Die Finanzbehörde kann die durch Berufung auf ein vorgreifliches Verfahren bewirkte Verfahrensruhe im Einspruchsverfahren durch einen Vorläufigkeitsvermerk derselben Reichweite beenden. Der Vorläufigkeitsvermerk bietet einen der Verfahrensruhe gleichwertigen Rechtsschutz.

In einem solchen Fall enthält die Einspruchsentscheidung nicht nur die Entscheidung über den Einspruch, sondern auch die (konkludente) Fortsetzungsmitteilung des Finanzamtes gemäß § 363 Abs. 2 Satz 4 AO und die Bekanntgabe der entsprechenden vorläufigen Festsetzungen.
Dadurch, dass das Finanzamt über den Einspruch entscheiden wollte, hat es unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass es das Ruhen des Verfahrens beenden wollte. In der Einspruchsentscheidung des Finanzamt ist damit die konkludente Mitteilung zu sehen, gemäß § 363 Abs. 2 Satz 4 AO das Einspruchsverfahren fortführen zu wollen. Einer ausdrücklichen Mitteilung bedarf es insoweit nicht.
Die Mitteilung der Finanzbehörde über die Fortsetzung eines noch von der gesetzlichen Zwangsruhe betroffenen Einspruchsverfahrens ist ein rechtsgestaltender Verwaltungsakt, durch den die gesetzliche Zwangsruhe beendet wird. Die Fortsetzungsmitteilung ist eine Ermessensentscheidung; der Einspruchsführer hat zwar kein subjektives Recht darauf, dass die Finanzbehörde von einer Fortsetzung des Einspruchsverfahrens vor Beendigung der gesetzlichen Zwangsruhe absieht, er hat aber einen Anspruch auf rechtmäßige Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens1.
Die Entscheidung des Finanzamt, das Einspruchsverfahren fortsetzen zu wollen, war im vorliegenden Fall nach Ansicht des Bundesfinanzhofs ermessensgerecht; insbesondere hatte das Finanzamt zum Ausdruck gebracht, weshalb es im konkreten Einzelfall die gesetzliche Zwangsruhe beendet hat2.
In der Einspruchsentscheidung vom 24.11.2005 hatte das Finanzamt zunächst zu Recht darauf hingewiesen, dass mit der Aufnahme des Vorläufigkeitsvermerks in Bezug auf die nicht als Werbungskosten abziehbaren Rentenversicherungsbeiträge dem Antrag der Kläger entsprochen werde. Dass die Kläger nunmehr in ihrer Revisionsbegründung vom 15.01.2009 unter IV.6. die Auffassung vertreten, sie hätten eine adäquate Rechtsschutzgewährung und nicht aber eine vorläufige Steuerfestsetzung gefordert, kann der Bundesfinanzhof angesichts des klaren Wortlauts ihrer Einspruchsbegründung vom 18.12.2002 nicht nachvollziehen.
In Bezug auf den pauschalen Werbungskosten- bzw. Betriebsausgabenabzug in Höhe der steuerfreien Abgeordnetenpauschale hat das Finanzamt ausgeführt, ein Ruhen des Verfahrens könne aus Gründen der Gleichbehandlung nicht gewährt werden, wenn die Steuerfestsetzung hinsichtlich des betreffenden Punktes vorläufig ergangen sei. Mit dem Schreiben vom 02.01.2006 konnte das Finanzamt diese Erwägungen zulässigerweise präzisieren, da eine Finanzbehörde gemäß § 102 Satz 2 FGO ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich eines Verwaltungsakts bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen kann3.
