Der Geschäftsführer haftet nicht nach § 64 Satz 1 GmbHG, wenn er nach Eintritt der Insolvenzreife rückständige Umsatz- und Lohnsteuern an das Finanzamt und rückständige Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung an die Einzugsstelle zahlt.

Zahlung von Umsatzsteuer und Lohnsteuer[↑]
Wenn der Geschäftsführer einer GmbH – auch nach Eintritt der Insolvenzreife – fällige Umsatzsteuer und Umsatzsteuervorauszahlungen, ebenso wie einbehaltene Lohnsteuer, nicht an das Finanzamt abführt, begeht er eine mit einer Geldbuße bedrohte Ordnungswidrigkeit nach § 26b UStG oder § 380 AO i.V.m. § 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG und setzt sich außerdem der persönlichen Haftung gemäß §§ 69, 34 Abs. 1 AO aus1. Die dadurch bewirkte Pflichtenkollision hat den Bundesgerichtshof bewogen, die Zahlung von Umsatz- oder Lohnsteuer als mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar anzusehen2.
Diese Rechtsprechung bezieht sich nicht nur auf laufende, erst nach Eintritt der Insolvenzreife fällig werdende Steuerforderungen, sondern auch auf Steuerrückstände. Zwar erfüllt der Geschäftsführer schon mit der Nichtabführung der laufenden Steuer den Tatbestand der Ordnungswidrigkeit und macht sich persönlich ersatzpflichtig. Dennoch besteht der Interessenkonflikt zwischen der Befolgung der Massesicherungspflicht aus § 64 Satz 1 GmbHG und der Erfüllung der steuerlichen Abführungspflicht fort. Zum einen ist die freiwillige Nachzahlung der Steuer ein Umstand, der bei der Verhängung und Bemessung der Geldbuße jedenfalls nach § 17 Abs. 3, 4 OWiG, § 377 Abs. 2 AO zugunsten des Geschäftsführers zu berücksichtigen ist. Zum anderen entfällt mit der Nachzahlung auch die persönliche Haftung des Geschäftsführers nach §§ 69, 34 Abs. 1 AO. Bei dieser Sach- und Rechtslage kann es dem Geschäftsführer nicht zugemutet werden, wegen des Zahlungsverbots aus § 64 Satz 1 GmbHG auf die Möglichkeit zu verzichten, die Voraussetzungen für eine Einstellung des Ordnungswidrigkeitsverfahrens nach § 47 OWiG oder jedenfalls für die Verhängung einer geringeren Geldbuße zu schaffen und sich von der persönlichen Haftung für die Steuerschuld zu befreien.
Auch kann diese Fallgestaltung nicht damit verglichen werden, dass einem Vertretungsorgan eine bereits abgeschlossene unerlaubte Handlung zur Last fällt und es nun versucht, durch Zahlung aus dem Gesellschaftsvermögen den Schaden wiedergutzumachen. Die Nichtabführung der Steuer ist ein Dauerdelikt, das bei Fälligkeit zwar vollendet, aber erst bei Erlöschen der Abführungspflicht beendet ist3. Daher geht es bei der nachträglichen Abführung der Steuer nicht nur um Schadenswiedergutmachung, sondern um die Erfüllung der mit einer Geldbuße bewehrten Pflicht.
Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen[↑]
Bei der Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge differenziert der Bundesgerichtshof dagegen: Hat es sich bei den vom Geschäftsführer gezahlten Sozialversicherungsbeiträgen um Arbeitnehmeranteile gehandelt, beseht insoweit keine Haftung des Geschäftsführers. Waren es dagegen Arbeitgeberanteile, ist der Geschäftsführer nach § 64 Satz 1 GmbHG zur Erstattung verpflichtet.
Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs handelt ein Geschäftsführer einer GmbH grundsätzlich mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns im Sinne des § 64 Satz 2 GmbHG und haftet deshalb nicht nach § 64 Satz 1 GmbHG, wenn er nach Eintritt der Insolvenzreife fällige Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung an die zuständige Einzugsstelle zahlt4. Denn es kann ihm mit Blick auf die Einheit der Rechtsordnung nicht angesonnen werden, diese Zahlung im Interesse einer gleichmäßigen und ranggerechten Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger in einem nachfolgenden Insolvenzverfahren zu unterlassen und sich dadurch nach § 266a Abs. 1, § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar und nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266a StGB schadensersatzpflichtig zu machen. Insoweit gelten die gleichen Erwägungen wie zu den Steuerforderungen.
