Corona: Einrichtungsbezogene Impfnachweispflicht – und die unbezahlte Freistellung

Unbeschadet der sonstigen Voraussetzungen gerät der Arbeitgeber gemäß § 297 BGB nicht in Annahmeverzug, wenn der Arbeitnehmer außer Stande ist, die geschuldete Arbeitsleistung aus in seiner Person liegenden Gründen zu bewirken1, weil die nicht gegen SARS-CoV-2 geimpfte Arbeitnehmerin (hier: eine Krankenpflegerin) bis zum 15.03.2022 keinen Nachweis gemäß § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG aF vorgelegt hat und deshalb vom Arbeitgeber unbezahlt freigestellt wurde.

Corona: Einrichtungsbezogene Impfnachweispflicht – und die unbezahlte Freistellung

Ein Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs scheitert dabei nicht bereits an einem etwa fehlenden Angebot der Arbeitsleistung. Ob die Krankenpflegerin, wie das Landesarbeitsgericht ohne nähere Tatsachenfeststellung annimmt, „ihre Arbeitsleistung ordnungsgemäß angeboten“ hat, kann dahinstehen. Denn ein solches war entbehrlich, weil die Arbeitgeberin durch die einseitige Freistellung auf das Angebot der Arbeitsleistung verzichtet hat2 und es zudem aufgrund ihres Freistellungsschreibens vom 16.03.2022 offenkundig war, dass sie ohne eine Änderung am „Impf- oder Genesenenstatus“ auf ihrer Weigerung, die Leistung anzunehmen, beharren würde3.

Die Arbeitgeberin hat jedoch zu Recht eingewandt, die Krankenpflegerin sei iSv. § 297 BGB nicht im Stande gewesen, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen.

Unbeschadet der sonstigen Voraussetzungen gerät der Arbeitgeber gemäß § 297 BGB nicht in Annahmeverzug, wenn der Arbeitnehmer außer Stande ist, die geschuldete Arbeitsleistung aus in seiner Person liegenden Gründen zu bewirken1. Leistungswille und Leistungsfähigkeit sind vom Leistungsangebot und dessen Entbehrlichkeit unabhängige Voraussetzungen, die während des gesamten Annahmeverzugszeitraums vorliegen müssen4. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer von der Arbeitspflicht freigestellt worden ist. Deren Aufhebung bedeutet zwar einen Verzicht des Arbeitgebers auf das Angebot der Arbeitsleistung. Jedoch muss der Arbeitnehmer zur Erbringung der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung fähig sein. Ein Absehen von den Erfordernissen des § 297 BGB bedarf einer – im Streitfall nicht existierenden – ausdrücklichen Vereinbarung der Parteien5.

Leistungsfähigkeit setzt voraus, dass der Arbeitnehmer tatsächlich und rechtlich zur geschuldeten Arbeitsleistung in der Lage ist6. Ob Leistungsfähigkeit besteht, bestimmt sich nach objektiven Kriterien. Grundsätzlich unerheblich ist die Ursache für eine Leistungsunfähigkeit des Arbeitnehmers. Das Unvermögen kann auf tatsächlichen Umständen (wie zB Arbeitsunfähigkeit) beruhen oder seine Ursache im Rechtlichen haben, etwa wenn ein gesetzliches Beschäftigungsverbot besteht oder eine erforderliche Erlaubnis für das Ausüben der geschuldeten Tätigkeit fehlt7. In diesen Fällen steht der Erbringung der Arbeitsleistung ein objektives Leistungshindernis entgegen.

Leistungswille setzt voraus, dass der Arbeitnehmer den ernstlichen Willen hat, die Arbeitsleistung in dem geschuldeten Umfang zu erbringen. Dies ist nicht der Fall, wenn der Arbeitnehmer es selbst in der Hand hat, den Hinderungsgrund, welcher der Erbringung der Arbeitsleistung entgegensteht, zu beseitigen8.

Leistungsunfähigkeit und Leistungsunwillen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können nach den Umständen des Einzelfalls auch nebeneinander bestehen. Ein Arbeitnehmer kann zugleich zur Erbringung der Arbeitsleistung nicht bereit und nicht dazu in der Lage sein.