Die Erläuterungen des Finanzamt reichen aus, um die ordnungsgemäße Ausübung des Ermessens zu belegen. So hat das Finanzamt darauf hingewiesen, es dürfe für die Frage des Ruhens des Verfahrens im Lichte des Art. 3 GG keinen Unterschied machen, ob die Steuerfestsetzung bereits vorläufig ergangen sei und dann der Steuerpflichtige mangels Rechtsschutzbedürfnis keinen erfolgreichen Antrag auf Ruhen des Verfahrens mehr stellen könne oder ob sie zur Wahrung einer gleichmäßigen Besteuerung erst im Einspruchsverfahren für vorläufig erklärt werde. Es könne unter Beachtung des § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 und § 363 Abs. 2 Satz 4 AO nicht Sinn und Zweck des ersten Halbsatzes des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO sein, dem Finanzamt nach dem Erlass eines Steuerbescheids die Möglichkeit eines verfahrensabschließenden Vorläufigkeitsvermerks zu nehmen. Im Übrigen sei nicht davon auszugehen, dass das BVerfG jedem Steuerpflichtigen eine steuerfreie Kostenpauschale zubilligen werde; vielmehr sei in den bisherigen Entscheidungen des BVerfG dem Gesetzgeber sowohl eine Frist zum Erlass einer Neuregelung eingeräumt als auch die Entscheidung überlassen worden, wie die Ungleichbehandlung zu beseitigen sei.
Das Finanzamt hat jedoch das in dem BMF-Schreiben in BStBl I 2005, 794 vorgesehene Verfahren nicht eingehalten. Danach können Einspruchsverfahren weiter ruhen, wenn vom Einspruchsführer nach Aufforderung durch das Finanzamt andere Gründe, die eine Verfahrensruhe rechtfertigten, angeführt werden.
Das BMF-Schreiben ist für das Finanzamt bindend, da es sich um eine Verwaltungsvorschrift handelt, die die Ausübung des behördlichen Ermessens bei einer vorläufigen Steuerfestsetzung im Hinblick auf anhängige Musterverfahren regelt. Ist eine Finanzbehörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 5 AO). Vorgesetzte Dienststellen können dazu ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften erlassen, die unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung und damit der Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes von Bedeutung sein können; das gilt aber nur, wenn sich die in ihnen getroffenen Regelungen –woran im Streitfall keine Zweifel bestehen– innerhalb der Grenzen halten, die das Grundgesetz und die Gesetze der Ausübung des Ermessens setzen4.
Damit musste das Finanzamt die Kläger auffordern, andere Gründe anzuführen, die eine Verfahrensruhe rechtfertigen könnten. Diese Aufforderung ist vor dem Erlass der Einspruchsentscheidung vom 24.11.2005 jedoch nicht erfolgt.
Die im BMF-Schreiben genannte „Aufforderung“ umschreibt –wie die Kläger zu Recht meinen– die Pflicht, den betroffenen Steuerpflichtigen anzuhören. Diese Anhörung konnte das Finanzamt gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 3 AO nachholen und die Nichtbeachtung der Anforderungen des BMF-Schreibens in BStBl I 2005, 794 heilen.
Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des rechtlichen Gehörs kann eine Heilung des Verfahrensmangels allerdings nur dann möglich sein, wenn der Sinn und Zweck der Anhörung –das Überdenken der Entscheidung anhand der Stellungnahme des Beteiligten– überhaupt noch erreicht werden kann. Das bedeutet, dass auf der einen Seite dem Steuerpflichtigen ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden muss und dass auf der anderen Seite die Finanzbehörde die Ergebnisse der nachgeholten Anhörung nicht lediglich zur Kenntnis nehmen darf, sondern auch bereit sein muss, die bisherige Entscheidung kritisch zu überdenken5. Nach § 126 Abs. 2 AO kann die Anhörung bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist im Streitfall eine ausreichende nachträgliche Anhörung darin zu sehen, dass die Kläger ihre Einwendungen gegen die Einspruchsentscheidung in ihrem Antrag auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 19.12.2005 geltend machen konnten und sie zudem die Möglichkeit hatten, ihren Standpunkt am 28. und 29.11.2005 in zwei Telefonaten ihres Prozessbevollmächtigten mit dem Finanzamt zu verdeutlichen. Die ausführliche Stellungnahme des Finanzamt vom 02.01.2006 zeigt, dass es sich noch vor Beginn des finanzgerichtlichen Verfahrens mit den Argumenten der Kläger gegen die Fortführung des Verfahrens inhaltlich intensiv auseinandergesetzt und dies den Klägern mitgeteilt hat – wenn auch nicht mit dem von den Klägern angestrebten Ergebnis.
