluss vom 29.06.2011 – X B 242/10, BFH/NV 2011, 1715, m.w.N.; BFH, Urteil vom 16.03.2022 – VIII R 24/19, DStR 2022, 1147, Rz 22, 25[]
  3. BFH, Beschluss in BFH/NV 2018, 538, Rz 12[]
  4. BFH, Urteil in DStR 2022, 1147, Rz 27[]
  5. vgl. BFH, Beschlüsse vom 06.09.2005 – IV B 14/04, BFH/NV 2005, 2166; in BFH/NV 2019, 702, Rz 16[]