Der willkürliche Verweisungsbeschluss – oder: lass mal die Familiengerichte machen…

Bei einem rechtswegübergreifenden negativen Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten der ordentlichen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist für die Bestimmung des zuständigen Gerichts in analoger Anwendung des § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO derjenige oberste Gerichtshof des Bundes zuständig, der einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angegangen wird.

Der willkürliche Verweisungsbeschluss – oder: lass mal die Familiengerichte machen…

Auch ein unanfechtbarer, fehlerhafter Verweisungsbeschluss an ein Gericht einer anderen Gerichtsbarkeit ist gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Das gilt nur dann nicht, wenn die Entscheidung ausnahmsweise schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist, d.h. nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. 

Die Verweisung eines beim Amtsgericht/Familiengericht angeregten, auf Maßnahmen gegen eine Schule auf der Grundlage des § 1666 Abs. 1 und 4 BGB abzielenden Amtsverfahrens an ein Verwaltungsgericht ist verfahrensfehlerhaft und löst wegen des dadurch auftretenden unauflösbaren Widerspruchs mit Prozessmaximen der Verwaltungsgerichtsordnung keine Bindungswirkung aus. 

Dies entschied jetzt das Bundesverwaltungsgericht in einem der „familiengerichtlichen Corona-Schul-Fälle“: Die Antragsteller, vertreten durch ihre Eltern, haben bei dem Amtsgericht Tecklenburg die Einleitung eines „Kinderschutzverfahrens gem. § 1666 Abs. 1 und 4 BGB“ zur Beendigung der nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls angeregt, die sich u.a. aufgrund schulinterner Anordnungen zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes sowie zur Einhaltung von Mindestabständen zu anderen Personen ergebe. Deren Aufhebung sowie zeitnahe familiengerichtliche Anordnungen gegenüber den Lehrkräften und der Schulleitung seien zur Abwehr von Schäden der Antragsteller dringend erforderlich.

Das Amtsgericht/Familiengericht hat nach Anhörung der Antragsteller, die sich einer Verweisung widersetzt haben, mit Beschlüssen vom 23.04.2021 den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und die Rechtsstreitigkeiten an das Verwaltungsgericht Münster verwiesen. Denn die Antragsteller wendeten sich gegen hoheitliches Handeln und für solche Streitigkeiten sei ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Die Beschlüsse sind unanfechtbar.

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Das Verwaltungsgericht hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es sich für unzuständig halte und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Mit Beschlüssen vom 26.05.2021 hat es den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und das Bundesverwaltungsgericht zur Bestimmung der Zuständigkeit angerufen.

Das Bundesverwaltungsgericht ist zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Amtsgericht Tecklenburg und dem Verwaltungsgericht Münster berufen.

Gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 VwGO wird ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit von dem Gericht entschieden, das den beteiligten Gerichten übergeordnet ist. Zwar ist diese Vorschrift auf den Kompetenzkonflikt zwischen einem Verwaltungsgericht und einem Amtsgericht weder unmittelbar anwendbar noch gibt es für einen solchen Fall an anderer Stelle eine gesetzliche Regelung. Diese Regelungslücke ist aber – im Einklang mit der Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes – in der Weise zu schließen, dass dasjenige oberste Bundesgericht den negativen Kompetenzkonflikt zwischen den Gerichten verschiedener Gerichtszweige entscheidet, das einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angegangen wird1. Denn obwohl ein nach § 17a GVG ergangener und unanfechtbar gewordener Beschluss, mit dem ein Gericht den bestrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt, ist eine Zuständigkeitsbestimmung in Analogie zu § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit geboten, wenn es in einem Verfahren zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten2. Eine solche Situation ist vorliegend gegeben. Sowohl das Amtsgericht Tecklenburg als auch das Verwaltungsgericht Münster haben entschieden, dass der Rechtsweg zu ihnen unzulässig sei.

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Für eine Entscheidung über die von den Antragstellern angeregten Maßnahmen gegenüber der Schule ist das Amtsgericht Tecklenburg/Familiengericht trotz der Verweisungsbeschlüsse vom 23.04.2021 zuständig geblieben. Denn die Antragsteller haben keinen kontradiktorischen Parteistreit um Unterlassungsansprüche gegen die Schule eingeleitet, so dass sich die Verweisungen des Amtsgerichts in so qualifizierter Weise als verfahrensfehlerhaft erweisen, dass sie keine Bindungswirkung zu äußern vermögen.