Bei Anwendung des § 297 BGB ist zwischen den Fällen abzugrenzen, in denen die Nichtannahme der Arbeit ausschließlich auf dem Willen des Arbeitgebers beruht, sodass er gemäß § 615 Satz 1 BGB zur Fortzahlung des Entgelts verpflichtet ist, und den Konstellationen, in denen mangels Leistungsbereitschaft oder Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers kein Vergütungsanspruch wegen Annahmeverzugs besteht9. Handelt es sich um Leistungshindernisse, die ihre Ursache in dem vom Arbeitgeber bereitzustellenden Sachsubstrat oder der von ihm zu regelnden Arbeitsorganisation haben, ist er deshalb grundsätzlich zur Zahlung der Annahmeverzugsvergütung verpflichtet10.

Beruft sich der Arbeitgeber gegenüber einem Anspruch des Arbeitnehmers auf Annahmeverzug auf dessen Leistungsunfähigkeit oder Leistungsunwilligkeit iSd. § 297 BGB, erhebt er eine Einwendung, für deren Voraussetzungen er als Gläubiger der Arbeitsleistung die Darlegungs- und Beweislast trägt11.

Dies zugrunde gelegt besteht der von der Krankenpflegerin erhobene Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs nicht. Die Arbeitgeberin hat mit Erfolg eingewandt, dass die Krankenpflegerin in dem streitgegenständlichen Zeitraum iSv. § 297 BGB außer Stande war, die geschuldete Arbeitsleistung zu bewirken.

Für die Krankenpflegerin bestand allerdings kein unmittelbares Beschäftigungsverbot kraft Gesetzes. Den Regelungen in § 20a IfSG aF lässt sich ein solches für Bestandskräfte, die über keinen Immunitätsnachweis verfügten, nicht entnehmen.

Nach § 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG aF mussten Personen, die wie die als Gesundheits- und Krankenpflegerin arbeitende Krankenpflegerin in voll- oder teilstationären Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung älterer, behinderter oder pflegebedürftiger Menschen tätig waren, ab dem 15.03.2022 entweder geimpfte oder genesene Personen iSd. § 2 Nr. 2 oder 4 der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmeverordnung in der jeweils geltenden Fassung sein (§ 20a Abs. 1 IfSG idF vom 10.12.2021) bzw. über einen Impf- oder Genesenennachweis nach § 22a Abs. 1 oder 2 IfSG aF verfügen, sofern nicht eine medizinische Kontraindikation vorlag, aufgrund derer eine Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 nicht erfolgen konnte (§ 20a Abs. 1 IfSG idF vom 18.03.2022). § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG aF sah weiter vor, dass Personen, die in den Abs. 1 Satz 1 genannten Einrichtungen oder Unternehmen (bereits) tätig waren (Bestandskräfte), der Leitung der jeweiligen Einrichtung bis zum Ablauf des 15.03.2022 einen Impf- oder Genesenennachweis oder ein ärztliches Zeugnis über die medizinische Kontraindikation vorlegen mussten. Kamen sie dem nicht nach, hatte die Einrichtungsleitung das jeweils zuständige Gesundheitsamt darüber zu benachrichtigen (§ 20a Abs. 2 Satz 2 IfSG aF). Dieses konnte nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG aF solchen Mitarbeitern gegenüber ein Betretungs- oder Tätigkeitsverbot aussprechen. Demgegenüber mussten Personen, die ab dem 16.03.2022 (erstmals) in einer der im Gesetz genannten Einrichtungen tätig werden sollten, nach § 20a Abs. 3 IfSG aF vor Beginn ihrer Tätigkeit einen Immunitätsnachweis vorlegen. Taten sie dies nicht, durften sie nach § 20a Abs. 3 Satz 4 IfSG aF in den entsprechenden Einrichtungen nicht beschäftigt werden.

Bei der in § 20a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 IfSG aF aufgestellten Anforderung handelte es sich um eine berufliche Tätigkeitsvoraussetzung12. Dies kommt in § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG aF, wonach Mitarbeiter, die in den im Einzelnen aufgeführten Einrichtungen tätig sind, über einen Immunitätsnachweis „verfügen müssen“, hinreichend klar zum Ausdruck13.

Die vom Gesetz aufgestellte Tätigkeitsvoraussetzung bedurfte, soweit Bestandskräfte sie nicht erfüllten, der Umsetzung durch weitere Maßnahmen. Dies wird durch den Vergleich von § 20a Abs. 2 iVm. Abs. 5 IfSG aF und § 20a Abs. 3 IfSG aF verdeutlicht. Für Bestandskräfte war – anders als in § 20a Abs. 3 Satz 4 IfSG aF für neu einzustellende Mitarbeiter – ein unmittelbares Tätigkeits- oder Betretungsverbot im Gesetz nicht vorgesehen14. Ein solches ergab sich auch nicht über eine analoge Anwendung aus § 20a Abs. 3 IfSG aF15. Unter Berücksichtigung der Gesamtregelung des § 20a IfSG aF mit der darin vorgenommenen Differenzierung zwischen Bestandskräften und neu eingestellten Mitarbeitern lag keine planwidrige Regelungslücke vor. Zudem verbliebe bei einem solchen Gesetzesverständnis für Betretungs- und Tätigkeitsverbote durch Anordnung des Gesundheitsamts nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG aF kein Anwendungsbereich mehr16.

Im Fall der Krankenpflegerin ordnete das zuständige Gesundheitsamt keine Maßnahmen zur Umsetzung der in § 20a Abs. 1 IfSG aF vorgesehenen Tätigkeitsvoraussetzung an. Es verhängte ihr gegenüber im streitgegenständlichen Zeitraum kein Betretungs- bzw. Tätigkeitsverbot nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG aF. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts konnte für Bestandskräfte die Umsetzung der in § 20a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 IfSG aF geregelten beruflichen Tätigkeitsvoraussetzung jedoch auch durch den Arbeitgeber erfolgen.

Arbeitsrechtlich wurzelte die Befugnis der Arbeitgeber, für die (weitere) Beschäftigung der Arbeitnehmer in den in § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG aF genannten Einrichtungen befristet für die Dauer der Geltung dieser Vorschrift einen der dort in Abs. 2 aufgeführten Nachweise zu verlangen, in § 106 Satz 1 GewO. Hiernach kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. In diesem Rahmen konnte der Arbeitgeber die in § 20a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 IfSG aF gesetzlich vorgesehene berufliche Tätigkeitsanforderung für die Dauer ihrer Geltung im Wege des Weisungsrechts auch zur Voraussetzung für eine weitere Beschäftigung der unter ihren Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer machen.

Diese in § 106 Satz 1 GewO iVm. § 20a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 IfSG aF gründende Befugnis des Arbeitgebers wird durch die Regelungen des Infektionsschutzgesetzes für Bestandskräfte nicht ausgeschlossen17.

Dem Wortlaut von § 20a IfSG aF lässt sich nicht entnehmen, dass eine Umsetzung der dort geregelten Tätigkeitsvoraussetzung auf privatrechtlicher Ebene durch den Arbeitgeber unzulässig sein sollte. § 20a Abs. 2 Satz 2 IfSG aF verpflichtete den Arbeitgeber, das zuständige Gesundheitsamt zu unterrichten, wenn Bestandskräfte bis zum Ablauf des 15.03.2022 den gesetzlich vorgesehenen Immunitätsnachweis nicht vorlegten. Diese Regelung befasste sich insoweit – wie auch § 20a Abs. 3 Satz 2 IfSG aF – nur mit den (Informations-)Pflichten des Arbeitgebers gegenüber dem Gesundheitsamt18, ohne Anhaltspunkte dafür, dass damit eine abschließende Regelung getroffen sein sollte. § 20a Abs. 5 IfSG aF regelte das weitere Vorgehen des Gesundheitsamts, darunter seine Befugnis, Personen, die trotz Anforderung keinen Immunitätsnachweis vorlegten, das Betreten der im Gesetz genannten Einrichtungen oder eine Tätigkeit in diesen zu untersagen. Die Regelungen in § 20a IfSG aF bezogen sich insgesamt auf die öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen, Befugnisse und verfahrensrechtlichen Vorgaben. Eine ausdrückliche Pflicht zur Weiterbeschäftigung von Bestandskräften ohne Immunitätsnachweis oder ein Verbot arbeitsrechtlicher Maßnahmen gegenüber diesen statuierte das Gesetz nicht.

Auch in der Gesetzesbegründung finden sich keine konkreten Aussagen zu den Auswirkungen des Fehlens der beruflichen Tätigkeitsvoraussetzung nach § 20a IfSG aF auf die arbeitsrechtlichen Vertragsbeziehungen. Weitere denkbare „arbeitsrechtliche Konsequenzen“ werden dort hinsichtlich der Bestandskräfte lediglich mit Bezug zu einem vom Gesundheitsamt angeordneten Betretungs- oder Tätigkeitsverbot angesprochen19. Den Fall, dass ein solches nicht oder zunächst (noch) nicht ausgesprochen wird, behandelt die Gesetzesbegründung nicht.

Nicht maßgeblich für die Interpretation von § 20a IfSG aF und in der Sache unzutreffend ist die Handreichung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) zur Impfprävention in Bezug auf einrichtungsbezogene Tätigkeiten vom 22.02.2022, in der ausgeführt wird, ein Recht des Arbeitgebers zur Freistellung sei nicht begründet. Das BMG ist als Teil der Exekutive nicht zur verbindlichen Auslegung von Gesetzen berechtigt20.

Der aus der Gesetzesbegründung hinreichend deutlich erkennbare Zweck der einrichtungsbezogenen Nachweispflicht nach § 20a IfSG aF spricht klar dafür, dass Arbeitgeber nach § 106 Satz 1 GewO die Tätigkeit als Gesundheits- und Krankenpflegerin in einer Einrichtung wie dem von der Arbeitgeberin betriebenen Krankenhaus vom Vorliegen der in § 20a Abs. 2 IfSG aF geregelten Tätigkeitsvoraussetzung abhängig machen konnten. Die gesetzliche Regelung sollte dem Schutz der sog. vulnerablen Personengruppen dienen, bei denen aufgrund ihres Gesundheitszustands und/oder Alters ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen COVID-19-Krankheitsverlauf besteht, die zudem häufig weniger gut auf die Impfung ansprechen bzw. bei denen sonstige Schutzmaßnahmen weniger gut umgesetzt werden können21. Mit der einrichtungsbezogenen Nachweispflicht wurde eine Erhöhung der Impfquote der Beschäftigten in den in § 20a IfSG aF aufgeführten Einrichtungen angestrebt22. Betretungs- und Tätigkeitsverbote sollten vulnerable Personen darüber hinaus auch dann schützen, wenn sich die von der Nachweispflicht Betroffenen gegen eine Impfung entschieden und gleichwohl ihre Tätigkeit fortsetzen wollten; zugleich sollten die Verbote Zwecken des öffentlichen Gesundheitsschutzes dienen19.

Ausgehend hiervon können § 20a Abs. 2, 3 und 5 IfSG aF auch im Zusammenhang nicht dahingehend ausgelegt werden, dass Arbeitgeber bis zu einer Entscheidung des Gesundheitsamts zu einer Weiterbeschäftigung von Bestandskräften verpflichtet gewesen wären, die keinen Immunitätsnachweis vorgelegt hatten. Die unterbliebene Anordnung eines unmittelbaren gesetzlichen Betretungs- und Tätigkeitsverbots auch für Bestandskräfte verfolgte im Rahmen des gesetzlichen Gesamtkontextes ersichtlich einen anderen Zweck. Der Gesetzgeber sah bei diesem Personenkreis ein Bedürfnis für eine – gebundene – Ermessensentscheidung, bei der dem Gesundheitsamt jedoch – vorbehaltlich besonders gelagerter Einzelfälle – kein relevanter Spielraum verblieb. Der § 20a Abs. 5 IfSG aF zugrundeliegende Regelungszweck, vulnerable Personen zu schützen, legte vielmehr den Erlass einer Anordnung nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG aF im Regelfall nahe23. Bestandskräften sollte nicht ein dem Gesetzeszweck zuwiderlaufender Beschäftigungsanspruch aufrechterhalten bleiben, sondern es sollte allein die Berücksichtigung besonders gelagerter Einzelfälle möglich bleiben. Dabei sollte insbesondere der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens Rechnung getragen werden.

Dieser Regelungszweck erforderte es, auch dem Arbeitgeber eine Ermessensentscheidung zu ermöglichen24. Die Gesundheitsämter arbeiteten „am Rand der Belastbarkeit bzw. deutlich darüber hinaus“ und waren ersichtlich zur Anordnung eines Betretungs- oder Tätigkeitsverbot zeitnah nach Eingang der Arbeitgebermeldungen nicht in der Lage. Ein bloßes Abstellen auf das Tätigwerden der Gesundheitsämter hätte demzufolge zu einem weitgehenden Leerlaufen der Regelung in § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG aF führen können, einer Vorschrift, die mit dem erstrebten Schutz von Gesundheit und Leben der besonders gefährdeten, vulnerablen Personen überragend wichtigen Rechtsgütern diente25. Darüber hinaus kommt es für die Beurteilung, ob ein besonders gelagerter Einzelfall vorliegt und ob eine Beschäftigung nicht geimpfter Mitarbeiter für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit einer bestimmten Einrichtung erforderlich ist, aufgrund seiner Sachnähe und Kenntnis der persönlichen und betrieblichen Gegebenheiten ohnehin primär auf die Einschätzung des Arbeitgebers an.

Hiervon ausgehend hat die Arbeitgeberin im hier entschiedenen Fall  – entgegen der Ansicht des in der Berufungsinstanz hiermit befassten Landesarbeitsgerichts Niedersachsen26 – mit dem Schreiben vom 16.03.2022 die von der Krankenpflegerin geschuldete Arbeitsleistung wirksam dahingehend konkretisiert, dass sie die in § 20a Abs. 1 IfSG aF geregelte Tätigkeitsvoraussetzung für das Arbeitsverhältnis mit der Krankenpflegerin für die Zeit ab dem 15.03.2022 bis zum Ablauf der gesetzlichen Regelung verbindlich verlangte.

Die streitgegenständliche Konkretisierung der Arbeitsleistung war trotz des dadurch mittelbar auf eine Impfentscheidung gerichteten Entscheidungs- und Handlungsdrucks zulässiger Gegenstand einer arbeitsvertraglichen Weisung. Die Entscheidung für oder gegen eine Impfung ist zwar grundsätzlich dem Bereich der privaten Lebensführung zuzuordnen, in den durch das Weisungsrecht in der Regel nicht eingegriffen werden darf27. Mit der von ihr vorgenommenen Konkretisierung der Arbeitspflicht hat die Arbeitgeberin jedoch diesen besonders geschützten Bereich nicht verletzt. Die in das Arbeitsverhältnis umgesetzte gesetzliche Tätigkeitsanforderung zielte in erster Linie darauf ab, dass sich die Krankenpflegerin für eine Impfung entscheidet, um ungehindert weiter arbeiten zu können28. Da die Krankenpflegerin in einem Heil- und Pflegeberuf arbeitete, wusste sie, dass mit ihrer Tätigkeit eine besondere Verantwortung gegenüber den von ihr betreuten Personen bestand. Sie musste damit rechnen, dass zum Schutz der Patienten des Krankenhauses neue Tätigkeitsanforderungen geschaffen werden, was auch der Gesetzgeber im Rahmen der Regelungen zur einrichtungsbezogenen Nachweispflicht hervorgehoben hat29.

Der gesetzliche Anknüpfungspunkt, § 20a IfSG aF, unterlag keinen verfassungsrechtlichen Bedenken30. Die in § 20a IfSG aF geregelte einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht griff zwar in die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte körperliche Unversehrtheit ein. Der Eingriff war jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt31. Die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG war nicht verletzt32.

Die von der Arbeitgeberin gestellte Anforderung an eine pflegerische Tätigkeit genügt dem Erfordernis billigen Ermessens gemäß § 106 Satz 1 GewO, § 315 BGB.

Die Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen verlangt eine Abwägung der wechselseitigen Interessen nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit. In die Abwägung sind alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehen. Dem Inhaber des Bestimmungsrechts nach § 106 Satz 1 GewO, § 315 Abs. 1 BGB verbleibt für die rechtsgestaltende Leistungsbestimmung ein nach billigem Ermessen auszufüllender Spielraum. Die Darlegungs- und Beweislast für die Einhaltung dieser Grenzen trägt der Bestimmungsberechtigte. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Ausübungskontrolle ist der Zeitpunkt, zu dem der Arbeitgeber die Ermessensentscheidung zu treffen hatte33.

Ob die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt worden sind, unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle, wobei es nicht auf die vom Arbeitgeber angestellten Erwägungen, sondern darauf ankommt, ob das Ergebnis der getroffenen Entscheidung den gesetzlichen Anforderungen genügt. In diesem Zusammenhang hat das Landesarbeitsgericht in Verkennung von Inhalt und Reichweite des § 20a IfSG aF angenommen, für „eine über das Gesetz hinausgehende eigene Entscheidung“ der Arbeitgeberin hätten über § 20a IfSG aF hinausgehende „besondere Umstände in der Einrichtung der Arbeitgeberin“ dies erfordern oder zumindest rechtfertigen müssen. Aus der vom Landesarbeitsgericht zur Stützung seiner Auffassung herangezogenen Entscheidung des Zweiten Bundesarbeitsgerichts des Bundesarbeitsgerichts zu einer (wirksamen) Wartezeitkündigung einer nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpften Medizinischen Fachangestellten34 lässt sich dies indes nicht herleiten.

Trotz des den Tatsacheninstanzen bei der Ausübungskontrolle zustehenden; vom Revisionsgericht nur beschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums35, kann das Bundesarbeitsgericht über die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Konkretisierung der Arbeitsleistung selbst entscheiden. Denn vorliegend ergibt sich die Wahrung billigen Ermessens ausnahmsweise schon daraus, dass die Arbeitgeberin sich im Rahmen des gesetzlich Vorgesehenen bewegt und lediglich den vom Gesetzgeber mit § 20a IfSG aF primär bezweckten Schutz besonders vulnerabler Personen während der Corona-Pandemie verwirklicht hat. Dabei durfte sie davon ausgehen, dass der Gesetzgeber bei seiner Normsetzung die Interessen der betroffenen Beschäftigten ausreichend abgewogen hat. Besondere Umstände, die dem vom Gesetzgeber unterstellten Regelfall der Nichtbeschäftigung entgegenstünden, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Schließlich war vorliegend kein Fall gegeben, in dem die Nichtannahme der Arbeit ausschließlich auf dem Willen des Arbeitgebers beruhte, sodass er gemäß § 615 Satz 1 BGB zur Fortzahlung des Entgelts verpflichtet bliebe36. Die über die – widerrufliche – Freistellung erfolgte Konkretisierung der geschuldeten Arbeitsleistung (§ 106 Satz 1 GewO) entsprach dem aus der Gesetzesbegründung klar ersichtlichen primären Sinn und Zweck des § 20a IfSG aF. Die Arbeitgeberin hat eine vom Gesetz geleitete Ermessensentscheidung getroffen. Der Krankenpflegerin fehlte in der Folge eine von der Arbeitgeberin in Übereinstimmung mit dem Gesetz verlangte Tätigkeitsvoraussetzung. Ursache hierfür war ihre persönliche und freie Entscheidung, sich nicht gegen SARS-CoV-2 impfen zu lassen. Insoweit war sie sowohl leistungsunfähig wie auch leistungsunwillig iSd. § 297 BGB.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Juni 2024 – 5 AZR 249/23

