Nachtbriefkasten statt beA – und die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung des Amtsgerichts

Erteilt das Gericht des ersten Rechtszugs entgegen seiner gesetzlichen Verpflichtung (§ 232 ZPO) überhaupt keine oder nur eine unvollständige Rechtsbehelfsbelehrung, fehlt es bei einem – wie hier – anwaltlich vertretenen Beteiligten in der Regel am ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Belehrungsmangel und der Fristversäumung, weil dieser für die zutreffende Information über seine Rechtsmittelmöglichkeiten keiner Unterstützung durch eine Rechtsbehelfsbelehrung bedarf.

Nachtbriefkasten statt beA – und die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung des Amtsgerichts

Mit einem solchen Fall, konkret der Frage des Verschuldens eines Rechtsanwalts an einem Fristversäumnis – hier Berufungseinlegung – bei Nichtbeachtung der Pflicht zur elektronischen Übermittlung eines Schriftsatzes an das Gericht (§ 130d Satz 1 ZPO) infolge einer unvollständigen beziehungsweise fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung des Amtsgerichts, hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen:

Dem zugrunde lag ein Mietprozess aus Frankfurt (Oder). Die beklagte Mieterin war bis Ende August 2018 Mieterin einer Wohnung der klagenden Vermieterin. Die Vermieterin nimmt die Mieterin auf Nachzahlung von Betriebskosten in Anspruch. Das Amtsgericht Frankfurt (Oder) hat der Klage überwiegend stattgegeben1. Das dem Prozessbevollmächtigten der Mieterin am 23.12.2021 zugestellte Urteil enthält eine Rechtsbehelfsbelehrung, in der es unter anderem heißt:

„Die Berufung muss mit Schriftsatz durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt eingelegt werden. […]

Rechtsbehelfe können auch als elektronisches Dokument eingereicht werden. […]“

Einen Hinweis auf die ab dem 1.01.2022 für einen Rechtsanwalt bestehende Pflicht, vorbereitende Schriftsätze, schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument an das Gericht zu übermitteln (§ 130d Satz 1 ZPO), enthält die Rechtsbehelfsbelehrung nicht.

Der anwaltliche Prozessbevollmächtigte der Mieterin hat die Berufungsschrift am 3.01.2022 postalisch (über den Nachtbriefkasten) bei dem Landgericht eingereicht. Nach einem Hinweis des Landgerichts auf Bedenken bezüglich der formgerechten Berufungseinlegung hat der Prozessbevollmächtigte der Mieterin – der zwischenzeitlich die Berufungsbegründung wirksam eingereicht hatte – die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und eine Berufungsschrift als elektronisches Dokument an das Landgericht übermittelt.

Das Landgericht Frankfurt (Oder) hat den Wiedereinsetzungsantrag der Mieterin zurückgewiesen und ihre Berufung als unzulässig verworfen2:

Bis zum Ablauf der Berufungsfrist sei eine Berufungsschrift als elektronisches Dokument nicht eingegangen. Die am 3.01.2022 postalisch über den Nachtbriefkasten eingereichte Berufungsschrift habe die Form des § 130d Satz 1 ZPO nicht gewahrt. Die hiernach erforderliche Übermittlung als elektronisches Dokument stelle eine Zulässigkeitsvoraussetzung dar und sei nach dem Willen des Gesetzgebers von Amts wegen zu berücksichtigen; bei Nichteinhaltung sei die Prozesserklärung unwirksam. 