Die Auslegung der an das Amtsgericht/Familiengericht gerichteten Schreiben der Antragsteller vom 14.04.2021 führt zu dem Ergebnis, dass sie keine gegen die Schule gerichteten Unterlassungsansprüche in einem kontradiktorischen Parteistreit geltend machen wollen. Für solch ein gerichtliches Streitverfahren wäre der vom Amtsgericht auf § 17a Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 GVG gestützte Ausspruch der Unzulässigkeit des Rechtswegs zu den ordentlichen Gerichten allerdings im Ergebnis nicht zu beanstanden. Denn über derartige Unterlassungsansprüche hätten gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Verwaltungsgerichte zu entscheiden. Sie beträfen das Schulverhältnis als Rechtsverhältnis zwischen dem Schüler und einer öffentlichen, von einer Gebietskörperschaft getragenen Schule, deren Handeln in inneren Schulangelegenheiten einschließlich der Schulordnungsmaßnahmen nach nordrhein-westfälischem Landesrecht dem Land zugerechnet wird3. Davon erfasst würden auch von der Schule angeordnete coronabedingte Schutzmaßnahmen4.

Das Begehren der Antragsteller in ihren Schreiben vom 14.04.2021 an das Amtsgericht/Familiengericht beschränkt sich jedoch ausdrücklich darauf, ein familiengerichtliches Einschreiten des Amtsgerichts/Familiengericht gegen die Schule auf der Grundlage des § 1666 Abs. 1 und 4 BGB anzustoßen. Demzufolge liegt kein verfahrenseröffnender Sachantrag als Verfahrens- oder Prozesshandlung vor, sondern lediglich eine an das Amtsgericht/Familiengericht gerichtete Anregung gemäß § 24 Abs. 1 FamFG. Weder die Verfasser noch deren Kinder wurden dadurch zu Antragstellern im verfahrensrechtlichen Sinne5. Ein Prozess- oder Verfahrensrechtsverhältnis wurde durch diese Anregung nicht begründet.

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Gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG ist ein Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 23.04.2021 sind unanfechtbar geworden. Die in § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG angeordnete Bindungswirkung tritt auch bei einem fehlerhaften Verweisungsbeschluss ein, etwa wenn der Rechtsweg zu dem verweisenden Gericht entgegen dessen Rechtsauffassung gegeben war6 oder das Gericht den Verweisungsbeschluss entgegen § 17a Abs. 4 Satz 2 GVG nicht begründet oder unter Verletzung des rechtlichen Gehörs7 getroffen hat.

Mit Rücksicht auf die in § 17a GVG eröffnete Möglichkeit, einen Verweisungsbeschluss in dem in § 17a Abs. 4 Satz 3 – 6 GVG vorgesehenen Instanzenzug überprüfen zu lassen, kann die gesetzlich angeordnete Bindungswirkung eines unanfechtbaren Verweisungsbeschlusses allenfalls bei extremen Rechtsverstößen durchbrochen werden. Das ist nur dann der Fall, wenn sich die Verweisung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist8. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist9. Der den Verweisungsbeschlüssen des Amtsgerichts vom 23.04.2021 zugrundeliegende Verfahrensverstoß erweist sich als in dieser Weise qualifiziert, denn er führt zu einem unauflösbaren systematischen Widerspruch mit den Prozessmaximen der Verwaltungsgerichtsordnung.

Das Amtsgericht hat auf der Grundlage seines unzutreffenden Verständnisses des Begehrens der Antragsteller zu Unrecht die Konsequenz gezogen, die Verfahren an das Verwaltungsgericht zu verweisen. Denn die Vorschrift des § 17a GVG ist einschränkend dahingehend auszulegen, dass eine Verweisung von Amts wegen betriebener Verfahren ohne Charakter eines Parteienstreits mangels „Beschreitung eines Rechtswegs“ durch einen Antragsteller oder Kläger nicht in Betracht kommt, sondern diese bei fehlender Zuständigkeit einzustellen sind10. Das Verfahren nach § 1666 BGB ist ein Amtsverfahren11, so dass das an das Amtsgericht/Familiengericht gerichtete Schreiben der Antragsteller – wie bereits ausgeführt – keinen Sachantrag, sondern lediglich eine Anregung gemäß § 24 Abs. 1 FamFG enthielt12. Da kein Antragsverfahren (vgl. § 23 FamFG) vorlag, durfte das Amtsgericht keine Verweisung aussprechen. Mangels Eröffnung des Zivilrechtswegs hätte es entweder auf die Eröffnung eines Verfahrens verzichten oder ein bereits eröffnetes Verfahren einstellen müssen.

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Da sich auch im Falle einer fehlerhaften Verweisung an ein Verwaltungsgericht das von diesem anzuwendende Prozessrecht im Grundsatz nach der Verwaltungsgerichtsordnung bestimmt, führt die Verweisung im vorliegenden Fall zu systematischen Friktionen mit den Prozessmaximen der Verwaltungsgerichtsordnung. Zwar hat der iudex ad quem auch im Falle einer fehlerhaften Verweisung mit Blick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes die Rechtsschutzfunktion des verweisenden Gerichts zu übernehmen. Das kann aber allenfalls zu Modifikationen der zugrunde zu legenden Regelungen der Verwaltungsgerichtsordnung führen13, nicht jedoch deren grundlegende Verfahrensgrundsätze überspielen.

