Die unstatthafte Anhörungsrüge – und die versäumte Rechtsmittelfrist

Wird die Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels deshalb versäumt, weil der Prozessbevollmächtigte der Partei zuvor einen unstatthaften Rechtsbehelf – hier Anhörungsrüge – eingelegt hat, liegt hierin regelmäßig ein der Partei zuzurechnendes (§ 85 Abs. 2 ZPO), einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entgegenstehendes, Verschulden da von einem Rechtsanwalt erwartet wird, dass er das Rechtsmittelsystem der jeweiligen Verfahrensart kennt1.

Die unstatthafte Anhörungsrüge – und die versäumte Rechtsmittelfrist

Das Gericht, bei dem der unstatthafte Rechtsbehelf eingeht, ist grundsätzlich nicht verpflichtet, der Partei einen Hinweis so rechtzeitig zu erteilen, dass diese in die Lage versetzt wird, das eigentlich statthafte Rechtsmittel noch fristgerecht einzulegen2.

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall ging es um rückständige Miete für eine Wohnung in Duisburg, wegen der die Vermieterin einen Vollstreckungsbescheid erwirkte. In dem auf den Einspruch der Mieterin durch das Amtsgericht bestimmten Termin sind weder diese noch deren Rechtsbeistand erschienen. Das Amtsgericht Duisburg hat daher den Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid durch ein zweites Versäumnisurteil verworfen3. Hiergegen hat die Mieterin fristgerecht Berufung eingelegt. Diese hat das Landgericht Duisburg – nach einem entsprechenden Hinweis – mit Beschluss vom 08.06.2021 als unzulässig verworfen, da die Voraussetzungen des § 514 Abs. 2 ZPO, mithin das Nichtvorliegen eines Falls schuldhafter Säumnis, durch die Mieterin mit ihrer Berufung nicht schlüssig dargelegt worden seien4. Gegen diesen, ihrem zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten am 15.06.2021 zugestellten Beschluss, hat die Mieterin am 17.06.2021 beim Landgericht Anhörungsrüge erhoben. Das Landgericht hat die Beklagte mit Verfügung vom 20.07.2021, dem Prozessbevollmächtigten am 23.07.2021 zugegangen, darauf hingewiesen, dass die Anhörungsrüge wegen der gegen den Beschluss vom 08.06.2021 eröffneten Rechtsbeschwerde nicht statthaft sein dürfte. Mit am 5.08.2021 beim Bundesgerichtshof eingegangenem Schriftsatz hat die Mieterin gegen den (die Berufung als unzulässig verwerfenden) Beschluss des Landgerichts vom 08.06.2021 Rechtsbeschwerde eingelegt, diese begründet sowie beantragt, ihr wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Weiterlesen:
Mündliche Einzelanweisungen - und die Fristenkontrolle

Der Bundesgerichtshof verweigert die Wiedereinsetzung und verwarf die Rechtsbeschwerde als unzulässig:

Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist unzulässig.

Sie wurde nicht innerhalb der mit der Zustellung des die Berufung verwerfenden Beschlusses des Landgerichts beginnenden und am 15.07.2021 endenden Monatsfrist (§ 575 Abs. 1 Satz 1 ZPO) eingelegt. Die erhobene Gehörsrüge hindert den Eintritt der formellen Rechtskraft nicht5. Dies stellt auch die Beklagte nicht in Frage.

Der Mieterin ist auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde zu gewähren (§ 233 ZPO), da sie nicht ohne Verschulden an der Einhaltung dieser Fristen gehindert war. Ihr zweitinstanzlicher Prozessbevollmächtigter, dessen Verschulden der Beklagten zuzurechnen ist (§ 85 Abs. 2 ZPO), hat die Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde (§ 575 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 ZPO) schuldhaft verstreichen lassen.

Zu den – nicht auf sein Büropersonal übertragbaren – Aufgaben eines Rechtsanwalts gehört es, Art und Umfang des gegen eine gerichtliche Entscheidung einzulegenden Rechtsmittels zu bestimmen. Dabei wird vom Rechtsanwalt, an den insoweit hohe Sorgfaltsanforderungen zu stellen sind, die Kenntnis des Rechtsmittelsystems der Zivilprozessordnung erwartet6. Zugleich ist es seine Aufgabe, alle gesetzlichen Anforderungen an die Zulässigkeit des danach bestimmten Rechtsmittels in eigener Verantwortung zu prüfen und dafür Sorge zu tragen, dass dieses Rechtsmittel innerhalb der jeweils gegebenen Rechtsmittelfrist bei dem zuständigen Gericht eingeht7.