Das gilt auch für die Frage, ob von der Privilegierung nur die laufenden, erst nach Eintritt der Insolvenzreife fällig werdenden Arbeitnehmerbeiträge oder auch die Beitragsrückstände erfasst werden. Der Geschäftsführer kann auch die Rückstände zahlen, ohne sich der Haftung aus § 64 Satz 1 GmbHG auszusetzen. Es kann dem Geschäftsführer nicht zugemutet werden, wegen des Zahlungsverbots aus § 64 Satz 1 GmbHG auf die Möglichkeit zu verzichten, sich Straffreiheit nach § 266a Abs. 6 Satz 1, 2 StGB oder jedenfalls eine Strafmilderung nach § 46 Abs. 2 Satz 2 a.E. StGB oder eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens wegen Geringfügigkeit nach §§ 153, 153a StPO zu verdienen und sich von dem Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB zu befreien.
Allerdings ist zu beachten, dass eine Zahlung an die Einzugsstelle der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns widerspricht, wenn sie zur Tilgung von Arbeitgeberanteilen zur Sozialversicherung geleistet wird. Denn nur das Vorenthalten von Arbeitnehmerbeiträgen ist in § 266a StGB unter Strafe gestellt und begründet eine Schadensersatzpflicht nach § 823 Abs. 2 BGB. Hinsichtlich der Arbeitgeberanteile fehlt es deshalb an einem Interessenkonflikt und damit an einem Grund, den Anwendungsbereich des Zahlungsverbots aus § 64 Satz 1 GmbHG einzuschränken5.
Für einen Vertrauensschutz wegen einer zuvor gegenteiligen Rechtsprechung besteht kein Anlass. Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat sich auch vor der Entscheidung vom 8. Juni 20096 kein Anhaltspunkt für eine Privilegierung der Zahlung von Arbeitgeberanteilen ergeben. Die durch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 14. Mai 2007 vollzogene Rechtsprechungsänderung betrifft allein die Frage, ob der Anwendungsbereich der § 64 Satz 1, 2 GmbHG, § 92 Abs. 2 Satz 1, 2 AktG bei einer Zahlung von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung wegen der Strafandrohung in § 266a StGB und der deliktischen Schadensersatzhaftung aus § 823 Abs. 2 BGB einzuschränken ist7. Dass eine Zahlung von Arbeitgeberanteilen zur Sozialversicherung nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns i.S. der § 64 Satz 2 GmbHG, § 92 Abs. 2 Satz 2 AktG vereinbar sei, wurde seit Inkrafttreten der Insolvenzordnung zu keiner Zeit ernsthaft angenommen8.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 25. Januar 2011 – II ZR 196/09
- vgl. BFH, Urteil vom 27.02.2007 – VII R 67/05, ZIP 2007, 1604 Rn. 16 ff.; Beschluss vom 04.07.2007 – VII B 268/06, BFH/NV 2007, 2059 Tz. 6; Urteil vom 23.09.2008 – VII R 27/07, ZIP 2009, 122, jeweils zur Lohnsteuer; KG, Beschluss vom 22.09.1997 – 2 Ss 250/97; Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand: Juni 2004, § 380 AO Rn. 3 ff., jeweils zum Bußgeldtatbestand; Haas in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl., § 64 Rn. 77[↩]
- BGH, Urteile vom 14.05.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265 Rn. 11 f.; und vom 29.09.2008 – II ZR 162/07, ZIP 2008, 2220 Rn. 10[↩]
- vgl. KG, Beschluss vom 22.09.1997 – 2 Ss 250/97; Göhler/Gürtler, OWiG, 15. Aufl., Rn. 17 vor § 19[↩]
- BGH, Urteile vom 14.05.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265 Rn. 11 f.; und vom 02.06.2008 – II ZR 27/07, ZIP 2008, 1275 Rn. 6[↩]
- BGH, Urteil vom 08.06.2009 – II ZR 147/08, ZIP 2009, 1468 Rn. 6 f.[↩]
- BGH aaO[↩]
- BGH, Urteil vom 14.05.2007- II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265 Rn. 11 f.; ebenso Urteile vom 08.01.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264, 274 f.; und vom 18.04.2005 – II ZR 61/03, ZIP 2005, 1026, 1029; Beschluss vom 09.08.2005 – 5 StR 67/05, ZIP 2005, 1678[↩]
- siehe etwa Streit/Bürg, DB 2008, 742, 744; Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl., § 43 Rn. 82 ff.[↩]