Die in der Einspruchsentscheidung vom 24.11.2005 enthaltene vorläufige Steuerfestsetzung hinsichtlich des pauschalen Werbungskostenabzugs in Höhe der steuerfreien Abgeordnetenpauschale war rechtmäßig und führte zum Ende der Verfahrensruhe.
Die Vorläufigkeit konnte gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO angeordnet werden. Eine solche Anordnung steht im Ermessen der Finanzbehörde6. Ermessensausübungsfehler sind nicht erkennbar.
Die Anordnung der Vorläufigkeit stand im Einklang mit § 363 Abs. 2 Satz 2 AO.
Zwar enthält § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO die Formulierung „wurde“. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die vorläufige Festsetzung dem Einspruch vorangegangen sein muss. Auch untersagt die bis dahin bestehende Verfahrensruhe nicht den Erlass eines durch Aufnahme des Vorläufigkeitsvermerks geänderten Bescheids, da § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO zum Ausdruck bringt, dass der Vorläufigkeitsvermerk die Verfahrensruhe ersetzen kann.
Die durch vorläufige Festsetzung geänderten Bescheide entsprachen auch den tatbestandlichen Anforderungen des § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO. Sie reichten so weit wie die Verfahrensruhe. Sie betrafen dieselbe Rechtsfrage wie das Bezugsverfahren und eröffneten insoweit dieselben Änderungsmöglichkeiten wie die Verfahrensruhe, hielten die Steuerbescheide also hinsichtlich dieser Frage in demselben Umfange offen.
Zwar erfasst ein Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO lediglich die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht, nicht aber einfachgesetzliche Rechtsfragen. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO ist erst seit dem 1.01.2009 in Kraft, so dass trotz Vorläufigkeitsvermerks eine auf Fragen einfachen Rechts gestützte Verfahrensruhe fortgedauert hätte7. Dies spielt im Streitfall jedoch keine Rolle, da die von den Klägern für geboten erachtete verfassungskonforme Auslegung eine Frage der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht ist8.
Die Änderung der Steuerbescheide durch Aufnahme der Vorläufigkeitsvermerke war verfahrensrechtlich als Teilabhilfe im Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO zulässig.
Zu einer Vollabhilfe konnte es im Einspruchsverfahren –im Gegensatz zu den Überlegungen der Kläger– nicht kommen, da das Finanzamt in der Einspruchsentscheidung u.a. die Auffassung der Kläger, die Kürzung des Vorwegabzugs gemäß § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a EStG sei bei Arbeitnehmern rechtswidrig, zurückgewiesen hat.
Einer vorherigen Anhörung der Kläger gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 AO bedurfte es nicht. Zwar unterläuft dem Finanzamt ein wesentlicher Verfahrensmangel, wenn es eine verbösernde Einspruchsentscheidung ohne Hinweis auf die Verböserungsmöglichkeit erlässt9. Die Gerichte haben den Betroffenen dann so zu stellen, dass er durch das unrechtmäßige Verhalten keinen Schaden erleidet10. Die Aufnahme der Vorläufigkeitsvermerke stellte jedoch keine Verböserung dar. Im Gegensatz zur Auffassung der Kläger werden ihre Rechtsposition und ihre Rechtsschutzmöglichkeiten nicht beeinträchtigt.
Bei isolierter Betrachtung führten die Vorläufigkeitsvermerke lediglich zu den Änderungsmöglichkeiten nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO, die sich unter den konkreten Umständen nur zu Gunsten der Kläger auswirken konnten. Allerdings kann auch die Verschlechterung der verfahrensrechtlichen Stellung des Steuerpflichtigen eine Verböserung i.S. von § 367 Abs. 2 Satz 2 AO darstellen11. Die vorläufigen Festsetzungen beendeten gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO die durch das Bezugsverfahren – VI R 63/04 begründete Verfahrensruhe. Damit verschlechterte sich aber nur die „verfahrenstaktische“, nicht jedoch die verfahrensrechtliche Position der Kläger.