Die Verwaltungsgerichtsordnung gehorcht der Dispositionsmaxime (vgl. §§ 81, 88 und 92 VwGO) und kennt grundsätzlich nur kontradiktorische Parteistreitverfahren. Ein dem § 24 FamFG vergleichbares, von Amts wegen einzuleitendes Verfahren ist dieser Prozessordnung systemfremd und darf deshalb den Verwaltungsgerichten auch nicht im Wege der Verweisung „aufgedrängt“ werden14. Erwiesen sich die vom Amtsgericht/Familiengericht ausgesprochenen verfahrensfehlerhaften Verweisungen als bindend, würde aus einem familiengerichtlichen Amtsverfahren ein kontradiktorischer Parteienstreit vor dem Verwaltungsgericht. Die Antragsteller, die am Amtsgericht keine Prozesshandlung in Form eines verfahrenseinleitenden Sachantrags vorgenommen, sondern als Nichtbeteiligte lediglich bestimmte Maßnahmen angeregt haben, fänden sich nunmehr in der Rolle von Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens wieder. Das entspräche weder ihrem Willen noch ihrer vormaligen Stellung vor dem Amtsgericht und würde zudem Gerichtskosten für sie auslösen, die im familiengerichtlichen Verfahren nicht anfallen. Die Annahme, eine gerichtliche Verweisung könne ein zuvor nicht bestehendes Prozessrechtsverhältnis begründen, erweist sich daher mit den Prinzipien der Verwaltungsgerichtsordnung als schlechterdings unvereinbar. Deshalb lösen die vom Amtsgericht Tecklenburg ausgesprochenen Verweisungen für das Verwaltungsgericht keine Bindungswirkung gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG aus.

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Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 16. Juni 2021 – 6 AV 1.21

  1. BVerwG, Beschluss vom 10.04.2019 – 6 AV 11.19 – NJW 2019, 2112; BGH, Beschluss vom 26.07.2001 – X ARZ 69/01 – NJW 2001, 3631 <3632>[]
  2. vgl. BGH, Beschluss vom 14.05.2013 – X ARZ 167/13 – MDR 2013, 1242 zu § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO[]
  3. OVG NRW, Beschluss vom 14.01.2011 – 19 B 14/11 – NWVBl 2011, 270[]
  4. OLG Nürnberg, Beschluss vom 28.04.2021 – 9 WF 343/21 8 ff.; OLG Naumburg, Beschluss vom 14.05.2021 – 1 UF 136/21 45 ff.[]
  5. Ahn-Roth, in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl.2020, § 24 Rn. 3[]
  6. BVerwG, Beschluss vom 10.03.2016 – 6 AV 1.16, Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 36 Rn. 4[]
  7. BGH, Beschluss vom 08.07.2003 – X ARZ 138/03 – NJW 2003, 2990[]
  8. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30.06.1970 – 2 BvR 48/70, BVerfGE 29, 45 <48 f.> vom 23.06.1981 – 2 BvR 1107, 1124/77 und 195/79, BVerfGE 58, 1 <45> und vom 26.08.1991 – 2 BvR 121/90 – NJW 1992, 359 <361>[]
  9. BVerwG, Beschlüsse vom 10.03.2016 – 6 AV 1.16, Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 36 Rn. 4; und vom 10.04.2019 – 6 AV 11.19 – NJW 2019, 2112 Rn. 10; BGH, Beschlüsse vom 08.07.2003 – X ARZ 138/03 – NJW 2003, 2990 <2991> vom 09.12.2010 – Xa ARZ 283/10 – MDR 2011, 253; und vom 18.05.2011 – X ARZ 95/11 – NJW-RR 2011, 1497; BFH, Beschluss vom 20.12.2004 – VI S 7/03 – BFHE 209, 1 <3 f.>[]
  10. OLG Nürnberg, Beschluss vom 28.04.2021 – 9 WF 343/21 16; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28.04.2021 – 20 WF 70/21 5; OLG Frankfurt, Beschluss vom 05.05.2021 – 4 UF 90/21 10; OLG Naumburg, Beschluss vom 14.05.2021 – 1 UF 136/21 48; vgl. ferner Mayer, in: Kissel, GVG, 10. Aufl.2021, § 17 Rn. 62; BT-Drs. 16/6308 S. 318 zu § 17a Abs. 6 GVG[]
  11. OLG Brandenburg, Beschluss vom 23.02.2018 – 13 WF 38/18 – NJW 2018, 1619; Schwab, in: MünchKomm- zum BGB, Bd. 10, 8. Aufl.2020, § 1666 Rn. 223; Coester, in: Staudinger, BGB, Buch 4, 2020, § 1666 Rn. 261[]
  12. vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 15.01.2018 – 9 WF 12/18 – FamRZ 2018, 1012[]
  13. BVerwG, Urteil vom 06.06.1967 – 4 C 216.65, BVerwGE 27, 170 <175> BFH, Beschluss vom 14.10.2005 – VI S 17/05 – DStRE 2006, 440; Ehlers, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2020, § 41 VwGO/§ 17a GVG Rn.19[]
  14. vgl. Mayer, in: Kissel, GVG, 10. Aufl.2021, § 17 Rn. 62[]
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