Die der anwaltlich vertretenen Mieterin erteilte Rechtsbehelfsbelehrung sei allenfalls – als Unterfall der fehlenden Belehrung – unvollständig. Positiv fehlerhaft in der Weise, dass der Empfänger zur Vornahme einer fehlerhaften oder unzureichenden Handlung angehalten worden sei, sei sie nicht. Das Amtsgericht habe in seiner Belehrung nicht ausgeführt, dass die Einhaltung der Papierform den gesetzlichen Vorgaben genüge. Es habe allein den Hinweis auf die zwingende Beachtung der elektronischen Form ab Jahresbeginn 2022 unterlassen. Die Kenntnis des Mieterinvertreters hiervon sei indessen zu erwarten gewesen. Hierbei komme es nicht darauf an, dass die neue Bestimmung bei Eingang seines Schriftsatzes erst drei Tage in Kraft gewesen sei. Zum einen sei die Einhaltung prozessualer Bestimmungen von einem Organ der Rechtspflege vom Beginn der Gültigkeit an zu erwarten. Zum anderen sei die Bestimmung des § 130d ZPO bereits durch das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10.10.2013 in die Zivilprozessordnung eingeführt worden.

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Nicht einschlägig sei die Rechtsprechung, nach der es auch für einen Rechtsanwalt nur dann an einem entschuldbaren Rechtsirrtum fehle, wenn eine Rechtsmittelbelehrung offenkundig falsch sei. Die Belehrung enthalte keine fehlerhafte positive Vorgabe durch das Amtsgericht. Alternativ sei die erteilte Belehrung aus der Sicht des Anwalts offenkundig unzutreffend, weil dieser Lücken in der Belehrung in gleicher Weise durch eigene erwartbare Kenntnisse schließen müsse, wie bei deren vollständigem Fehlen.

Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Mieterin verwarf der Bundesgerichtshof als unzulässig:

Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte und auch den Form- und Fristerfordernissen genügende Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Wiedereinsetzung ablehnenden und die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen3, sind nicht erfüllt. Die Rechtssache wirft weder entscheidungserhebliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf noch erfordert sie eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.

Die angefochtene Entscheidung verletzt nicht die Verfahrensgrundrechte der Mieterin auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).

Danach darf einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden beziehungsweise die den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren4.

Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

Die Berufung der Mieterin wurde – was die Rechtsbeschwerde nicht in Abrede stellt – nicht wirksam fristgerecht eingereicht.

Eine Berufung ist fristgemäß (§ 517 ZPO) durch Einreichung der Berufungsschrift bei dem Landgericht Frankfurt (Oder) einzulegen (§ 519 Abs. 1 ZPO). Auf die Berufungsschrift sind gemäß § 519 Abs. 4 ZPO die allgemeinen Vorschriften über die vorbereitenden Schriftsätze anzuwenden. Nach der ab dem 1.01.2022 geltenden Vorschrift des § 130d Satz 1 ZPO sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt, durch eine Behörde oder durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln.

Diese Pflicht gilt – mangels einer abweichenden Übergangsbestimmung – auch für bereits anhängige Verfahren. Denn nach dem allgemeinen Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts erfasst eine Änderung des Verfahrensrechts grundsätzlich auch anhängige Rechtsstreitigkeiten5.

Hiernach hat die Mieterin die Berufungsfrist versäumt, weil sie bis zu deren Ablauf am 23.01.2022 – nicht am 17.01.2022, wie das Landgericht Frankfurt (Oder) versehentlich angenommen hat – wirksam Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts nicht eingelegt hat. Denn sie hat ihre Berufungsschrift am 3.01.2022 über den Nachtbriefkasten postalisch bei dem Landgericht eingereicht und nicht, wie nach § 130d Satz 1 ZPO geboten, in elektronischer Form übermittelt. Damit ist die Berufungseinlegung unwirksam6. Auf das Vorliegen eines Ausnahmefalls im Sinne von § 130d Satz 2 ZPO, wonach die Übermittlung nach allgemeinen Vorschriften zulässig bleibt, wenn eine elektronische Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich ist, hat sich die Mieterin nicht berufen; ein solcher Ausnahmefall lässt sich auch den Feststellungen des Landgerichts Frankfurt (Oder) nicht entnehmen. Eine wirksame Berufungseinlegung ist somit erst nach Ablauf der Berufungsfrist mit der am 21.04.2022 als elektronisches Dokument übermittelten Berufungsschrift erfolgt.