Die vorläufige Festsetzung führt zwar zur Beendigung der Verfahrensruhe und erlaubt es der Finanzverwaltung, das Einspruchsverfahren abzuschließen, so dass die Möglichkeit, gemäß § 361 Abs. 2 AO AdV zu beantragen, entfällt.
Dies stellt jedoch keinen verfahrensrechtlichen Nachteil dar, da dem Steuerpflichtigen ein vergleichbarer Rechtsschutz in Gestalt der Aussetzung der Festsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 4 AO zur Verfügung steht. Nach dieser Vorschrift kann unter den Voraussetzungen der Sätze 1 und 2 die Steuerfestsetzung auch gegen oder ohne Sicherheitsleistung ausgesetzt werden. Damit ist die vorläufige Freistellung von der Steuer nach § 155 Abs. 1 Satz 3 AO, mithin die vorläufige Nichtfestsetzung der Steuer gemeint12. Sie stellt den Steuerpflichtigen formell und materiell nicht schlechter als die AdV – unabhängig davon, ob es sich bei der AdV um eine Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung handelt.
Die Aussetzung der Festsetzung gemäß § 165 Abs. 1 Satz 4 AO ist eine Ermessensentscheidung des Finanzamt. Sie kann sich grundsätzlich auf alle Vorläufigkeitsgründe des § 165 Abs. 1 AO beziehen, wie sich aus § 165 Abs. 1 Satz 4 AO ergibt. Bei einer Aussetzung der Festsetzung in den Fällen des § 165 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 AO ist jedoch –ebenso wie bei der AdV13– zu beachten, dass sie nur bei Vorliegen eines (besonderen) berechtigten Aussetzungsinteresses des Steuerpflichtigen zu gewähren ist. Wie die AdV kann die vorläufige Aussetzung der Festsetzung den Steueranspruch ganz oder teilweise umfassen und damit ebenso differenziert nach Streitpunkten ausgesprochen werden. Dies ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 3 AO, wonach eine Freistellung ausdrücklich ganz oder teilweise erfolgen kann.
Nachteilige Zinsfolgen der Aussetzung der Festsetzung gegenüber der AdV sind ebenfalls nicht erkennbar. Eine etwaige Verzinsung nach § 233a AO übersteigt die Verzinsung nach § 237 AO nicht. Schließlich spricht nichts dagegen, ebenso wie bei der AdV eine Aussetzung der Festsetzung nachträglich auszusprechen.
Die Annahme der Kläger, ein Vorläufigkeitsvermerk beziehe sich nicht auf neu anhängig werdende Verfahren zu derselben Rechtsfrage, trifft nicht zu. Er bezieht sich vielmehr, wenn es nicht ausdrücklich anders formuliert ist, auch auf später anhängig werdende Verfahren und geht insoweit über die Reichweite der Verfahrensruhe noch hinaus. Der BFH nimmt zur weiteren Begründung Bezug auf sein Urteil in in BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11 und schließt sich den dortigen Ausführungen einschließlich der Abgrenzung zu dem BFH-Urteil vom 31.05.200614 an.
Die Kläger sind ebenfalls nicht gehindert, ihren Rechtsstreit selbst zu Ende zu führen. Endet ein Bezugsverfahren nicht im Sinne des Steuerpflichtigen oder ohne Sachentscheidung, so dass die Vorläufigkeit ins Leere geht, so kann er anschließend den Streit in der Sache selbst fortsetzen15.
Soweit die Kläger schließlich meinen, der Nachteil liege darin, dass sie ihren Einspruch nicht mehr um weitere Gründe ergänzen könnten, liegt darin keine Verböserung i.S. des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO. Gegen diese Änderung der Verfahrenslage besitzen sie kein Abwehrrecht, weil sie nicht in ihren subjektiven Rechten verletzt werden. Art.19 Abs. 4 GG verpflichtet nicht dazu, Einspruchsverfahren möglichst lange offenhalten zu können, damit der Steuerpflichtige an künftigen Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu derzeit nicht streitigen Rechtsfragen teilhaben kann16. Auch § 363 Abs. 2 Satz 2 AO dient nicht diesem Zweck17.
Der Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs in BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327 steht dem nicht entgegen, da sich der Große Senat in dieser Entscheidung nicht zu der streitrelevanten Frage des möglichen Offenhaltens eines Einspruchsverfahrens geäußert, sondern vielmehr erläutert hat, dass es zulässig sei, eine Anfechtungsklage nach Ablauf der Klagefrist zu erweitern, sofern nicht bereits eine –im Einkommensteuerrecht regelmäßig nicht anzunehmende– Teilbestandskraft eingetreten sei.
Aus den vorstehend dargestellten Gründen bestehen nach Auffassung des erkennenden BFHs die von den Klägern durch die Übernahme der Begründung der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1359/11 gerügten Rechtsschutzlücken nicht. Eine Richtervorlage gemäß Art. 100 GG kommt nicht in Betracht.
Durch die Einspruchsentscheidung vom 24.11.2005 selbst werden die Kläger ebenfalls nicht in ihren Rechten verletzt.
Wird die Bekanntgabe der vorläufigen Festsetzung mit der Bekanntgabe der die vorherige Beendigung der Verfahrensruhe voraussetzenden Einspruchsentscheidung verbunden, so genügt es zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, wenn erstere der Einspruchsentscheidung unmittelbar vorangeht. Für eine längere Zwischenfrist besteht keine Notwendigkeit.
Erforderlich ist jedoch, dass die Finanzbehörde, wenn sie dem Steuerpflichtigen die Fortsetzung eines ruhenden Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO mitteilt, den Beteiligten vor Erlass einer Einspruchsentscheidung Gelegenheit gibt, sich erneut zu äußern18. Dieses hat das Finanzamt im Streitfall unterlassen.
Die unterbliebene Anhörung konnte aber –ebenso wie die durch das BMF-Schreiben in BStBl I 2005, 794 geforderte und ebenfalls unterbliebene Aufforderung– gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 AO rechtzeitig vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens nachgeholt werden. Die Gelegenheit zur Äußerung im Rahmen des Antrags der Kläger auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 2 AO vom 19.12.2005, die beiden Telefonate des Prozessvertreters der Kläger mit dem Finanzamt im November 2005 sowie die ausführliche Stellungnahme des Finanzamt vom 02.01.2006 haben den Verfahrensfehler geheilt.
Der Hilfsantrag, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung in voller Höhe, ggf. auch im Wege des negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen, ist unbegründet.
Der Bundesfinanzhof hat in seinem Urteil in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 entschieden, der Gesetzgeber sei verfassungsrechtlich nicht verpflichtet gewesen, Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit (heute: Beiträge zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit) einkommensteuerlich in vollem Umfang und nicht nur in dem durch § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a i.V.m. Abs. 3 EStG vorgegebenen Rahmen zum Abzug zuzulassen. Dabei hat sich der Bundesfinanzhof auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützt, in der eine verfassungsrechtliche Pflicht, unter dem Gesichtspunkt der „Zwangsläufigkeit“ Ausgaben bis zur Höhe der Pflichtsozialversicherungsbeiträge zum Abzug von der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage zuzulassen, ausdrücklich verneint wird, da das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums dem Steuerpflichtigen lediglich den Schutz des Lebensstandards auf Sozialhilfeniveau gewährleistet, nicht aber auf dem Niveau, das durch die Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherung erreicht werden kann. Auch eine steuerliche Berücksichtigung der Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit im Wege des negativen Progressionsvorbehalts gemäß § 32b EStG wurde vom Bundesfinanzhof abgelehnt, da in § 32b Abs. 1 Nrn. 2 und 3 EStG (heute § 32b Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 bis 5 EStG) ausdrücklich der Begriff der „Einkünfte“ verwendet wird, auf deren Höhe sich Sonderausgaben gemäß § 2 Abs. 4 EStG nicht auswirken. Die Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit stellen nach Auffassung des Bundesfinanzhofs keine Werbungskosten dar, da der Gesetzgeber die Vorsorgeaufwendungen mit konstitutiver Wirkung –und Vorrang gegenüber der allgemeinen Regelung des Einleitungssatzes des § 10 Abs. 1 EStG– den Sonderausgaben zugewiesen und ihren Abzug nur in den Grenzen der in § 10 Abs. 3 EStG bestimmten Höchstbeträge zugelassen hat.
In der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 598/12 wird zwar die Auffassung vertreten, der gebotene verfassungsrechtlich abgesicherte Anspruch auf steuerliche Berücksichtigung der Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit als pflichtbestimmter, indisonibler Aufwand folge aus der verfassungskonformen Beachtung und Berücksichtigung des objektiven und subjektiven Nettoprinzips. Hilfsweise seien die Beiträge bei der Ermittlung des besonderen Steuersatzes gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG als vorweggenommene Werbungskosten zu berücksichtigen, was der folgerichtigen und gebotenen Umsetzung der Systematik der Einkommensteuer entspreche.
Mit sämtlichen Argumenten hat sich der BFH bereits in seinem Urteil in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 auseinandergesetzt, die Verfassungsmäßigkeit der nur eingeschränkten steuerlichen Berücksichtigung der Beiträge indes bejaht19. Insofern wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Urteilsbegründung in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 verwiesen.
Eine –behauptete– Verletzung des durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich garantierten Rechts auf den gesetzlichen Richter ist ebenfalls nicht erkennbar; auch insoweit wird auf die Begründung des BFH-Urteils in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 Bezug genommen.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 23. Januar 2013 – X R 32/08
- so BFH, Urteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, m.w.N.[↩]
- vgl. dazu BFH, Urteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, unter II.4.[↩]
- vgl. statt vieler BFH, Urteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222[↩]
- vgl. dazu BFH-Entscheidungen vom 10.10.2001 – XI R 52/00, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201, m.w.N., und vom 27.07.2011 – I R 44/10, BFH/NV 2011, 2005; siehe auch Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz 93; Klein/Gersch, AO, 11. Aufl., § 4 Rz 12; Pahlke/Koenig/Pahlke, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 4 Rz 55, § 5 Rz 29 ff.[↩]
- so zu Recht Rozek in HHSp, § 126 AO Rz 41 f.; ebenso Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 126 AO Rz 7[↩]
- BFH, Urteile vom 26.10.1988 – I R 189/84, BFHE 155, 8, BStBl II 1989, 130, und vom 07.02.1992 – III R 61/91, BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592[↩]
- Birkenfeld in HHSp, § 363 AO Rz 213[↩]
- so BFH, Urteil vom 30.09.2010 – III R 39/08, BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11, unter B.II.2.a[↩]
- BFH, Urteile vom 04.09.1959 – III 286/57 U, BFHE 69, 569, BStBl III 1959, 472; vom 01.12.1961 – VI 264/61 U, BFHE 74, 371, BStBl III 1962, 140[↩]
- ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Beschluss vom 14.07.2004 – IX B 102/03, BFH/NV 2004, 1514, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 09.12.2009 – II R 39/07, BFH/NV 2010, 821, unter II.2.b, m.w.N.[↩]
- Schuster in HHSp, § 155 AO Rz 26; Heuermann in HHSp, § 165 AO Rz 20 ff.; Pahlke/Koenig/Cöster, a.a.O., § 165 Rz 39; dem Grunde nach wohl ebenso Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 165 AO Rz 23[↩]
- siehe dazu auch BFH, Beschluss vom 01.04.2010 – II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 31.05.2006 – X R 9/05, BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11, unter B.II.2.d, m.w.N.[↩]
- ständige BFH-Rechtsprechung, z.B. BFH, Urteile vom 06.10.1995 – III R 52/90, BFHE 178, 559, BStBl II 1996, 20; in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, unter II.6.; Beschluss vom 06.07.1999 – IV B 14/99, BFH/NV 1999, 1587[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, unter II.4.[↩]
- Ziffer 3 Satz 1 AEAO zu § 363 AO, AO-Kartei NW § 363 AO Karte 1[↩]
- vgl. dazu auch FG Hamburg, Urteil vom 21.09.2012 – 3 K 144/11, EFG 2013, 26 zu § 10 Abs. 4 EStG in der Fassung des Bürgerentlastungsgesetzes Krankenversicherung[↩]