Weiterlesen:
Fehler bei der Unterschriftsleistung und die Wiedereinsetzung

Dem ist der Prozessbevollmächtigte der Mieterin nicht gerecht geworden. Denn statt eine Rechtsbeschwerde durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt einlegen zu lassen hat er gegen den die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss des Landgerichts eine unstatthafte Anhörungsrüge erhoben.

Nach § 321a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO ist die Anhörungsrüge nur statthaft, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Endentscheidung nicht gegeben ist. Diese Voraussetzung lag hier (offensichtlich) nicht vor8. Denn gegen einen Beschluss des Berufungsgerichts, mit welchem die Berufung – wie hier – gegen ein zweites Versäumnisurteil der Vorinstanz als unzulässig verworfen wird9, ist nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO die Rechtsbeschwerde statthaft. Auch dies muss einem Rechtsanwalt bekannt sein10.

Daher hätte der zweitinstanzliche Prozessbevollmächtigte der Mieterin die rechtzeitige Beauftragung eines bei dem Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts zur fristgerechten Einlegung einer solchen Rechtsbeschwerde veranlassen müssen, um auf diese Weise das angefochtene Urteil unter anderem wegen der vermeintlichen Gehörsverletzungen zur Überprüfung zu stellen (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO).

Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde entfällt das für die Fristversäumung ursächliche Verschulden des Instanzbevollmächtigten der Beklagten nicht wegen eines mitwirkenden Fehlers des Gerichts. Soweit die Rechtsbeschwerde meint, das Landgericht habe die Mieterin zu spät auf die Unstatthaftigkeit der Anhörungsrüge hingewiesen und es versäumt, seinen Hinweis bereits so rechtzeitig vor Ablauf der Monatsfrist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde zu erteilen, dass für die Mieterin noch die Möglichkeit bestanden hätte, fristgerecht Rechtsbeschwerde einzulegen, wird verkannt, dass eine derartige Hinweis- und Fürsorgepflicht des Landgerichts vorliegend nicht bestanden hat.

Weiterlesen:
Einrede der mangelnden Prozesskostensicherheit - und die Beschwerde gegen ein Zwischenurteil

Ein Gericht ist nur unter besonderen Umständen dazu gehalten, einer drohenden Fristversäumnis seitens der Partei entgegenzuwirken. Denn einer gerichtlichen Fürsorgepflicht sind im Interesse der Funktionsfähigkeit der Justiz Grenzen gesetzt11. Es darf allerdings nicht sehenden Auges zuwarten, bis die Partei Rechtsnachteile erleidet12. Dabei ist es jedoch grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der Richter die Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsmittels beziehungsweise hier des Rechtsbehelfs nach § 321a ZPO nicht zeitnah nach dessen Eingang, sondern erst bei der Bearbeitung des Falls und gegebenenfalls nach Ablauf der Fristen überprüft13.

Hiernach war das Landgericht – entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde – nicht verpflichtet, die Statthaftigkeit der Anhörungsrüge bereits unmittelbar nach deren Einlegung und insbesondere noch vor Ablauf der Monatsfrist des § 575 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu prüfen. Die Erteilung des Hinweises erst nach Ablauf der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde stellt daher keinen das Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Mieterin ausschließenden Fehler des Gerichts dar. Dass das Landgericht mit der Erteilung seines Hinweises sehenden Auges bis zum Fristablauf zugewartet hätte, ist von der Beklagten nicht dargelegt worden14.

Zu Unrecht beruft sich die Mieterin schließlich auf die Weiterleitungspflicht des unzuständigen, bereits mit der Sache befasst gewesenen Gerichts bezüglich einer Rechtsmittelschrift15. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Die Mieterin hat beim zuständigen Landgericht ausdrücklich eine (unstatthafte) Anhörungsrüge erhoben. Sie hat damit nicht ein an sich gegebenes Rechtsmittel bei einem unzuständigen Gericht eingelegt, sondern vielmehr einen ersichtlich nicht eröffneten Rechtsbehelf gewählt. Eine Umdeutung in eine – mangels Einhaltung der Form- und Fristerfordernisse unzulässige – Rechtsbeschwerde kam daher nicht in Betracht, so dass eine Weiterleitung an den Bundesgerichtshof nicht in Frage gestanden hat16.