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Ebenfalls rechtsfehlerfrei hat das Landgericht Frankfurt (Oder) der Mieterin eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Einlegung der Berufung (§ 233 ZPO) verwehrt. Denn das Fristversäumnis beruht auf einem der Mieterin gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten. Die Mieterin kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, ihr Prozessbevollmächtigter habe auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der durch das Amtsgericht erteilten Rechtsbehelfsbelehrung vertrauen dürfen, aus welcher sich eine Pflicht zur elektronischen Übermittlung der Berufung nicht ergeben habe, sondern vielmehr darauf hingewiesen worden sei, dass Rechtsbehelfe „auch“ als elektronisches Dokument eingereicht werden „können“.

Zwar enthält die Rechtsbehelfsbelehrung keinen Hinweis auf die – während der laufenden Berufungsfrist in Kraft getretene – Vorschrift des § 130d Satz 1 ZPO und wird nach § 233 Satz 2 ZPO ein Fehlen des Verschuldens vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist. Jedoch ist das Landgericht Frankfurt (Oder) zu Recht davon ausgegangen, dass die Vermutung des § 233 Satz 2 ZPO vorliegend widerlegt ist.

Dabei kann dahinstehen, ob nach § 232 ZPO eine Belehrung über die gemäß § 130d Satz 1 ZPO verpflichtende elektronische Übermittlung an das Gericht überhaupt erforderlich ist. Auch wenn dies anzunehmen sein sollte, kann ferner dahinstehen, ob die Rechtsbehelfsbelehrung des Amtsgerichts – wovon das Landgericht Frankfurt (Oder) ausgegangen ist – wegen eines fehlenden Hinweises auf die (erst) künftig zu wahrende Einreichungsform von Rechtsbehelfen (§ 130d Satz 1 ZPO) lediglich unvollständig oder – wovon die Rechtsbeschwerde ausgeht – inhaltlich fehlerhaft ist, da der bloße „kann“-Hinweis auf die (fakultative) elektronische Übermittlung ab dem 1.01.2022 nicht mehr der geltenden Rechtslage entsprochen hat. Zwar unterscheiden sich beide Fälle hinsichtlich der an einen Rechtsanwalt zu stellenden Sorgfaltsanforderungen. Diesen ist der Prozessbevollmächtigte der Mieterin jedoch ungeachtet der Frage, ob die Rechtsbehelfsbelehrung unvollständig oder inhaltlich fehlerhaft wäre, nicht gerecht geworden.

Geht man mit dem Landgericht Frankfurt (Oder) davon aus, die unterbliebene Belehrung über die Pflicht des Rechtsanwalts, ab dem 1.01.2022 eine Berufungsschrift nach § 130d Satz 1 ZPO ausschließlich elektronisch zu übermitteln, mache die Rechtsbehelfsbelehrung (lediglich) unvollständig, liegt ein Verschulden an dem Versäumen der Berufungsfrist vor.

Erteilt das Gericht des ersten Rechtszugs entgegen seiner gesetzlichen Verpflichtung (§ 232 ZPO) überhaupt keine oder nur eine unvollständige Rechtsbehelfsbelehrung, fehlt es bei einem – wie hier – anwaltlich vertretenen Beteiligten in der Regel am ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Belehrungsmangel und der Fristversäumung, weil dieser für die zutreffende Information über seine Rechtsmittelmöglichkeiten keiner Unterstützung durch eine Rechtsbehelfsbelehrung bedarf7.

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Nach diesen Grundsätzen kann sich die Mieterin nicht mit Erfolg auf eine – unterstellte – Unvollständigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung und damit auf ein fehlendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten berufen. Dabei kann offen bleiben, ob die Bestimmung des § 130d ZPO eine „Formvorschrift“ im Sinne von § 232 ZPO darstellt, über deren Einhaltung zu belehren ist, oder ob diese lediglich die Art der Kommunikation mit dem Gericht regelt, aber nicht die eigentliche Form der übermittelten Erklärung8. Ebenfalls kann dahinstehen, ob das Amtsgericht vorliegend verpflichtet war, in der von ihm erteilten Rechtsbehelfsbelehrung bereits auf die erst während des Laufs der Berufungseinlegungsfrist in Kraft tretende Vorschrift des § 130d ZPO und die damit verbundene künftige Pflicht zur elektronischen Übermittlung des Rechtsbehelfs durch einen Rechtsanwalt hinzuweisen oder ob zur Beurteilung des zutreffenden Inhalts der Rechtsbehelfsbelehrung allein auf den Zeitpunkt ihrer Erteilung abzustellen ist9.

Denn selbst wenn vorliegend ein Hinweis auf die zwingende Einreichung der Rechtsbehelfsschrift in elektronischer Form erforderlich und die Rechtsbehelfsbelehrung aufgrund dessen Fehlens unvollständig wäre, würde es an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der unterbliebenen Belehrung und der Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung fehlen. Denn von einem Rechtsanwalt kann – nach Vorstehendem – erwartet werden, dass er (selbst) die Voraussetzungen für die wirksame Einlegung eines Rechtsmittels – hier der Berufung – kennt. Diese Voraussetzungen hat er im hier gegebenen Fall einer Rechtsänderung während der laufenden Frist zur Einlegung der Berufung sogar mit erhöhter Sorgfalt zu überprüfen10.

Geht man demgegenüber davon aus, dass die Rechtsbehelfsbelehrung nicht lediglich unvollständig, sondern inhaltlich fehlerhaft ist, weil der bloße „kann“-Hinweis auf die Einreichung eines Rechtsbehelfs in elektronischer Form ab dem 1.01.2022 unzutreffend wurde, fehlt es ebenfalls am ursächlichen Zusammenhang zwischen dieser – unterstellt – fehlerhaften Belehrung und dem Versäumen der Berufungseinlegungsfrist.

Zwar darf auch ein Rechtsanwalt grundsätzlich auf die Richtigkeit einer durch das Gericht erteilten Rechtsbehelfsbelehrung vertrauen, ohne dass es darauf ankommt, ob diese gesetzlich vorgeschrieben ist oder nicht11. Gleichwohl muss von ihm erwartet werden, dass er die Grundzüge des Verfahrensrechts und das Rechtsmittelsystem in der jeweiligen Verfahrensart kennt. Das Vertrauen in die Richtigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung kann er deshalb nicht uneingeschränkt, sondern nur in solchen Fällen in Anspruch nehmen, in denen die inhaltlich fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung zu einem unvermeidbaren, zumindest aber zu einem nachvollziehbaren und daher verständlichen Rechtsirrtum des Rechtsanwalts geführt hat. Die Fristversäumung ist mithin auch in den Fällen einer unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung nicht unverschuldet, wenn diese offenkundig falsch gewesen ist und deshalb – ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand – nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte12. Unter diesen Voraussetzungen ist die Vermutung des fehlenden Verschuldens gemäß § 233 Satz 2 ZPO widerlegt.

Dies ist vorliegend der Fall. Die vom Amtsgericht erteilte Rechtsbehelfsbelehrung ist nicht geeignet, bei einem Rechtsanwalt einen nachvollziehbaren oder gar unvermeidbaren Rechtsirrtum über die Art der Einreichung der Berufungsschrift hervorzurufen. Der Prozessbevollmächtigte der Mieterin durfte nicht darauf vertrauen, dass der – wie das Landgericht Frankfurt (Oder) richtig gesehen hat – im Zeitpunkt der Erteilung zutreffende Hinweis in der Belehrung, wonach Rechtsbehelfe (lediglich optional) als elektronisches Dokument eingelegt werden können, auch noch im Zeitpunkt der von ihm beabsichtigten Berufungseinlegung am 3.01.2022 der Rechtslage entsprechen würde. Denn es war für ihn aufgrund der bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Rechtskenntnis offenkundig, dass er die Berufungsschrift ab dem 1.01.2022 zwingend als elektronisches Dokument beim Landgericht Frankfurt (Oder) einzureichen hatte.

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Ein Rechtsanwalt muss die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen13, hat sich auch über deren Änderung Kenntnis zu verschaffen14 und muss sich über den Stand der Rechtsprechung unterrichten15.

Hiernach muss einem Rechtsanwalt bekannt gewesen sein, dass ihn ab dem 1.01.2022 nicht nur wie bereits zuvor die („passive“) Pflicht trifft, elektronische Zustellungen und Erklärungen über das von ihm vorzuhaltende elektronische Anwaltspostfach zu empfangen (§ 31a Abs. 6 BRAO), sondern eine („aktive“) Nutzungspflicht bezüglich des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten. Die entsprechende Bestimmung des § 130d Satz 1 ZPO gehört zum verfahrensrechtlichen Grundwissen eines im Zivilprozess tätigen Rechtsanwalts16. Da sie die Voraussetzungen regelt, unter denen ein Rechtsanwalt wirksam schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen sowie vorbereitende Schriftsätze gegenüber einem Gericht stellen beziehungsweise abgeben kann, betrifft sie nicht nur das Rechtsmittelrecht, sondern grundlegend die Art der Kommunikation mit dem Gericht und hat damit eine elementare Bedeutung für die anwaltliche Vertretung.

Hinsichtlich des von einem Rechtsanwalt zu erwartenden Kenntnisstands der Gesetzeslage ist auch zu berücksichtigen, dass das Inkrafttreten von § 130d ZPO Teil einer nicht lediglich auf den Zivilprozess beschränkten, sondern das gesamte Prozessrecht fast vollständig erfassenden Einführung einer weitgehenden aktiven Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs für Rechtsanwälte gegenüber den Gerichten war. Entsprechende (vgl. § 14b Abs. 1 FamFG, § 46g ArbGG, § 65d SGG, § 55d VwGO, § 52d FGO) oder jedenfalls vergleichbare Regelungen (vgl. § 32d StPO) sind – ungeachtet der Verfahrensgesetze der Verfassungsgerichte – in allen Verfahrensordnungen am 1.01.2022 in Kraft getreten, soweit nicht in einzelnen Ländern einige dieser Regelungen aufgrund einer Verordnungsermächtigung sogar bereits früher Geltung beanspruchten17.

Somit musste sich dem Prozessbevollmächtigten der Mieterin auch ohne eine vertiefte Sachprüfung die Evidenz der – unterstellten – Unrichtigkeit der vom Amtsgericht erteilten Rechtsbehelfsbelehrung aufdrängen. Er durfte nicht darauf vertrauen, ein Rechtsmittel auch nach dem Inkrafttreten der grundlegenden Vorschrift des § 130d Satz 1 ZPO dem Gericht weiterhin in postalischer Form wirksam übermitteln zu können.

Anders als die Rechtsbeschwerde meint, konnte der Prozessbevollmächtigte der Mieterin auch keinerlei Zweifel am Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmung des § 130d ZPO zum 1.01.2022 haben.

Die Norm wurde bereits durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10.10.201318 eingeführt und ihr Inkrafttreten gemäß Art. 26 Abs. 7 dieses Gesetzes – mit einer sich daraus ergebenden langen Vorbereitungszeit für die Praxis19 – erst auf den 1.01.2022 festgelegt. Schon davor wurde über das künftige Inkrafttreten der Norm und die damit verbundene Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs in der einschlägigen anwaltlichen Fachliteratur ausführlich berichtet20, so dass sich die Rechtsbeschwerde nicht mit Erfolg darauf berufen kann, es läge ein für den Prozessbevollmächtigten des Mieterin unvermeidbarer Irrtum hinsichtlich des Geltungsbeginns vor21.

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Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist der Umstand, dass das Inkrafttreten von § 130d ZPO in den Lauf der Berufungseinlegungsfrist gefallen ist und damit in den ersten acht Tagen der Berufungsfrist „andere Berufungsmodalitäten“ gegolten haben als für die restliche Zeit, nicht „äußerst ungewöhnlich“ und begründet kein schützenswertes Vertrauen in die (fortdauernde) Richtigkeit der erteilten Rechtsbehelfsbelehrung.

Im Gegenteil muss eine Prozesspartei nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts damit rechnen, dass zivilprozessuale Verfahrensvorschriften auch während eines anhängigen Verfahrens geändert werden. Eine Prozesspartei kann nicht darauf vertrauen, dass Prozessrecht nicht geändert wird22. Die Neufassung des Verfahrensrechts erfasst grundsätzlich auch bereits anhängige Rechtsstreitigkeiten und das neue Prozessrecht gilt – wenn sich, wie hier, aus Überleitungsvorschriften oder dem Sinn und Zweck der Regelung nichts Abweichendes ergibt – vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens an23.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10. Januar 2023 – VIII ZB 41/22

  1. AG Frankfurt (Oder), Urteil vom 17.12.2021 – 22 C 66/21[]
  2. LG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 28.04.2022 – 16 S 1/22[]
  3. siehe nur BGH, Beschlüsse vom 11.05.2021 – VIII ZB 9/20, NJW 2021, 2201 Rn. 15 mwN; vom 16.11.2021 – VIII ZB 70/20, NJW-RR 2022, 201 Rn. 9 mwN; vom 22.11.2022 – VIII ZB 2/22[]
  4. st. Rspr.; siehe nur BGH, Beschlüsse vom 09.05.2017 – VIII ZB 69/16, NJW 2017, 2042 Rn. 9; vom 11.05.2021 – VIII ZB 9/20, NJW 2021, 2201 Rn. 28; vom 22.11.2022 – VIII ZB 2/22, zur Veröffentlichung bestimmt, Rn. 10; jeweils mwN[]
  5. st. Rspr.; vgl. nur BVerfGE 24, 33, 55; 87, 48, 64; BGH, Urteile vom 02.02.2011 – VIII ZR 190/10, BGHZ 188, 164 Rn. 11; vom 08.03.2017 – IV ZR 435/15, BGHZ 214, 160 Rn. 27; Beschluss vom 29.06.2022 – VII ZB 52/21, NJW-RR 2022, 1579 Rn. 18; jeweils mwN[]
  6. vgl. BGH, Beschlüsse vom 20.09.2022 – IX ZR 118/22, ZInsO 2022, 2579 Rn. 14; vom 24.11.2022 – IX ZB 11/22 7; jeweils mwN; BT-Drs. 17/12634, S. 27; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 09.08.2022 – 6 StR 268/22, NJW 2022, 3588 Rn. 3; vom 30.08.2022 – 4 StR 104/22, StraFo 2022, 434 Rn. 2 [jeweils zu § 32d Satz 2 StPO]; BSG, NJW 2022, 1334 Rn. 5 [zu § 65d Satz 1 SGG]; BFH, NJW 2022, 2951 Rn. 9 [zu § 52d Satz 1 FGO][]
  7. vgl. BGH, Beschlüsse vom 23.06.2010 – XII ZB 82/10, NJW-RR 2010, 1297 Rn. 11; vom 12.01.2012 – V ZB 198/11 und – V ZB 199/11, NJW 2012, 2443 Rn. 10; vom 13.06.2012 – XII ZB 592/11, NJW-RR 2012, 1025 Rn. 8; vom 18.12.2013 – XII ZB 38/13, NJW-RR 2014, 517 Rn.19[]
  8. vgl. hierzu BVerwG, NVwZ 2021, 1061 Rn. 40, 50 [zu § 55a VwGO]; OLG Frankfurt am Main, FamRZ 2022, 804, 805 [zu § 14b Abs. 1 FamFG]; D. Müller in: Ory/Weth, jurisPK-ERV, 2. Aufl., § 232 ZPO Rn. 26 [wonach ein Hinweis auf die Nutzungspflicht in der Belehrung enthalten sein „sollte“][]
  9. vgl. OLG Frankfurt am Main, aaO; vgl. auch BVerwG, NVwZ 2021, 1061 Rn. 30; NVwZ 2021, 246 Rn. 32 [jeweils zur Belehrung gemäß § 58 Abs. 1 VwGO][]
  10. vgl. BGH, Beschluss vom 23.11.2011 – IV ZB 15/11, NJW 2012, 453 Rn. 11 [zur Rechtsmittelfrist][]
  11. vgl. BGH, Urteil vom 21.02.2020 – V ZR 17/19, NJW 2020, 1525 Rn. 10; Beschlüsse vom 09.03.2017 – V ZB 18/16, NJW 2017, 3002 Rn. 11; vom 28.09.2017 – V ZB 109/16, NJW 2018, 164 Rn. 11; jeweils mwN[]
  12. vgl. BGH, Beschlüsse vom 24.01.2018 – XII ZB 534/17, FamRZ 2018, 699 Rn. 7; vom 25.11.2020 – XII ZB 256/20, NJW 2021, 784 Rn. 7; vom 15.07.2021 – IX ZB 73/19, WM 2021, 1949 Rn. 15; vgl. auch BVerfG, NJW 2021, 915 Rn. 33 ff.[]
  13. st. Rspr.; siehe nur BGH, Beschlüsse vom 15.05.2019 – XII ZB 573/18, BGHZ 222, 105 Rn. 25; vom 27.04.2021 – VI ZB 60/20, NJW 2021, 2660 Rn. 9; vom 07.09.2022 – XII ZB 215/22, NJW 2022, 3512 Rn. 16[]
  14. vgl. BGH, Urteil vom 15.07.2004 – IX ZR 472/00, NJW 2004, 3487 unter – II 1 [Steuerberater]; Beschlüsse vom 30.06.1971 – IV ZB 41/71, NJW 1971, 1704; vom 18.12.2013 – XII ZB 38/13, NJW-RR 2014, 643 Rn. 21[]
  15. vgl. BGH, Beschlüsse vom 11.04.2013 – VII ZB 43/12, NJW 2013, 1966 Rn. 11; vom 17.12.2020 – III ZB 14/20, NJW-RR 2021, 314 Rn.20; vom 07.09.2022 – XII ZB 215/22, aaO[]
  16. vgl. OLG Frankfurt am Main, FamRZ 2022, 804, 805 [zu § 14b Abs. 1 FamFG, „Basiswissen“]; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.07.2022 – 9 K 9009/22 70 [zu § 52d FGO][]
  17. vgl. hierzu Müller, NJW 2021, 3281 Rn. 1[]
  18. BGBl. I S. 3786[]
  19. vgl. BT-Drs. 17/12634, S. 41[]
  20. vgl. etwa Müller, NJW 2021, 3281 Rn. 1; Siegmund, NJW 2021, 3617 Rn. 2; Greger, MDR 2021, R373; Bruns, ZMR 2021, 566; Hartung, BB 2021, Heft 5152, I; Kallenbach/Dahmen, AnwBl 2021, 675[]
  21. vgl. BGH, Beschluss vom 15.05.2019 – XII ZB 573/18, BGHZ 222, 105 Rn. 26[]
  22. vgl. BVerfGE 24, 33, 55[]
  23. vgl. BVerfGE 87, 48, 64; BGH, Urteile vom 12.02.1992 – XII ZR 53/91, VersR 1992, 1024 unter – I 1 b [zur Zulässigkeit neu eingelegter Rechtsmittel]; vom 02.02.2011 – VIII ZR 190/10, BGHZ 188, 164 Rn. 11; vom 08.03.2017 – IV ZR 435/15, NJW 2017, 1967 Rn. 27; Beschluss vom 23.04.2007 – II ZB 29/05, BGHZ 172, 136 Rn. 25[]
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