  1. st. Rspr., vgl. BAG 21.07.2021 – 5 AZR 543/20, Rn. 9 mwN[][]
  2. vgl. BAG 23.02.2021 – 5 AZR 314/20, Rn. 12 mwN[]
  3. vgl. BAG 18.09.2019 – 5 AZR 240/18, Rn.19 mwN, BAGE 168, 25[]
  4. st. Rspr., vgl. nur BAG 10.08.2022 – 5 AZR 154/22, Rn. 18 mwN, BAGE 178, 293[]
  5. vgl. BAG 21.10.2015 – 5 AZR 843/14, Rn. 22, BAGE 153, 85[]
  6. MünchKomm-BGB/Henssler 9. Aufl. § 615 Rn. 32; MHdB ArbR/Tillmanns 6. Aufl. Bd. 1 § 76 Rn. 31[]
  7. BAG 10.08.2022 – 5 AZR 154/22, Rn. 22 mwN, BAGE 178, 293[]
  8. vgl. BAG 1.06.2022 – 5 AZR 28/22, Rn.20, BAGE 178, 150[]
  9. BAG 10.08.2022 – 5 AZR 154/22, Rn. 18 und 24 mwN, BAGE 178, 293[]
  10. vgl. Staudinger/Fischinger [2022] BGB § 615 Rn. 90[]
  11. BAG 21.07.2021 – 5 AZR 543/20, Rn. 11[]
  12. vgl. BVerfG 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21, Rn. 244, BVerfGE 161, 299; Berneith COVuR 2022, 135, 136; Oberthür ArbRB 2022, 80, 81; Seel öAT 2022, 155[]
  13. vgl. zu dieser Anforderung BAG 18.03.2009 – 5 AZR 192/08, Rn. 15, BAGE 130, 29[]
  14. vgl. BVerfG 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21, Rn. 215, 253, BVerfGE 161, 299; Gerhardt 6. Aufl. IfSG § 20a Rn. 49[]
  15. Weigert NZA 2022, 166, 169 f.[]
  16. Christ/Jeck DStR 2022, 944, 945; Schmidt/Schneider NZA-RR 2022, 121, 122[]
  17. iE ebenso Sangs/Eibenstein/Sangs IfSG § 20a Rn. 76; Bonitz/Schleiff NZA 2022, 233, 238; Christ/Jeck DStR 2022, 944, 947; Peisker/Bleckmann, BB 2022, 635, 638; Thüsing/Bleckmann/Rombey COVuR 2021, 66, 70; Singer FS Henssler 2023 S. 613, 624; Sangs NVwZ 2021, 1481, 1485; nur bei bestimmten Personengruppen Fischinger SR 2022, 37, 42; aA Harländer/Otte NZA 2022, 160, 163; Chama/Noll MDR 2022, 406, 407; Stach NZA 2023, 83, 85; wohl auch Gerhardt 6. Aufl. IfSG § 20a Rn. 49[]
  18. so auch Bonitz/Schleiff NZA 2022, 233, 237[]
  19. BT-Drs.20/188 S. 42[][]
  20. vgl. auch Chama/Noll MDR 2022, 406, die aber dennoch eine Berechtigung zur Freistellung ablehnen[]
  21. vgl. BT-Drs.20/188 S. 1 ff., 37 f.[]
  22. vgl. BT-Drs.20/188 S. 4, 37[]
  23. vgl. BVerfG 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21, Rn. 85, BVerfGE 161, 299[]
  24. vgl. auch BVerfG 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21, Rn. 245, BVerfGE 161, 299, wonach „insbesondere“ die Gesundheitsämter entsprechend befugt waren[]
  25. BVerfG 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21, Rn. 256, BVerfGE 161, 299[]
  26. LAG Niedersachsen 06.06.2023 – 11 Sa 772/22[]
  27. BAG 23.08.2012 – 8 AZR 804/11, Rn. 24 mwN, BAGE 143, 62[]
  28. vgl. BVerfG 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21, Rn. 86, BVerfGE 161, 299[]
  29. vgl. BT-Drs.20/188 S. 2; BVerfG 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21, Rn. 265, aaO[]
  30. sh. im Einzelnen BVerfG 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21 – BVerfGE 161, 299[]
  31. vgl. BVerfG 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21, Rn. 109 ff., aaO[]
  32. vgl. BVerfG 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21, Rn. 243 ff., aaO[]
  33. st. Rspr. BAG 30.11.2022 – 5 AZR 336/21, Rn. 38 f.; 1.06.2022 – 5 AZR 28/22, Rn. 27, BAGE 178, 150; 27.04.2021 – 9 AZR 343/20, Rn. 68[]
  34. BAG 30.03.2023 – 2 AZR 309/22[]
  35. vgl. BAG 30.11.2022 – 5 AZR 336/21, Rn. 39[]
  36. anders im Verfahren BAG 10.08.2022 – 5 AZR 154/22, BAGE 178, 293[]