Weiterlesen:
eBay - und das Maximalgebot

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11. Januar 2022 – VIII ZB 37/21

  1. im Anschluss an BGH, Urteil vom 24.06.1992 – VIII ZR 203/91, NJW 1992, 2413 unter – I 2 c, insoweit in BGHZ 119, 35 nicht abgedruckt; BGH, Beschlüsse vom 10.05.2016 – VIII ZR 19/16, NZM 2016, 767 Rn. 5 f.; vom 12.10.2016 – V ZB 178/15, NJW 2017, 1112 Rn. 12[]
  2. im Anschluss an BVerfG, NJW 2001, 1343; BGH, Beschlüsse vom 15.06.2004 – VI ZB 9/04, NJW-RR 2004, 1364 unter – II 2 a; vom 06.05.2009 – KZR 7/08 17; vom 01.03.2016 – VIII ZB 57/15, NJW 2016, 2042 Rn. 31[]
  3. AG Duisburg, Urteil vom 12.11.2020 – 506 C 571/20[]
  4. LG Duisburg, Beschluss vom 08.06.2021 – 13 S 139/20[]
  5. vgl. BGH, Beschluss vom 13.04.2021 – VIII ZB 80/20 15 mwN[]
  6. vgl. BGH, Beschlüsse vom 15.05.2014 – V ZB 172/13, NJW 2014, 2503 Rn. 9; vom 12.10.2016 – V ZB 178/15, NJW 2017, 1112 Rn. 12; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 23. Aufl., § 233 Rn. 50, Stichwort Rechtsirrtum [Anwalt] unter c[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 10.05.2016 – VIII ZR 19/16, NZM 2016, 767 Rn. 6 mwN; vgl. auch BGH, Urteil vom 24.06.1992 – VIII ZR 203/91, NJW 1992, 2413 unter – I 2 c, insoweit in BGHZ 119, 35 nicht abgedruckt[]
  8. vgl. auch BGH, Urteil vom 05.11.2003 – VIII ZR 10/03, NJW 2004, 1598 unter – II 1 a; BT-Drs. 15/3706, S. 15[]
  9. zu den Anforderungen an eine Berufungsbegründung im Fall des § 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO vgl. BGH, Urteil vom 25.10.1990 – IX ZR 62/90, BGHZ 112, 367, 371; Beschluss vom 18.02.2020 – XI ZB 11/19, NJW-RR 2020, 575 Rn. 8[]
  10. vgl. BGH, Beschluss vom 25.11.2020 – XII ZB 256/20, NJW 2021, 784 Rn. 8[]
  11. vgl. BVerfG, NJW 1995, 3173, 3175; BGH, Beschlüsse vom 05.10.2005 – VIII ZB 125/04, NJW 2005, 3776 unter – III 1 b aa; vom 01.07.2021 – V ZB 71/20, NJW-RR 2021, 1317 Rn. 7; jeweils mwN[]
  12. vgl. BGH, Beschlüsse vom 15.06.2004 – VI ZB 9/04, NJW-RR 2004, 1364 unter – II 2 a; vom 01.07.2021 – V ZB 71/20, aaO[]
  13. vgl. BVerfG, NJW 2001, 1343; BGH, Beschlüsse vom 15.06.2004 – VI ZB 9/04, aaO; vom 06.05.2009 – KZR 7/08 17; vom 01.03.2016 – VIII ZB 57/15, NJW 2016, 2042 Rn. 31[]
  14. vgl. zu dieser Darlegungsobliegenheit BGH, Beschluss vom 14.12.2005 – IX ZB 138/05 7[]
  15. vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 05.10.2005 – VIII ZB 125/04, NJW 2005, 3776 unter – III 1 b aa; vom 19.09.2017 – VI ZB 37/16, NJW-RR 2018, 314 Rn. 5; jeweils mwN[]
  16. vgl. auch BGH, Beschluss vom 14.12.2005 – IX ZB 138/05, aaO Rn. 5[]
Weiterlesen:
Anhörungsrüge - und der Beginn der Rügefrist

Bildnachweis: